Auszüge aus der DJI-Expertise „Ganztagsangebote für Jugendliche“ von Bettina Arnoldt, Peter Furthmüller und Christine Steiner im Auftrag des Zentrums für eigenständige Jugendpolitik:
“ … Die Entwicklung der Ganztagsschule wurde in den vergangenen Jahren aufmerksam begleitet und in einer Reihe von Forschungsprojekten untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass durch die Inanspruchnahme von Ganztagsangeboten die individuelle soziale und kognitive Entwicklung der Schüler/innen durchaus unterstützt wird. Sie lassen zudem klar erkennen, dass sich auch die arbeitsmarkt- und familienpolitischen Ziele grundsätzlich erreichen lassen. So helfen Ganztagsangebote in der Tat Eltern, insbesondere Eltern mit Kindern im Grundschulalter, dabei, Familienleben und Beruf besser miteinander vereinbaren zu können; zudem entlasten sie Eltern bei der Hausaufgabenhilfe und unterstützen Eltern mit Migrationshintergrund sowie mit einem weniger privilegierten sozialen Status bei Erziehungsproblemen. Dies erklärt die wachsende Akzeptanz schulischer Ganztagsangebote, gerade letzteres verdeutlicht aber auch, dass der Ganztagsschulausbau auf Bedarfe und Problemlagen reagiert, die in erster Linie Erwachsene betreffen. Etwas überspitzt könnte man formulieren, dass die Ganztagsschule eine Schule ist, die den Interessen von immer mehr Erwachsenen entgegenkommt.
Ob und inwieweit die Ganztagsschule auch den Bedürfnissen und Interessen von Kindern und Jugendlichen gerecht wird, ist eine andere Frage, die mit dem Verweis auf die förderlichen Wirkungen für die individuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen allein nicht beantwortet ist. Wenn Kinder und Jugendliche mehr Zeit in der Schule verbringen, dann hat dies Konsequenzen für den Alltag nicht nur in, sondern auch außerhalb der Schulen. Vor allem die damit einhergehenden zeitlichen Restriktionen werden zum Teil sehr kritisch betrachtet.
Die Ganztagsschule wird dabei im Kontext einer generellen zeitlichen und inhaltlichen Verdichtung der schulischen Laufbahn und des Schulalltags von Kindern und Jugendlichen gesehen. Die Ganztagsschule trage zu einer Entwicklung bei, die zu einer zunehmenden Verschulung der Freizeit führe. Mit der intendierten Einführung neuer Zeitmodelle, der Integration zusätzlicher unterrichtsbezogener Angebote wie dem Förderunterricht, der Hausaufgabenhilfe oder Angeboten, mit denen in erster Linie Aspekte der Alltagsbildung vermittelt werden sollen, verstärke die Ganztagsschule die Tendenz, immer mehr Zeit als Lernzeit zu gestalten . …
Der Besuch von Ganztagsangeboten verringere zudem die Zeit für gemeinsame Aktivitäten mit Freunden oder für außerschulische Aktivitäten. Damit könne eine Reduzierung der Vielfalt sozialer Beziehungen ebenso einhergehen wie eine Überlastung durch das Aufrechterhalten von außerschulischen Aktivitäten. …
Ob derartige Befürchtungen zutreffen oder Ganztagsangebote vor allem auch von Kindern und Jugendlichen als Bereicherung erfahren werden, lässt sich letztlich nur aus der Perspektive der Schüler/innen beurteilen. …
Schlussfolgerungen, Handlungsempfehlungen und Forschungsdesiderate
Die Ganztagsschule hat bislang sicherlich nicht dazu geführt, dass alle Schüler/innen an allen Wochentagen bis in den späten Nachmittag in der Schule bleiben. Sie ist also nicht eine zeitlich ausgedehnte Unterrichtsschule, die die außerschulischen Zeitkapazitäten der Kinder und Jugendlichen allzu stark einschränken. … Das Angebot für ältere Schüler/innen scheint nach wie vor eingeschränkter zu sein, als für jüngere. Dafür spricht die eingeschränkte Zahl der Tage, an denen für die Schüler/innen höherer Klassenstufen überhaupt ein schulisches Angebot vorhanden ist. Dass insbesondere Schulen, die die ihnen zur Verfügung stehenden materiellen und personellen Mittel als ihrem Konzept weniger angemessen einschätzen, eine in der 9. Klasse vergleichsweise niedrige Teilnahmequote haben, verweist darauf, dass ein breites Angebot für alle Schüler/innen durch die Ausstattung der Schulen restringiert wird. Auch aktuell ist die Ausstattung der Ganztagsschulen eher problematisch. Ganztagsschulen sollten sich nicht wegen knapper Mittel für eine altersspezifische Schwerpunktsetzung im Angebot entscheiden (müssen).
Eine solche Entwicklung würde das hier beschriebene Teilnahmeverhalten der Schüler/innen eher verstärken, denn abschwächen. Das gilt umso mehr, als eine mit steigendem Alter der Kinder und Jugendlichen tendenziell abnehmende Beteiligung an schulischen und außerschulischen Angeboten zwar für den deutschsprachigen Raum charakteristisch zu sein scheint; der Blick auf … Befunde aus den USA zeigt, dass dies keineswegs ein universelles Phänomen ist.
… In der Bundesrepublik sind schulische Ganztagsangebote stärker auf die Schule bezogen und vieldeutiger angelegt: Betreuungsangebot, Freizeitaktivität, Unterstützungsangebot für das schulische Lernen und über den Unterricht hinausgehende Lerngelegenheit. Insofern bleibt es den Schüler/innen nicht nur selbst überlassen, wie sie den Ganztag sehen und damit auch bewerten.
Die … Befunde zu den Teilnahme- und Nichtteilnahme-Gründen der Schüler/innen deuten darauf hin, dass Schüler/innen die Ganztagsangebote sowohl als Ort sozialer Gemeinschaft, aber auch als Ort des Lernens sehen. Das Zusammensein mit Freunden oder Mitschü-ler/innen ist ihnen wichtig und wird durchaus geschätzt, kann aber leicht in Konkurrenz zu den Freunden und Bekannten außerhalb der Schule treten. Die relativ hohen Zustimmungswerte zum Nicht-Teilnahmegrund „Weil ich keine Unterstützung (z. B. bei den Hausaufgaben) brauche“, deutet darauf hin, dass in Ganztagsschulen eher freizeitorientierte und eher unterrichtsunterstützende Angebote vorherrschen. Damit schöpfen sie weder das Potenzial der Lernbereitschaft ihrer Schüler/innen noch die Möglichkeiten alternativen Lernens aus. …
Sehr deutlich wurde, dass ältere Schüler/innen andere Themen favorisieren bzw. bestimmte Themen für sie erst in diesem Alter an Relevanz gewinnen wie z. B. Angebote in den Bereichen Computer/Video/Medien oder im Bereich soziales Lernen und Engagement. …
Kinder und Jugendlichen möchten zwar soziale Gemeinschaft erfahren und dort zusätzlich etwas lernen, in ihrer Bewertung der Angebote wird jedoch deutlich, dass insbesondere ältere Schüler/innen in den Angeboten einen eher geringen individuellen Lernnutzen erfahren. … Jedoch ist weniger das Alter der Kinder und Jugendlichen von Bedeutung, als die von ihnen wahrgenommen Qualität der Angebote: Interessante, motivierende und partizipativ gestaltete Angeboten haben einen positiven Einfluss auf die von den Schüler/innen wahrgenommen Erfahrungen zu sozialer Integration und Lernnutzen. …
Das Moment der Freiwilligkeit bzw. der Wahl ist im Hinblick auf eine damit einhergehende ungleiche Teilnahme einerseits problematisch, andererseits entfalten Ganztagsangebote vor allem dann ihr volles Potenzial, wenn Kinder und Jugendliche sich aus freien Stücken für sie entscheiden. Schulen, die sich vor allem deshalb, weil sie eine sozial selektive Teilnahme verhindern wollen, für verbindliche Formen der Teilnahme entscheiden, sind daher besonders gefordert, ihre Schülerschaft in die Ausgestaltung der Angebote einzubeziehen und vom Ganztag zu überzeugen. „
Die Expertise in vollem Textumfang entnehmen Sie bitte dem Anhang.
Quelle: DJI
Dokumente: StEG_Expertise.pdf