Jugendliche ohne Perspektive – eine Zielgruppe der Jugendsozialarbeit?

Auszüge aus dem Positionspapier Jugendliche ohne Perspektive – eine Zielgruppe der Jugendsozialarbeit des AWO Bundesverbandes:
“ … Zielgruppen
Die Gründe dafür, dass Jugendliche sich nicht entsprechend der Anforderungen von Förderangeboten der Arbeitsmarktpolitik verhalten und in der Folge ausgeschlossen werden sind vielfältig. Sie reichen von unterschiedlichsten individuellen Problemlagen bis hin zu rechtlichen Rahmenbedingungen wie das geltende Ausländerrecht. Im Folgenden werden beispielhaft einige Problembereiche benannt, die für Jugendliche zu Hindernissen auf einem Weg in ein selbstbestimmtes Leben führen und die sie ohne Unterstützung kaum überwinden können. Dabei sind junge Menschen nicht selten von mehreren dieser Problemlagen betroffen. ## Durch Totalsanktionierung im Rahmen der Angebote der Bundesagentur für Arbeit (SGB II) werden Jugendliche in eine materiell prekäre Situation gedrängt und letztlich aus den Angeboten ausgeschlossen. Laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zur Praxis der Sanktionierung wird die Totalsanktionierung nicht als hilfreich hinsichtlich des Ziels der Arbeitsmarktintegration der betroffenen Jugendlichen bewertet.
## Laut Berufsbildungsbericht 2011 gibt es über den Verbleib von 96.000 Jugendlichen, die als Ausbildungsplatzsuchende registriert waren und von der Bundesagentur für Arbeit nicht vermittelt wurden, keine Informationen mehr.
## Jugendliche, die von Obdachlosigkeit betroffen sind, haben aufgrund dieser schwierigen Lebenssituation kaum die Möglichkeit Fördermaßnahmen durchzuhalten. Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe waren 2010 rund 24.000 junge Menschen ohne festen Wohnsitz.
## Gleiches gilt für Jugendliche mit akuten Suchtproblemen. Angesichts der Komplexität des Problems, gekennzeichnet durch die unterschiedliche Bewertung von legalen und illegale Drogen und unterschiedlicher Auffassungen darüber ab wann ein Suchtverhalten vorliegt, ist verwertbares Zahlenmaterial zum Ausmaß des Problems nur in Ansätzen vorhanden.
## Junge Flüchtlinge haben neben ihrem prekären rechtlichen Status, der ihren Zugang zu Fördermaßnahmen einschränkt oder gar ausschließt, zusätzliche Belastungen durch vielfach erhebliche Sprachschwierigkeiten und traumatische Fluchterfahrungen sowie den Verlust der vertrauten Umgebung im Heimatland zu verarbeiten. Der Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (UMF) geht davon aus, dass im Jahr 2010 über 4.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutschland von Jugendämtern erstversorgt wurden. Hinzu kommen ca. 60.000 junge Flüchtlinge unter 27 Jahre, die mit ihren Familien in Deutschland leben. Je nach aufenthaltsrechtlichem Status haben sie mehr oder weniger nur begrenzte Zugänge zu Bildungsangeboten.
## 33 % der Jugendlichen mit Migrationshintergrund benötigen Hartz IV zum Lebensunterhalt – das waren ca. 750.000 Jugendliche. Ohne
Migrationshintergrund betrug die Hilfequote 8 % (Arbeitsmarkt aktuell, DGB 6. Mai 2011). Entsprechend hoch sind die Arbeitslosenquote der betroffenen Jugendlichen und vermutlich auch ihr Anteil an den Jugendlichen, die von Fördermaßnahmen nicht mehr erreicht werden.
## 2007 wurden 280.000 tatverdächtige Jugendliche als straffällig gemeldet. Davon waren 20 bis 30% verurteilt. Häufigstes Delikt ist der Cannabiskonsum.
Mit dieser Problemlagenbeschreibung wird deutlich, dass insbesondere die Jugendlichen die mehrfach belastet sind auf ihrem bisherigen Lebensweg keine ausreichende Unterstützung erfahren. Sie haben über Jahre hinweg ein Misserfolgserlebnis nach dem anderen erfahren, sind hinsichtlich ihrer Stellung in der Gesellschaft völlig verunsichert und haben in der Folge massive Motivations- und Leistungsprobleme entwickelt.
Diese Jugendlichen benötigen eine intensive langfristige und verlässliche sozialpädagogische Begleitung.

Angebote der Jugendberufshilfe im Übergangsgeschehen Schule Beruf
Die Angebote der Jugendberufshilfe sind aufgrund der bereits beschriebenen Rahmenbedingungen vorrangig durch die arbeitsmarktpolitischen Programme des SGB II und III und derer spezifischer Förderphilosophie geprägt. …

Für viele Jugendliche mit den beschriebenen Ausgangslagen stellen die Anforderungen der Maßnahmen als auch das unübersichtliche Konglomerat von Angeboten einschließlich unsicherer Anschlüsse große Hürden dar. So entstehen häufig problematische Situationen in den Maßnahmen, was entweder zum Rauswurf oder zum selbstgewählten Abbruch führt. Nach der Logik der Förderbedingungen erfolgen dann Sanktionierungen mit den entsprechenden Konsequenzen. Allerdings bewirkt der Totalentzug von Leistungen kaum die erwünschten Verhaltensänderungen. Vielmehr verschärft dies nur die schon prekäre Situation der Betroffenen noch weitergehend. Andere Jugendliche finden erst gar keinen Zugang zu diesen Angeboten und verschwinden gleich nach Erfüllung der Schulpflicht aus dem Blick der Institutionen des Bildungs- und Beschäftigungssystems.

Jugendliche mit den oben geschilderten Problemlagen benötigen eine
grundlegende langfriste Förderung mit einem hohen Anteil an individueller und sozialpädagogisch ausgerichteter Unterstützung. Der nach den Reformen am Arbeitsmarkt (Hartz IV) erfolgte strategische Perspektivenwechsel mit der vorrangigen Zielsetzung einer schnellstmöglichen Vermittlung auf den ersten Arbeitsmarkt kann diesem Bedarf nicht gerecht werden. …

Forderungen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen
In einigen Kommunen gibt es immer wieder Projekte, die sich auch in Kooperation mit den Arbeitsagenturen oder den Jobcentern mit geeigneten niedrigschwelligen Angeboten um die beschriebene Zielgruppe kümmern. Eine flächendeckende Erfassung und eine individuelle langfristige Förderung von Jugendlichen, die sich klassischen Bildungsangeboten verweigern bzw. mit Überforderung reagieren, sind unter den aktuellen Rahmenbedingungen der Arbeitsmarktpolitik jedoch nicht (mehr) realisierbar. Auch die Kommunen sehen, abgesehen von wenigen Ausnahmen, offensichtlich keine Möglichkeit diesen Part zu übernehmen, sei es, weil sie den § 13 SGB VIII fälschlich als nachrangig gegenüber den Angeboten der Bundesagentur für Arbeit sehen oder dies gar als freiwilliges Angebot interpretieren, welches aufgrund der aktuellen kommunalen Finanznot hinter den Pflichtaufgaben zurückstehen muss.
Dabei wird deutlich, dass die Politik auf allen Ebenen viel zu kurzfristig gesteckten Zielen folgt und dabei die Gesamtsicht auf die volkswirtschaftlichen Implikationen verliert. Denn was in der Arbeitsmarkt-, Sozial-, Bildungs- und Jugendhilfepolitik an kurzfristigen Einspareffekten erzielt wird, erfordert langfristig ein Vielfaches an Finanzmitteln, um die Folgeschäden zu bewältigen.
Darüber hinaus wird das gesetzlich verbürgte Recht eines jeden jungen Menschen „…auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“(§ 1 SGB VIII) missachtet, wenn mit Verweis auf die Haushaltslage die entsprechenden Mittel nicht bereitgestellt werden.

Aus diesen Gründen ist an die Politik die Forderung zu stellen, die Ressourcen zur Verfügung zu stellen, die notwendig sind, um eine nachhaltige Förderung aller Jugendlichen zu ermöglichen.
Im Folgenden werden die Essentiales beschrieben, die Voraussetzung dafür sind, dass eine Wiederherstellung der Bildungs- und Integrationschancen für Jugendliche mit den beschriebenen Problemen erfolgt und damit Langzeitarbeitslosigkeit und in der Folge eine Hartz IV–Karriere verhindert werden können: ## 1. Abschaffung der Totalsanktionen für die Jugendmaßnahmen des SGB II, um eine weitere Verschärfung der Situation betroffener Jugendlicher und ihr Verschwinden in die Anonymität am Rande der Gesellschaft zu verhindern.
## 2. Kommunen müssen sich wieder der Verantwortung des § 13 SGB VIII
(„Jugendsozialarbeit“) stellen und die Förderung junger Menschen mit
massiven Problemen auf dem Arbeitsmarkt durch niedrigschwellige Angebote als ihre Aufgabe annehmen.
## 3. Landes- und Bundespolitik müssen die Kommunen bei dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe unterstützen z.B. durch eine Entlastung bei den Kosten der Daseinsvorsorge und Aufhebung des Kooperationsverbotes für den Bildungsbereich und ggf. durch die Beteiligung mit langfristigen Förderprogrammen.
## 4. Um eine systematische Bedarfsplanung zur Unterstützung des Übergangs von der Schule in die (Berufs-)Ausbildung aller Schulabgänger/-innen zu ermöglichen und zu verhindern, dass einzelne Schulabgänger/-innen in besonderen Problemlagen in dem Übergangsgeschehen verloren gehen, ist eine kommunale Bildungs- und Jugendhilfeplanung einschließlich ihrer Verknüpfung mit den regionalen Arbeitsmarktdaten erforderlich.
## 5. Jugendliche sind durch Geh-Strukturen an die Angebote heranzuführen. Es darf nicht wie bisher dabei bleiben, dass Jugendliche, weil sie sich nicht aktiv an die Jobcenter wenden, abgeschrieben werden.
## 6. Entsprechende Förderstrukturen für Jugendliche, die einer besonderen Unterstützung bedürfen, müssen verlässlich sein und dürfen nicht durch einen ständigen Auf- und Abbau je nach Haushaltslage mal mehr oder mal weniger Jugendlichen zur Verfügung stehen.
## 7. Jobcenter und Jugendämter müssen enger zusammenarbeiten und
gemeinsame Konzepte durch verlässliche Strukturen nachhaltig umsetzen.
Damit können die unterschiedlichen Kompetenzen zum einen für die
sozialpädagogische Begleitung und zum anderen für die berufliche
Qualifizierung sinnvoll gebündelt und effektiv eingesetzt werden.
## 8. Die Schaffung verlässlicher Förderstrukturen bedeutet für die Vergabe von Mitteln die Berücksichtigung

• der umfassenden Förderbedarfe der betroffenen Jugendlichen durch
längerfristige Angebote und

• der hohen Anforderungen an die Qualität der pädagogischen Begleitung der Jugendlichen durch entsprechend qualifizierte Fachkräfte und der Umsetzung qualitativ nachhaltiger Förderkonzepte.
## 9. Als ein entscheidendes Erfolgskriterium für die Förderung dieser Zielgruppe gilt die garantierte Anschlussmöglichkeit für eine anerkannte berufliche Qualifizierung. Dies bedeutet eine enge Vernetzung im Sinne eines kohärenten Förderkonzeptes, in dem alle Angebote aufeinander bezogen sind, alle Akteure zielführend zusammenarbeiten und ausreichende Ressourcen zur Verfügung stehen. Hier muss eine Verantwortungsgemeinschaft entstehen, in der auch die Wirtschaft ihren Part im Sinne einer engen Zusammenarbeit mit den außerbetrieblichen Angeboten einschließlich der Bereitstellung von Ausbildungsstellen für die hier beschriebene Zielgruppe übernimmt.
## 10. Schließlich müssen die freien Träger ihre Konzepte an einem kommunal abgestimmten Gesamtkonzept ausrichten und sich im Interesse einer kohärenten Förderung in eine Struktur der Kooperation aller Akteure und Institutionen in einem kommunalen bzw. regionalen Netzwerk einbinden lassen. Nur wenn die Erkenntnis bei allen Beteiligten am Übergang von der Schule in den Beruf vorhanden ist, dass jeder junge Mensch gebraucht wird und die Bereitschaft vorhanden ist, auch zweite und dritte Chancen zu ermöglichen, können Langzeitarbeitslosigkeit und die damit verbundenen Armutskarrieren mit dauerhafter Alimentierung vermieden werden. Dies würde ein Beitrag zur Chancengerechtigkeit in Deutschland leisten und zugleich dem Fachkräftemangel entgegenwirken. „

Das Positionspapier in vollem Textumfang entnehmen Sie bitte dem Anhang oder aufgeführtem Link.

www.jugendsozialarbeit.de
http://www.jugendsozialarbeit.de/media/raw/AWO_Positionspapier_Jugendliche_ohne_Perspektive_2011.pdf
http://www.jugendsozialarbeit.de/start

Quelle: AWO Bundesverband

Dokumente: AWO_Positionspapier_Jugendliche_ohne_Perspektive_2011.pdf

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