Kinderarmut in Deutschland: Der wirtschaftliche Aufschwung geht an vielen Kindern vorbei

Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung hat die Lebenssituation von Kindern hinsichtlich ihrer Armutsgefährdung untersucht. Obwohl die Arbeitslosigkeit sinkt, mehr Menschen denn je in unserem Land einen Job haben und die Löhne steigen, bleibt die Kinderarmut auf hohem Niveau und damit eines der sozialpolitischen Hauptprobleme in Deutschland. Die Analysen lassen insgesamt keine herausragenden Erfolge im Kampf gegen Kinderarmut erkennen. Jedoch gibt es deutliche Veränderungen in den Regionen festzustellen. Die innerdeutsche Ost-West-Armutsgrenze ist aufgebrochen. Auch der Gegensatz zwischen armen urbanen und reichen ländlichen Regionen weicht auf. Bremen weist mit einer Quote von mehr als 33 Prozent zwar immer noch den höchsten Stand an Kinderarmut auf, aber andere Regionen „holen auf“. In Nordrhein-Westfalen ist eine dramatische Zunahme an Kinderarmut zu verzeichnen. Im Regierungsbezirk Düsseldorf leben 25,1 Prozent der Kinder in armen Haushalten. Auch in Rheinland-Pfalz und dem Saarland nimmt die Kinderarmut zu. In den Regionen Ostdeutschlands entspannt sich die Lage, vor allem weil mehr Menschen Arbeit gefunden haben. Die Situation in Deutschland wird sich weiter verändern. Aufgrund der nach Deutschland geflüchteten Minderjährigen oder Familien, ist mit einer Zunahme der Kinderarmut zu rechnen. Viele der Flüchtlingskinder tragen ein hohes Risiko, in Armut aufzuwachsen.

Auszüge aus den Analysen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI):

„Erfreuliche Entwicklungen im Osten

In Ostdeutschland ist das Armutsrisiko der Kinder in den vergangenen zehn Jahren massiv gesunken und hat 2014 einen neuen Tiefstwert erreicht. Wiesen im Jahr 2005 noch acht der neun ostdeutschen NUTS-II-Regionen eine Kinderarmutsquote über 25 Prozent auf, waren es 2014 nur noch vier. Insgesamt fiel die Armutsquote der Kinder zwischen 2005 und 2014 von 29 auf 24,6 Prozent. Dies dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, dass die Arbeitslosenquote in allen Regionen des Ostens (mit Ausnahme Berlins) um mehr als zehn Prozentpunkte zurückgegangen ist. (…)

Die Bilanz für Nordrhein-Westfalen fällt hingegen unerfreulich aus: Im bevölkerungsreichsten Bundesland leben 684.000 der 2,47 Millionen armen Kinder in der Bundesrepublik. Dies entspricht einem Anteil von 27,7 Prozent der armen Kinder in Deutschland.

Die Armutsgefährdung der Kinder und Jugendlichen hat in allen fünf Regierungsbezirken des Landes zugenommen. Insgesamt ist die Kinderarmut in Nordrhein-Westfalen über die Zeit von 20,4 auf 23,6 Prozentpunkte angestiegen. Besonders deutlich fällt die negative Bilanz im Regierungsbezirk Münster aus: Dort ist das Armutsrisiko der Kinder und Jugendlichen stetig von 18,0 auf 23,6 Prozent geklettert. Der Regierungsbezirk Düsseldorf ist nach einem Anstieg der Kinderarmut um 3,3 Prozentpunkte in den vergangenen zehn Jahren die Region mit der zweithöchsten Kinderarmut in Westdeutschland. (…)

In Baden-Württemberg liegt die Armutsquote der Kinder und Jugendlichen derzeit bei 12,7 Prozent und entspricht damit dem Durchschnitt der vergangenen zehn Jahre. Obwohl auf Landesebene somit keine Verbesserung erzielt worden ist, bleibt Kinderarmut in Baden-Württemberg im Vergleich zum westdeutschen Durchschnitt sehr selten. Immerhin ist die Kinderarmut im Regierungsbezirk Tübingen von einem niedrigen Ausgangsniveau im Jahre 2005 (12,3 Prozent) recht kontinuierlich auf derzeit 10,5 Prozent zurückgegangen. Bayern ist es sogar gelungen, die Kinderarmutsquote im selben Zeitraum um ganze zwei Prozentpunkte auf nur noch 11,9 Prozent zu reduzieren. In Unterfranken ist der Rückgang besonders deutlich. (…) Die positive Entwicklung der Kinderarmutsquote in Tübingen und Unterfranken korrespondiert dabei mit einem jeweils weit überdurchschnittlichen Rückgang der Arbeitslosenquote. Auch die Stagnation der Kinderarmut in den übrigen Regionen Baden-Württembergs kann auf einen nur durchschnittlichen prozentualen Rückgang der Arbeitslosenquote zurückgeführt werden.

Auswirkungen des Zustroms von Asylsuchenden auf die Kinderarmut

Seit einigen Jahren hat die Bundesrepublik jedoch wieder eine steigende Zahl von Asylsuchenden zu verzeichnen. Der Zustrom ist insbesondere im Jahr 2015 so stark angewachsen, dass sich die Frage nach den Auswirkungen auf die Verbreitung von Kinderarmut stellt.

In der Tat ist die Zahl der Kinder und Jugendlichen unter den erstmalig Asylsuchenden beständig gestiegen. Im Oktober 2015, dem letzten Monat, für den Daten vorliegen, waren es 14.100 Kinder. Von diesen kamen 66,8 Prozent aus den Krisengebieten in Syrien, Irak und Afghanistan. (…)

Selbstverständlich sollte zunächst im Vordergrund stehen, dass diese Kinder durch ihren Aufenthalt in der Bundesrepublik Krieg und Terror entgangen sind. Insbesondere bei Familien aus den Kriegsgebieten kann daher auch kaum erwartet werden, dass sie in Kürze in ihre Heimatländer zurückkehren werden. Auf lange Sicht stellt sich damit die Frage, wie sich die Einwanderung auf die Kinderarmut in Deutschland auswirken wird und wie es um die sozialen und wirtschaftlichen Aussichten der Kinder aus unterschiedlichen Herkunftsgebieten steht. (…)

Allerdings muss betont werden, dass die hohe Zahl an Flüchtlingskindern sich nicht unmittelbar in einem rapiden Anstieg der (gemessenen) Kinderarmutsquoten niederschlagen wird. Dafür sind vor allem drei Effekte verantwortlich: Erstens sind die Flüchtlinge erst im Laufe des Jahres in der Bundesrepublik eingetroffen. Die Einkommenserhebung durch den Mikrozensus erfolgt aber kontinuierlich. Die Armutsquoten beziehen sich also sinnvoller Weise auf die im Jahresmittel ansässige Bevölkerung. Die durchschnittliche Zahl der Einwandererkinder ist aber im Verhältnis zur ansässigen Bevölkerung geringer als die am Ende des Jahres erreichten Spitzenwerte suggerieren. Zweitens ist zu berücksichtigen, dass ein beachtlicher Teil der Asylbewerberinnen und Asylbewerber in Aufnahmelagern und Gemeinschaftsunterkünften lebt. Am Ende des Jahres 2014 traf dies auf 52.526 Kinder und Jugendliche zu. Die Armutsstatistik erfasst aber nur Privathaushalte, weshalb diese Kinder nicht in die Berechnungen eingehen. Schließlich müssen die real-weltlichen Schwierigkeiten der Armutsmessung bei einer derartig mobilen Bevölkerungsgruppe mit oftmals sehr begrenzten Deutschkenntnissen berücksichtigt werden. Es bleibt abzuwarten, inwiefern es der Mikrozensus-Erhebung gelingt, die Einwanderer in die Befragung einzubeziehen und hochzurechnen. (…)

Asylbewerber und ihre Kinder, die in die Bundesrepublik einreisen, können Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz geltend machen. Sobald Asyl gewährt worden ist oder die Ausländer 18 Monate in Deutschland geduldet worden sind, gehen diese Menschen in das etwas weniger restriktive SGB II, landläufig „Hartz IV“ genannt, über. (…) Die Zahl ausländischer Kinder, die von diesen Leistungen leben, ist angestiegen. Aufgrund der durch das Asylbewerberleistungsgesetz ausgelösten Verzögerung hat der Übergang der Kinder auf das SGB II erst Anfang 2015 an Fahrt aufgenommen und wird sich nach und nach auch in den Armutsquoten niederschlagen.

Licht und Schatten

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Kinderarmut in Deutschland weiterhin auf hohem Niveau verharrt. Immerhin ist sie im Vergleich zu den Höchstständen in der ersten Hälfte der 2000er gesunken. (…). Die aktuelle Einwanderungswelle wird sich jedoch nach und nach in einem erneuten Anstieg der Armutsquote niederschlagen.

Damit stellt sich die Frage, was getan werden kann, um Kinderarmut zu vermeiden. (…) Die Einbindung in den Arbeitsmarkt ist entscheidend. Der einfache Grund besteht darin, dass Lohnarbeit für die meisten Familien die einzige Einkommensquelle darstellt, die auf Dauer ein Leben oberhalb der Armutsgrenze ermöglicht. Ein adäquater Mindestlohn kann auch hier einen Beitrag leisten. Ausnahmen vom Mindestlohn für Flüchtlinge sind damit nicht zielführend.

Mindestlöhne beugen dem Armutsrisiko von Familien jedoch nur dann vor, wenn es beiden Elternteilen gelingt, ausreichend viele Stunden zu arbeiten. Dies kann nur (…) gelingen, (…) wenn Kinderbetreuungsplätze in ausreichender Zahl und Qualität zur Verfügung stehen. (…)“

Grundlage für die Bewertung sind Daten aus dem Mikrozensus 2014, der Bundesagentur für Arbeit und eigene Berechnungen des WSI.

Quelle: Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI)

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