Bildungssystem kommt der Nachfrage nicht nach

Auszüge aus dem IAQ-Standpunkt „Bildungssystem hält nicht Schritt mit Nachfrage“ von Gerhard Bosch:
“ (…) Vor rund 20 Jahren stieg die Arbeitslosenquote der gering Qualifizierten auf über 20%. Seitdem stagniert sie mit leichten Schwankungen auf diesem hohen Plateau. Das sollte sich mit den Hartz-Gesetzen grundlegend ändern. Durch Lohnsenkungen am unteren Ende sollten die Löhne der gering Qualifizierten an ihre niedrige Produktivität angepasst werden, um so ihre Einstellung für die Unternehmen ökonomisch wieder attraktiv zu machen. Diese in abstrakten Modellen so elegant abgeleitete Lösung funktionierte in der Praxis jedoch nicht. Obwohl die gering Qualifizierten deutlich billiger wurden, stellten die Unternehmen noch weniger von ihnen ein, als zuvor. Stattdessen wurden aber viele gut qualifizierte Beschäftigte schlechter als zuvor bezahlt. Der wachsende Niedriglohnsektor in Deutschland wurde also nicht zum erhofften Auffangbecken einfacher Arbeit. Inzwischen sind mit wachsender Tendenz 75,4 % der Niedriglöhner qualifiziert. Von diesen 75,4 % haben 66,8 % eine berufliche und 8,6 % sogar eine akademische Ausbildung. Auch die kräftige Beschäftigungszunahme der letzten Jahre ist an den gering Qualifizierten fast spurlos verbeigegangen. Qualifikationsprobleme lassen sich offensichtlich weder mit Lohnsenkungen, noch mit Wachstum lösen, sondern wir müssen endlich unsere Hausaufgaben im Bildungssystem machen.

Diese Hausaufgaben sind deutlich umfangreicher als in der Vergangenheit, da sich das Einstellungsverhalten der deutschen Unternehmen in den letzten 20 Jahren drastisch verändert hat. (…) Selbst in den einfachen Tätigkeiten sind heute mehrheitlich Arbeitskräfte mit einer Berufsausbildung beschäftigt, da auch hier die Anforderungen gestiegen sind. Die spracharmen Muskeltätigkeiten sind fast verschwunden und die verbleibenden einfachen Tätigkeiten erfordern in der Industrie zunehmend Technikkenntnisse und Umgang mit abstrakten Symbolen wie etwa in der automatisierten Lagerhaltung. Für einfache Dienstleistungstätigkeiten ist Kommunikationsfähigkeit gefordert – oft auch in Englisch.

Für An- und Ungelernte ist der Sprung in die Stammbelegschaften vor allem in den größeren Unternehmen mit ihren formalisierten Einstellungsverfahren kaum noch zu schaffen. Etwas besser sieht es noch in kleineren Unternehmen aus. Dort schaut man sich noch eher den Einzelfall an und gibt auch Beschäftigten ohne Berufsabschluss eine Chance, ihre Potenziale zu entwickeln. Die Bedeutung von Facharbeit ist in Deutschland wegen des guten Berufsausbildungssystems besonders ausgeprägt. (…)

Unser Bildungssystem hält allerdings nicht Schritt mit der steigenden Nachfrage nach Fachkräften und „produziert“ stattdessen am Markt vorbei zu viele Jugendliche ohne Berufsabschluss. Das Bundesinstitut für berufliche Bildung (BiBB) und das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) haben in einer Langfristprognose berechnet, dass bei Fortschreibung der gegenwärtigen Bildungstrends das Angebot an gering Qualifizierten zum Jahre 2025 um rund 1,3 Millionen über der erwarteten Nachfrage der Wirtschaft liegen wird. (…)

Wenn sich nichts ändert, wird sich am unteren Rande der Qualifikationshierarchie der Sockel der Langzeitarbeitslosen verfestigen, während auf der anderen Seite Fachkräfte fehlen. Diese Lücke wird man nicht alleine durch Zuwanderung schließen können. Vor allem ist Langzeitarbeitslosigkeit über viele Jahrzehnte erheblich teurer als eine präventive Bildungspolitik, die im Übrigen die beste Arbeitsmarktpolitik ist. Eine Trendwende ist nur durch ein Paket von Maßnahmen zu erreichen. Dazu gehören der Ausbau der vorschulischen Erziehung, damit die sprachlichen Voraussetzungen für schulischen Erfolg gelegt werden, eine Verringerung der Zahl der Schulabbrecher, eine Erhöhung der Zahl der Ausbildungsplätze und schließlich auch eine zweite Chance im Erwachsenalter, um einen Berufsabschluss nachholen zu können.“

Der Beitrag ist unter dem Titel „Mismatch – Trendwende erforderlich“ im DSW-Journal 1/2015 des Deutschen Studentenwerks erschienen. Die IAQ-Standpunkte können im Netz gelesen werden www.iaq.uni-due.de/aktuell/newsletter.php

Quelle: IAQ Universität Dusiburg Essen

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