Auszüge aus dem WZBrief Noten, kognitive Fähigkeiten oder Persönlichkeit: Was bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz zählt:
„Für Jugendliche mit Hauptschul- oder mittlerem Schulabschluss ist es wichtig, möglichst rasch nach Ende der Schule mit einer voll qualifizierenden Berufsausbildung zu beginnen. … Hauptschülern gelingt es seltener als Realschülern, gleich nach der Schule eine reguläre Ausbildung zu beginnen. Oft wechseln sie in das sogenannte Übergangssystem, das heißt in berufsvorbereitende Maßnahmen, in denen kein anerkannter Ausbildungsabschluss erworben wird. Ihnen stehen zudem weniger Ausbildungsberufe zur Verfügung. Erschwerend kommt hinzu, dass ihre „Ausbildungsreife“ häufig in Frage gestellt wird. …
Es ist wenig über die Rekrutierungspraxis von Ausbildungsbetrieben bekannt. … In der Studie „Ausbildungsmonitor“ des Bundesinstituts für Berufsbildung nennen über 50 Prozent der befragten Betriebe die Persönlichkeit, über 40 Prozent kognitive Fähigkeiten und nur knapp 6 Prozent die schulische Vorbildung als entscheidendes Einstellungskriterium … Dieser Befund widerspricht zunächst vielen Studien, die zeigen, dass vor allem ein guter Schulabschluss eine wichtige Rolle bei der Bewerbung um einen Ausbildungsplatz spielt.
Sollten die Aussagen der Betriebe zutreffen, wäre das für manchen Haupt- oder Realschüler eine gute Nachricht. Nicht alle Jugendlichen können im deutschen Schulsystem ihr vorhandenes Lernpotenzial ausschöpfen und in einen entsprechenden Schulerfolg umsetzen. Viele Schüler besuchen eine Sekundarschule, die unter ihren kognitiven Möglichkeiten liegt. Weil ihre Fähigkeiten nicht erkannt werden, verlassen sie die Schule als sogenannte underachiever – während viele andere Jugendliche mit gleichen oder sogar geringeren kognitiven Fähigkeiten einen höheren Schulabschluss erreichen. Underachievement betrifft vor allem Jugendliche aus niedrigeren sozialen Schichten … Wenn nun bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz neben den Noten auch die kognitiven Fähigkeiten und sogenannte „soft skills“ wie Zuverlässigkeit und Sorgfalt zählen, könnte sich für diese Jugendlichen eine zweite Chance eröffnen. …
Diese Annahme wurde mit Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) untersucht. … Die empirische Prüfung zeigt nun, dass die kognitiven Grundfähigkeiten der Jugendlichen keinen nennenswerten Einfluss auf die Übergangschancen in eine voll qualifizierende Berufsausbildung haben. Jugendliche, die im Test der kognitiven Fähigkeiten gut abgeschnitten haben, finden nicht schneller als andere Schulabgänger eine Lehrstelle. Das bedeutet: Lernpotenziale, die in der Schule unentdeckt geblieben sind, werden auch bei der Lehrstellensuche von Arbeitgebern nicht erkannt und spielen hier offensichtlich entgegen den Aussagen der Betriebe keine Rolle …
Die „soft skills“ der Bewerber spielen hingegen eine Rolle. Die Persönlichkeit beeinflusst den Erfolg einer Bewerbung – allerdings nur bei Jugendlichen mit mittlerem Schulschluss. Für sie ist Gewissenhaftigkeit als Persönlichkeitsmerkmal … das entscheidende Erfolgskriterium. Dagegen haben Schulnoten bei gleich gewissenhaften Jugendlichen keinen signifikanten Einfluss. Mit Gewissenhaftigkeit können hier also schlechte Schulnoten ausgeglichen werden. 70 Prozent der sehr gewissenhaften Jugendlichen mit mittlerem Schulabschluss finden bereits im Herbst nach Schulabschluss einen Ausbildungsplatz. Bei den Mitschülern, die weniger gewissenhaft sind, schafft das nur jeder Zweite. Anders stellt sich die Situation bei den Hauptschülern dar. Sie können bei ihrer Ausbildungssuche nicht von vorteilhaften persönlichen Eigenschaften profitieren. Für sie sind die Abschlussnoten, insbesondere eine gute Mathematiknote, entscheidend. Jeder zweite Hauptschüler, der eine gute Note hat, findet unmittelbar nach der Schule einen Ausbildungsplatz. Das trifft bei den Hauptschülern mit einer schlechten Mathe-Note nur auf 30 Prozent zu. …
Wie lassen sich diese Unterschiede zwischen Haupt- und Realschülern erklären? Jugendliche mit mittlerem Schulabschluss haben von vornherein bessere Chancen auf einen Ausbildungsplatz als Hauptschüler, da ihre „Ausbildungsreife“ in der Regel – selbst bei nur mäßigen Noten – weniger angezweifelt wird. Von Vorteil ist für sie außerdem, dass ihnen ein breiteres Spektrum an erreichbaren Ausbildungsberufen zur Verfügung steht. …
Für Jugendliche mit Hauptschulabschluss stellt sich die Situation anders dar. Ihnen stehen deutlich weniger Ausbildungsberufe offen. Bewerben sie sich für einen Ausbildungsplatz in höher qualifizierten Berufen, werden ihre Unterlagen mit großer Wahrscheinlichkeit von vornherein aussortiert. Damit haben sie weniger Gelegenheiten, durch gewissenhaft erstellte und breit gestreute Bewerbungen ihre Chancen auf eine Lehrstelle zu verbessern. Da ihre Ausbildungsfähigkeit gegenwärtig häufig in Frage gestellt wird, müssen sie zunächst mit guten Abschlussnoten signalisieren, dass sie die notwendigen Voraussetzungen für eine Ausbildung mitbringen. …
Kognitives Lernpotenzial, das sich nicht in den Schulleistungen widerspiegelt, ist entgegen den Aussagen der Betriebe weder für Jugendliche mit mittlerem Abschluss noch mit Hauptschulabschluss bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz relevant. Das bedeutet, dass underachiever keine zweite Chance erhalten, ihr während der Schulzeit unentdecktes Lernpotenzial in einen Ausbildungserfolg umzuwandeln. Für die Gesellschaft heißt das, dass Fähigkeiten langfristig ungenutzt bleiben. Dies stimmt insbesondere vor dem Hintergrund eines absehbaren und vielfach beklagten Fachkräftemangels nachdenklich …“
Den WZBrief Bildung in vollem Textumfang entnehmen Sie bitte dem Anhang oder aufgeführtem Link.
http://bibliothek.wzb.eu/wzbrief-bildung/WZBriefbildung_162011_protsch_dieckhoff.pdf
www.wzb.eu/wzbriefbildung
Quelle: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung
Dokumente: WZBriefbildung_162011_protsch_dieckhoff.pdf