BILDUNGSUNGLEICHTHEIT Der vorliegende Beitrag untersucht die Bildungschancen der Kinder der Aussiedler im Vergleich mit denen anderer Migrantenkinder und denen der autochthonen Bevölkerung. Dabei wird eine Drei-Generationen-Perspektive eingenommen, um den Effekt von Eltern und Großeltern auf die Bildungschancen der Kinder zu untersuchen. Als Datengrundlage dient das Soziooekonomische Panel (DIW, Berlin). Auszüge aus einem Beitrag von Marek Fuchs und Michaela Sixt (Universität Kassel): “ EINLEITUNG UND FRAGESTELLUNG Mit der Zuwanderung der Aussiedler war zumindest partiell die Erwartung verbunden, dass sie – anders als die zuvor und parallel dazu zuwandernden nicht-deutschen Migranten – leichter in der einheimischen Bevölkerung aufgehen würden und dass daher weniger ausgeprägte, auf das Migrationsgeschehen zurück gehende soziale Probleme auftreten würden. Nachdem sich diese Erwartung in den ersten Jahren nach der Zuwanderung zunächst nicht erfüllt hat und auch nicht erfüllen konnte, stellt sich die Frage, ob aus den Aussiedlern mittel- bis langfristig eine von den Einheimischen kaum mehr unterscheidbare Gruppe wird oder ob der Migrantenstatus – einschließlich der damit verknüpften sozialen Problemlagen – auch langfristig dominant bleibt. In dem vorliegenden Beitrag soll diese Frage im Hinblick auf die Integration der Kinder der Aussiedler in das deutsche Bildungssystem untersucht werden. Dabei sollen die Bildungschancen der Aussiedlerkinder im Vergleich zu denen der autochthonen Bevölkerung und zu denen anderer Migranten analysiert werden. Für diese Betrachtungen wird eine Drei-Generationen-Perspektive gewählt, um zu überprüfen, ob sich die intergenerationale Weitergabe von Bildung über mehrere Generationen bei Aussiedlern, Ausländern und einheimischen Deutschen unterscheidet. BILDUNGSUNGLEICHHEIT NACH MIGRATIONSSTATUS Die nach ethnischen Kriterien bzw. nach dem Migrationshintergrund differierende Bildungsbeteiligung ist ein seit langem dokumentiertes Phänomen … . Dies gilt für alle Bildungseinrichtungen von der Elementarstufe bis zu den Hochschule und für die berufliche Bildung: z. B. besuchen zugezogene Migrantenkinder seltener den Kindergarten … und es gibt eine Überrepräsentation an Sonder- und Hauptschulen gegenüber Realschulen und Gymnasien … . Kristen (2002) zeigt anhand der Daten von Schulen aus Baden-Württemberg, dass der Migrationshintergrund die Übergangsraten von Kindern auf weiterführende Schulen (Realschule und Gymnasium) vermindert umgekehrt sind die Übergangsraten zu Hauptschule deutlich höher, als bei einheimischen deutschen Kindern … . Weiter wird davon ausgegangen, dass es Migrantenkinder nicht nur schwerer haben, eine weiterführende Schule zu besuchen, sondern dass es ihnen auch schwerer fällt, sich dort zu halten der Anteil der Wechsler auf eine Schule, die zu einem geringerwertigen Abschluss führt, ist bei Migranten deutlich höher. Zudem weisen Migrantenkinder zu einem höheren Anteil Verzögerungen in der Schullaufbahn aufgrund von verspäteter Einschulung und Klassenwiederholungen auf … Entscheidend ist eine Differenzierung nach der ethnischen und/oder regionalen Herkunft: Auffällig ist, dass insbesondere Kinder aus türkischen und italienischen Familien besonders geringe Bildungschancen aufweisen, während Kinder aus spanischen und griechischen Familien sowie aus Aussiedlerfamilien deutlich bessere Bildungschancen aufweisen … . Während die spanischen Kinder jedoch fast die Bildungsbeteiligung von einheimischen Deutschen erreichen, liegen die Bildungschancen von Aussiedlerkindern zwar über denen der meisten anderen Migrantengruppen, aber unter denen der einheimischen Deutschen … Dies spricht dafür, dass es wenig angebracht scheint von „den“ Migrantenkindern zu sprechen. Vielmehr muss man mindestens nach Herkunftsland differenzieren – bei Ländern mit heterogener Bevölkerung ggf. sogar noch weitergehend. Für die divergierenden Schulerfolge von Zuwanderern werden allgemein (1) auf die soziale Herkunft verweisende Ansätze und (2) Erklärungen im Sinne einer Diskriminierungsthese vertreten. Hinzu kommen (3) Überlegungen aus der Mehrebenenbetrachtung, wonach die ethnische oder leistungsmäßige Segregation der Migrantenkinder in der Schulphase ebenfalls verantwortlich gemacht werden kann. (1) Entscheidende Determinante des Bildungserfolgs ist zunächst die soziale Herkunft der Kinder und damit die Ausstattung der Elternhäuser mit kulturellen, sozialen und ökonomischen Kapitalien. Entsprechend dieser Überlegung haben Migrantenkinder geringere Bildungschancen, weil ihre Elternhäuser in geringerem Umfang über bildungsförderliche Kapitalien verfügen. Da insbesondere die klassischen Arbeitsmigranten in der Regel bereits im Herkunftsland über einen geringen sozio-ökonomischen Status verfügten …, ist es durchaus erwartbar, dass ihre Kinder und Enkel auch in Deutschland geringere Bildungschancen als der Durchschnitt der einheimischen deutschen Kinder haben. Damit handelt es sich bei der ethnischen Bildungsungleichheit zunächst gar nicht um einen Effekt des Migrationsstatus, sondern der sozialen Herkunft. Allerdings zeigen Analysen, dass Migrantenkinder aber auch bei Kontrolle der sozialen Herkunft geringere Bildungschancen haben …, als einheimische Kinder. Um dies zu erklären wird davon ausgegangen, dass die Bildungsabschlüsse der selbst zugewanderten Personen mit Migrationshintergrund durch das Migrationsgeschehen entwertet wurden … . In der nachfolgenden Generation werden zudem geringere Deutschkenntnisse und fehlende Informationen über den lokalen Arbeitsmarkt sowie mangelnde Zugehörigkeit zu Netzwerken unterstellt, was zu einer geringeren Ausstattung mit Humankapital führt. Das spezifisch ethnische Kapital(Zweisprachigkeit, interkulturelle Kompetenzen) bleibt dagegen beim Zugang zu höherwertigen Bildungsabschlüssen weitgehend ohne positiven Effekt.Entsprechend dieser Überlegung wird davon ausgegangen, dass die – bei Kontrolle der sozialen Herkunft – noch sichtbare, ethnische Bildungsungleichheit auf die Entwertung der in der Familie verfügbaren Ressourcen durch das Migrationsgeschehen zurückzuführen ist: Bildungsabschlüsse werden nicht anerkannt, die Einmündung auf dem Arbeitsmarkt erfolgt entsprechend tiefer, Kenntnisse über Bildungssystem und Arbeitsmarkt des Herkunftslandes sind in Deutschland von geringem Wert, Netzwerke und Kontakte müssen erst wieder aufgebaut werden usw. (2) Neben der auf der ungleichen Kapitalausstattung der Familie beruhenden Argumentation wird angenommen, dass Kinder mit Migrationshintergrund von Bildungsinstitutionen (Grundschule, weiterführende Schulen) diskriminiert werden und daher – auch bei gleichen Schulleistungen – seltener eine Empfehlung für weiterführenden Schulen bzw. trotz gleicher Schulleistungen keine Unterstützung beim Besuch weiterführender Schulen erhalten. … Allerdings lässt sich die Diskriminierungsthese, wonach Migrantenkinder deshalb häufiger eine Hauptschule besuchen, als ihre einheimischen Altersgenossen, weil sie seltener eine Übertrittsempfehlung erhalten oder weil sie bei der Notengebung gegenüber den deutschen Kindern benachteiligt werden, mit den meisten vorliegenden Studien nicht prüfen. (3) Sichtbar ist hingegen der Effekt Segregation in der Grundschule: Weil Migrantenkinder überproportional häufig in einzelnen Grundschulen und Grundschulklassen konzentriert werden …, haben sie schlechtere Bildungschancen, denn je höher der Anteil der Migrantenkinder in einer Klasse, desto geringer die individuelle Übergangswahrscheinlichkeit auf eine weiterführende Schule. Analoges gilt für den Anteil der Leistungsschwachen in einer Klasse, der ebenfalls die Bildungschancen jedes einzelnen Kindes beeinträchtigt. Weil Migrantenkinder häufiger in Klassen mit im Durchschnitt geringem Leistungsstand konzentriert werden, haben sie geringe Bildungschancen. … FAZIT Auch wenn die Kinder der Aussiedler häufiger eine Hochschulreife erreichen, als die Kinder anderer Migranten, sind ihre Bildungschancen schlechter, als die der Kinder der einheimischen Deutschen. Insoweit hat sich also die Annahme bestätigt, dass die Kinder der Aussiedler bessere Integrationschancen haben, als Kinder von anderen Migranten. Allerdings erreichen die Bildungschancen der Aussiedlerkinder nicht das Niveau der autochthonen Kinder. Untersuchungsergebnisse verdeutlichen, dass dafür der Bildungsstand sowie ökonomische und kulturelle Kapitalien der Eltern verantwortlich gemacht werden können: Die Aussiedlerkinder erreichen z. T. deshalb seltener eine Hochschulreife als die einheimischen Deutschen, weil ihre Eltern im Durchschnitt ein niedrigeres Bildungsniveau aufweisen. Doch selbst, wenn man diese Effekte in Rechnung stellt, haben die Aussiedler – wie die übrigen Migranten – zu einem geringeren Anteil Kindern mit Hochschulreife als einheimische Deutsche. Dies führen wir auf einen eigenständigen Effekt des Migrationsgeschehens zurück, der sich in der Entwertung der Kapitalien der Einwanderer ausdrückt: einerseits kommt es zu einer sozialen oder formalen Entwertung der Bildungsabschlüsse der Eltern beim Zugang zum Arbeitsmarkt im Einwanderungsland und andererseits fehlen grundlegende Kenntnisse über die Funktionsweise des Bildungssystems und des Arbeitsmarktes. Damit befinden sich Aussiedler und Migranten im Vergleich zu den einheimischen Deutschen in einer schlechteren Position ihren Kindern eine Hochschulreife mitzugeben. Detaillierte Analysen … weisen darauf hin, dass es bei den Aussiedlern vor allem die Bildungsaufsteiger sind – und darunter vor allem die erstmals auf akademisches Niveau Aufgestiegenen –, deren Kinder besonders geringe Bildungschancen haben, während die Aussiedlerkinder der etablierten Akademiker durchaus die gleichen Bildungschancen haben, wie die Kinder der einheimischen deutschen etablierten Akademiker. Diese spezifische Benachteiligung der Neuakademiker unter den Aussiedlern führen wir auf einen Umstand zurück, der den eigenständigen Effekt des Migrationsgeschehens noch verstärkt: Wir vermuten, dass die Bildungsaufstiege – die weit überwiegend nicht in Deutschland, sondern in den ehemals kommunistischen Gesellschaften vollzogen wurden – dazu geführt haben, dass die üblicherweise in westlichen Gesellschaften mit dem akademischen Abschluss verbundenen sozialen und kulturellen Kapitalien, die die spezifische Bildungsnähe der Akademiker begründet, nicht oder nur unzureichend aufgebaut werden konnten. Dadurch – so vermuten wir auf Basis der Daten – werden die Bildungschancen der Kinder dieser Bildungsaufsteiger, die durch die mangelnde Anerkennung ihrer Zeugnisse zu sozialen Absteigern wurden, zusätzlich beeinträchtigt. Für die soziale Integration der Aussiedler ergibt sich daraus die Aufgabe, ihnen Bildungsperspektiven nahe zu legen, aufzuzeigen und zugänglich zu machen. Denn während einheimische deutsche Absteiger aus dem akademischen Milieu z. T. kulturelle, soziale und z. T. auch ökonomische Kapitalien aus der Herkunftsfamilie mitbringen, die ihnen bzw. ihren Kindern den Wiederaufstieg erleichtern sollten, fehlt den sozial abgestiegenen akademischen Aussiedlern das familiale kulturelle und soziale Erbe, das sich bei den einheimischen Deutschen als wesentlicher Faktor für den Zugang zu weiterführender Bildung erwiesen hat: Ihr familiales kulturelles Erbe hat durch die politischen und sozialen Rahmenbedingungen in den Herkunftsländern eine spezifische Färbung erfahren, so dass es in Deutschland, verstärkt durch die Nicht-Anerkennung des Bildungstitels der Eltern, kaum als bildungsnah anschlussfähig betrachtet werden kann. Die Analysen zu den Bildungschancen der Aussiedlerkinder beruhen bisher auf einem schmalen Datensatz. … entsprechend unzuverlässig sind die Ergebnisse und entsprechend vorsichtig sind wir mit Generalisierungen unserer Befunde. In einem nächsten Schritt wäre es daher von großem Interesse, den mittel und langfristigen Integrationserfolg der Aussiedler und vor allem ihrer Kinder zu beobachten. Aussagekräftige Daten stehen dazu allerdings kaum zur Verfügung. Entsprechende Untersuchungen lassen sich wegen des hohen Screening-Aufwands und anderer formalrechtlicher Probleme beim Feldzugang leider nur mit beträchtlichem Aufwand realisieren, der für eine einzelne Fragestellung kaum angemessen wäre. Eine koordinierte Erhebung für verschiedene Fragestellungen und Projekte wäre aber durchaus lohnenswert, um mehr über die Lebensverläufe einer zahlenmäßig bedeutsamen Zuwanderergruppe zu erfahren und so deren langfristige wirtschaftliche, soziale und politische Integration aufzuarbeiten. “ Den Bericht im Volltext entnehmen Sie bitte dem Anhang oder über aufgeführten Link.
http://www.diw.de
http://www.diw.de/deutsch/Nachrichten
Quelle: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschun
Dokumente: diw_sp0105.pdf