Platz da?! Räume für Partizipation und Demokratiebildung in der Jugendsozialarbeit

Der klassische Ort, an dem jugendliche Selbstorganisation und politisches Lernen zusammentreffen, ist die Jugendarbeit. Vor allem die Jugendverbände machen durch ihre Verfasstheit Demokratie ganz unmittelbar erlebbar. Jugendliche in prekären Lebenslagen, die Benachteiligung im Bildungssystem und in der Gesellschaft erfahren, sind hingegen in der Regel nicht organisiert, und die Praxiserfahrungen zeigen, dass auch hoch motivierte politische Bildner/-innen größte Schwierigkeiten haben können, diese „bildungsbenachteiligte“ Zielgruppe überhaupt zu erreichen. Wie kann es gelingen, diesen Jugendlichen in und mit der Jugendsozialarbeit Orte der Partizipation und der politischen Bildung zu schaffen? Unsere Kolleg*innen Andrea Pingel (Referentin für Grundsatzfragen) und Tom Urig (Geschäftsführer) von der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit BAG KJS haben sich für das Journal für politische Bildung dazu Gedanken gemacht und Gelingensbedingungen für das Zusammenspiel von Jugendsozialarbeit und politischer Bildung formuliert.

Jugendsozialarbeit richtet sich gezielt an junge Menschen, die Benachteiligung oder Diskriminierung erleben. Sie versteht sich als Akteur, der junge Menschen etwa mit Streetwork und mobilen Angeboten niedrigschwellig erreicht, der sozialpädagogische Beziehungen aufbaut und in der Schulsozialarbeit oder Jugendberufshilfe erfolgreich Zugänge zur formalen Bildung schafft (vgl. Pingel 2018). Aber werden diese Zugänge auch genutzt, um jungen Menschen Freiräume zu bieten, die diese ohne Anwesenheitspflicht und Leistungsbewertung gestalten und dabei Selbstwirksamkeitserfahrungen machen können? Nicht zuletzt weil diese Angebote häufig innerhalb der Grenzen des Schulsystems, der Maßnahmenformate der Arbeitsförderung oder der Vorgaben des Jobcenters eingezwängt sind, gelingt dies längst nicht immer oder „einfach so“. Teilhabe und Demokratie dürfen nicht allein Ziel von Jugendsozialarbeit sein, sondern müssen direkt erfahrbar werden, wenn sie auch politisch bilden will. Dies setzt voraus, dass Jugendliche auf der Basis von sozialpädagogischen Beziehungen Selbstwirksamkeit und Anerkennung erleben. Dann können ihre Entwicklungen unmittelbar und entlang ihrer Lebensthemen und Erfahrungen (Leben auf der Straße, Armut und Ausgrenzung, Abwertung und Entmachtung, Erfolge und Chancen etc.) thematisiert und Handlungsoptionen durch Selbstermächtigung und Befähigung eröffnet werden.

Jugendarmut und Teilhabe

Ausschlaggebend für die umfassende Teilhabe junger Menschen sind Chancen und Kompetenzen, die sie im Bildungs- und Ausbildungssystem erfahren bzw. entwickeln. 30 Prozent der Minderjährigen in Deutschland wachsen in armutsgefährdeten Haushalten auf (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018). Dass v. a. der sozio-ökonomische Hintergrund junger Menschen ihre Bildungs- und Zukunftschancen bedingt, ist wissenschaftlich hinreichend belegt. Rund 52.000 Schüler/-innen haben 2017 die Schule ohne einen Hauptschulabschluss verlassen (vgl. Deutscher Caritasverband 2019). Die Chancen auf dem Ausbildungsmarkt sind aber sogar „nur“ mit einem Hauptschulabschluss gering. Junge Menschen ohne Ausbildung oder Studium tragen ein sehr hohes Armutsrisiko. Derzeit haben 2,1 Millionen junge Erwachsene in Deutschland zwischen 20 und 34 Jahren keinen Berufsabschluss (vgl. BMBF 2019). Die Lebensphase „Jugend“ ist der prägende Zeitraum für Qualifizierung, Verselbstständigung und Selbstpositionierung und entscheidend für eine gelingende soziale und gesellschaftliche Integration (vgl. BMFSFJ 2017). Armut schränkt Jugendliche bei den drei genannten Herausforderungen ein: Wenn junge Menschen unter Armut leiden, bestimmt das ihr ganzes weiteres Leben (vgl. BAG KJS 2018). Teilhabe und politisches Engagement zu ermöglichen heißt deshalb auch, gerechte Bildungschancen zu schaffen und eine berufliche Ausbildung für alle jungen Menschen sicherzustellen.

Jugendsozialarbeit als politischen Bildungsort gestalten

Die Bedarfe und Zugangschancen junger Menschen mit Unterstützungsbedarf werden im Bildungssystem und auch bei politischen Bildungsangeboten und deren methodischer Ausgestaltung häufig nicht mitgedacht. Jugendsozialarbeit aber soll Jugendlichen gemäß § 13 SGB VIII „zum Ausgleich sozialer Benachteiligungen oder zur Überwindung individueller Beeinträchtigungen […] sozialpädagogische Hilfen“ bieten, die ihre schulische und gesellschaftliche Integration sicherstellen. Diesen Auftrag darf die Soziale Arbeit nicht (länger) paternalistisch verstehen. Zwar geht es auch um Prävention, den Schutz vor Diskriminierung und Exklusion, aber diese muss zentral auf Befähigung und Selbstbemächtigung beruhen, was nur durch die Erfahrung echter und durchgängig gelebter Partizipation gelingen kann. Es geht also nicht nur darum, auf eine spätere Teilhabe vorzubereiten, sondern es geht um ein höchstmögliches Maß der Beteiligung innerhalb der Einrichtungen und Angebote, die die Jugendlichen in ihrem Alltag betreffen. Jugendsozialarbeit als politisches Lernen gelingt dort, wo sie als Beziehungs- und Bildungsarbeit gleichermaßen – auf der Straße, im Sozialraum, im Jugendhaus, in der Berufsvorbereitung, in der Schule oder der Notunterkunft – junge Menschen parteilich annimmt, begleitet und stützt. Die folgenden Gelingensbedingungen von Orten und Gelegenheiten des politischen Lernens für junge Menschen mit Benachteiligungs- und Diskriminierungserfahrung sind von enormer Wichtigkeit.

Partizipation: Echte Partizipation ist mehr als eine partielle Beteiligung, die ein Mitwirken oder Mitentscheiden zuweilen zulässt oder auch nicht. Die grundlegende Haltung für partizipative Prozesse ist es, Jugendliche als Expert/-innen in eigener Sache zu sehen. Teilhabe junger Menschen findet nur da wirklich statt, wo Erwachsene (Sozialarbeiter/-innen, Lehrkräfte etc.) bereit sind, bewusst auf einen Teil ihrer Macht zu verzichten. Dazu gehört Zutrauen in die Jugendlichen, aber auch eine aktive Unterstützung durch ein Schaffen von geeigneten (geschützten) Freiräumen. Demokratiebildung wird dann wirksam, wenn Partizipation fester Teil des pädagogischen Konzepts ist und tagtäglich demokratisches Miteinander (vor)gelebt wird.

Selbstwirksamkeit erfahrbar machen: Nicht die Vermittlung von Faktenwissen über staatliche Institutionen und deren demokratisches Zusammenwirken steht beim non-formalen politischen Lernen im Fokus, sondern es geht um die Lebenswirklichkeit der Jugendlichen, die anfangen, Bewertungen vorzunehmen, Perspektiven zu erkennen und Verantwortung gegenüber sich selbst und der Gesellschaft wahrzunehmen. Eine zentrale Erfahrung ist dabei die der Selbstwirksamkeit. Durch ganzheitliches und praktisches Lernen und tätig sein, wie es etwa in Produktionsschulen oder Jugendwerkstätten in der Jugendsozialarbeit praktiziert wird, erfahren junge Menschen konkrete Erfolge und Anerkennung. Durch das eigene Gestalten eines Projektes, das ein Anliegen der Jugendlichen in den Mittelpunkt stellt, erfahren sie exemplarisch, Herausforderungen der Gesellschaft aus eigener Kraft analysieren und erfolgreich bewältigen zu können. Das mögliche Scheitern eines solchen Projektes gehört zum politischen Lernen.

Methoden und Formate: Die Befunde aus der Praxis zeigen, dass es entscheidend ist, dass Methoden dem Alter, den Erfahrungen und den Kenntnissen der Jugendlichen entsprechen und an deren Lebenswelt attraktiv anknüpfen. Niedrigschwellig und benachteiligungssensibel meint dabei, z. B. ihre Diskriminierungserfahrungen aufzugreifen, aber auch ihre Kenntnisse etwa der deutschen Sprache oder ihre Fähigkeiten im Lesen und Schreiben, die eventuell aufgrund einer kognitiven Beeinträchtigung eingeschränkt sind, zu berücksichtigen und nach Möglichkeit mit leichter Sprache etc. zu arbeiten. Jugendliche wertschätzen Methoden und Formate, die aufgrund der Beteiligungsmöglichkeiten, der Handlungsorientierung und des Verzichts auf Leistungsbeurteilung im Kontrast zum schulischen Alltag stehen. Dieser Unterschied kann sich auch bei den Lernorten und der zeitlichen Gestaltung sowie dem geringeren hierarchischen Gefälle in der Beziehung zwischen Jugendsozialarbeiter/-innen und/oder politischen Bildner/-innen und Jugendlichen zeigen.

Prozessorientierung: Gerade Medienprojekte verführen zur Arbeit auf ein möglichst professionelles Ergebnis hin. Es geht aber nicht um perfekte Resultate, den besten Videoclip oder den virtuosen Rap; es geht um den gemeinsamen Prozess, das Erfinden, Suchen, Aushandeln, Bewerten, Reflektieren, Korrigieren. Der Erfolg des politischen Lernens bemisst sich nicht im präsentablen Ergebnis. Zentral ist die Prozessorientierung, d. h. die Ermöglichung der Handlungsschritte, und der Blick darauf, was die Jugendlichen gemeinsam im Diskurs erarbeiten und erfahren (können). Beziehungsarbeit ist und bleibt die Grundlage jeder politischen Bildung in der Jugendsozialarbeit.

Reflexion: Ein weiterer entscheidender Faktor für den politischen Lernerfolg ist die moderierte gemeinsame Nachbereitung, bei der Jugendliche ihre Erfahrungen und Erkenntnisse nicht nur auf individueller oder sozialer Ebene, sondern auch auf gesellschaftlicher und politischer Ebene reflektieren.

An welchen Stellschrauben müssen wir drehen?

Zum einen fehlen in der kommunalen Kinder- und Jugendhilfe häufig Ressourcen für Angebote der Jugendarbeit und der Jugendsozialarbeit – unter den Rahmenbedingungen im SGB II oder III bleibt Beziehungs- und Bildungsarbeit schwierig und gelingt nur in Ausnahmefällen. Auch brauchen die Fachkräfte der Jugendhilfe und der Jugendsozialarbeit Qualifizierung. Wer es mit dem politischen Lernen ernst meint, braucht eine geklärte eigene Haltung zur Partizipation und ein passendes methodisches Repertoire. Dies sollte einhergehen mit der Bildung von Netzwerken, Thinktanks und Laboren mit der Jugendsozialarbeit und den etablierten Trägern der politischen Bildung, mit Akademien und Jugendverbänden und den vielen Einrichtungen, Projekten und engagierten Trainer/-innen. Ziele sind der fachliche Austausch, die Qualitätsentwicklung, das Erfinden von neuen Formaten und Methoden – und nicht zuletzt die Lobbyarbeit für die politische Bildung mit „bildungsbenachteiligten“ Jugendlichen. Aus Sicht der Jugendsozialarbeit gehören Lernen und das (Er-)Leben von Demokratie bzw. demokratischen Prozessen zusammen. Dazu gehört die Chance zur demokratischen Selbstorganisation oder die Möglichkeit, Peergroups zu eigenen Anliegen zu bilden. Dies kann in der Jugendsozialarbeit nur in enger Kooperation mit Angeboten der offenen und verbandlichen Jugendarbeit, der Streetwork und der politischen Jugendbildung gelingen.

Literatur

Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2018): Bildung in Deutschland 2018, www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/bildungsbericht-2018/pdf-bildungsbericht-2018/bildungsbericht-2018.pdf

Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (Hg.) (2018): Monitor Jugendarmut in Deutschland 2018. Düsseldorf.

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hg.) (2017): 15. Kinder- und Jugendbericht, www.bmfsfj.de/blob/115438/d7ed644e1b7fac4f9266191459903c62/15-kinder-undjugendbericht-bundestagsdrucksache-data.pdf

Deutscher Caritasverband (Hg.) (2019): Bildungschancen 2019, www.caritas.de/bildungschancen

Pingel, Andrea (2018): Jugendsozialarbeit. In: Böllert, Karin (Hg.): Kompendium Kinder- und Jugendhilfe. Band 1. Wiesbaden 2018, S. 737 – 754.

Urig, Tom (2019): Es geht um echte Partizipation! Politische Bildung mit „bildungsbenachteiligten“ Jugendlichen. In: Jugendsozialarbeit Aktuell, Nummer 179, S. 1 – 4

Alle Internetquellen abgerufen am 09.08.2021.

Weiterführender Link: https://www.journal-pb.de/

Quellenangabe: Dieser Artikel ist zuerst erschienen im „Journal für politische Bildung“ (02/20), mit dessen freundlicher Genehmigung wir Ihnen den Beitrag erneut zur Verfügung stellen können. Bestellen Sie jetzt ein kostenloses Probeheft unter https://www.journal-pb.de/

Bildquelle: www.jobmobil-berlin.de

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