Arbeitsmarktreformen und „Beschäftigungswunder“ in Deutschland

Kernaussagen aus der Studie „Arbeitsmarktreformen und „Beschäftigungswunder“ in Deutschland“ von Matthias Knuth:
„Die zeitliche Koinzidenz legt es nahe, die Arbeitsmarktreformen als ursächlich für die Trendwende am deutschen Arbeitsmarkt anzusehen und Kritik an ihren negativen Nebenfolgen mit dem Verweis auf ihre Wirksamkeit in der Hauptsache zurückzuweisen. Tatsächlich jedoch ist die Wirkung der Arbeitsmarktreformen sehr viel geringer als allgemein angenommen… Sowohl in der innerdeutschen Debatte als auch in der internationalen Wahrnehmung gibt es die nahe liegende Tendenz, einen kausalen Zusammenhang zwischen der Reform und der anscheinend grundlegend veränderten Arbeitsmarktsituation in Deutschland herzustellen. Mehr oder weniger offen werden andere Länder gedrängt, das nachzuvollziehen, was Deutschland getan hat. Bevor man derartigen Ratschlägen folgt, sollte man sich jedoch über folgende Fragen klar werden: ## Was genau hat Deutschland denn getan?
## Ist die derzeit günstige Arbeitsmarktsituation in Deutschland überhaupt auf diese Reformen zurückzuführen?
## Welche weniger erwünschten Nebenfolgen hatte die Reform, oder welche weniger zukunftsweisende Trends hat sie unterstützt?
## Welche Ursachen für positive wie negative Entwicklung gibt es außer den Arbeitsmarktreformen?
Der Rückgang der Arbeitslosigkeit ist auf schrumpfende Arbeitskraftreserven, verlangsamte Produktivitätsentwicklung und die Verteilung des Arbeitsvolumens auf mehr Köpfe zurückzuführen; die Mismatch-Kompenente der Arbeitslosigkeit wurde nicht verringert. Die erstaunliche Performanz des deutschen Arbeitsmarktes in der Krise 2008/2009 beruht auf Konstellationen und Mechanismen, die eher einer Rückbesinnung auf das traditionelle Modell einer „koordinierten“ Volkswirtschaft…zuzurechnen sind als dem neoliberalen Geist der Arbeitsmarktreformen. Aber auch im Negativen waren die Wirkungen der Reform geringer als von ihren Kritikern behauptet: Stagnation der Löhne, zunehmende Lohnungleichheit, wachsender Niedriglohnsektor und die Zunahme atypischer Erwerbsformen liegen zwar durchaus in der Logik der Reformen, begannen jedoch mehrere Jahre vorher, und einige dieser Trends flachten nach den Reformen sogar ab. Als inhaltlich und zeitlich den Reformen zuzuordnende Effekte bleiben Zunahmen bei Leiharbeit und Minijobs…

Atypische Erwerbsformen
Statt eines Beweises für die behauptete Brückenfunktion mehren sich die Hinweise auf exkludierende Effekte atypischer Beschäftigung: Der Rückstand von atypisch Erwerbstätigen bei der Teilnahme an formaler Weiterbildung hat sich im Zeitverlauf vergrößer; er ist bei Leiharbeitnehmern und Minijobbern gravierender als bei befristet oder sozialversicherungspflichtig in Teilzeit Beschäftigten…Leiharbeiter und befristet Beschäftigte fühlen sich zwar besser gesellschaftlich integriert als Arbeitslose, aber schlechter als unbefristet Beschäftigte oder Selbständige…In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass bei entsprechend kurzen Beschäftigungszeiten u.U. gar kein Anspruch auf das versicherungsförmige Arbeitslosengeld mehr erworben wird…oder dass bei niedrigen Verdiensten…das Arbeitslosengeld so niedrig ausfällt, dass ergänzend ALG II bezogen werden muss. In einem Erwerbssystem, in dem Vorstellungen von sozialer Sicherheit, Teilhabe und Gerechtigkeit noch immer stark vom Prinzip der Sozialversicherung Bismarck’scher Prägung bestimmt sind, wird das Angewiesensein auf eine bedürftigkeitsgeprüfte Grundsicherung samt ihren disziplinierenden Elementen als ein Ausschluss von gesellschaftlicher Normalität empfunden.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Benachteiligung durch atypische Beschäftigungsformen die Vorteile eines etwaigen erleichterten Zugangs in Arbeit überwiegen. Es gibt keinen Nachweis, dass die Ausweitung dieser Beschäftigungsformen zusätzliches Arbeitsvolumen generiert hat, d.h. dass die Nachfrage nach Arbeitskraft nicht in „Normalform“ befriedigt würde, wenn atypische Formen nicht zur Verfügung stünden. Man wird jedoch konzedieren müssen, dass atypische Beschäftigungsformen zur Fragmentierung der Arbeitskräftenachfrage führen und insofern dazu beitragen, das nachgefragte Arbeitsvolumen auf mehr Personen zu verteilen, also die Erwerbstätigkeit nach Köpfen zu steigern. Leider ist das Projekt einer solidarischen Umverteilung von Arbeit in den 1980er Jahren in Ansätzen stecken geblieben; statt dessen erleben wir nun eine polarisierende und exkludierende Umverteilung.

Was bleibt also von den Arbeitsmarktreformen?
Sie haben offenbar die Übergänge aus Arbeitslosigkeit in Erwerbstätigkeit beschleunigt. Wenn man vom krisenbedingten Einbruch 2009 abstrahiert, dann hat sich der relative Vermittlungserfolg von 2007 bis 2011 insgesamt mehr als verdoppelt, und bei den Älteren war die Entwicklung noch günstiger…Bei den Langzeitarbeitslosen dagegen…fällt die relative Verbesserung 2011/2007 unterproportional aus, d.h. ihre relative Benachteiligung hinsichtlich der Vermittlungschancen hat sich vergrößert. Dieses ist bemerkenswert, weil die Reformen ja insbesondere die Langzeitarbeitslosigkeit auflösen sollten. Die Vermittlung von Langzeitarbeitslosen stößt auf große Schwierigkeiten, weil nur 33 Prozent der Betriebe grundsätzlich zur Einstellung von Langzeitarbeitslosen bereit sind…Der Anteil der Langzeit-Erwerbslosen an allen Erwerbslosen ist seit 2009 nicht mehr gesunken.

Die Beschäftigungschancen der Langzeitarbeitslosen haben sich dabei jedoch nicht verbessert. Der Beschleunigungseffekt beschränkt sich auf die kurzzeitig Arbeitslosen, die noch im Bezug des versicherungsförmigen Arbeitslosengeldes stehen und den Abstieg in die bedürftigkeitsgeprüfte Grundsicherung vermeiden wollen. Aus dem gleichen Grund hat die Angst der Beschäftigten vor Arbeitslosigkeit und damit ihre Konzessionsbereitschaft zugenommen, weshalb sie als Gegenleistung für den Erhalt ihres Arbeitsplatzes zu größeren Opfern bereit sind als zuvor. Dieses hat zur Krisenbewältigung 2008/2009 beigetragen. Zugleich verringert jedoch diese Angst auch die Risikobereitschaft der Arbeitnehmer. Die gesamtwirtschaftliche Fluktuation der Arbeitskräfte ist trotz Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum gesunken. Die durchschnittliche Verbleibsdauer in einem Beschäftigungsverhältnis hat trotz der Zunahme „flexibler“ Beschäftigungsformen zugenommen. Die Reallokationsleistung des deutschen Arbeitsmarktes hat sich folglich verschlechtert. Neben der Einschüchterung durch die Arbeitsmarktreformen dürfte hierbei ursächlich sein, dass die Einstiegslöhne in neu begonnenen Beschäftigungsverhältnissen rückläufig waren.

Die Arbeitsmarktreformen haben folglich dazu beigetragen, dass die Signale veränderter Nachfrage-Angebots-Relationen – sinkendes Arbeitskräftepotenzial bei wachsender Beschäftigung – bei den Marktakteuren bisher nicht angekommen sind und trotz zunehmender Klagen über Arbeitskraftengpässe keinen Niederschlag im Preis für Arbeitskraft finden. Dieses führt zur Abnahme des Rationalisierungsdrucks, zur Verlangsamung der Produktivitätsentwicklung und zur Investitionsschwäche trotz eines Überflusses von Geldkapital.

In seiner Gesamtheit ist der deutsche Weg daher nicht zur Nachahmung zu empfehlen. Das schließt nicht aus, dass einzelne Elemente geeignet sein können, den Ideenvorrat über mögliche Reformoptionen in anderen Ländern zu bereichern.“

Die Studie wurde erstellt im Auftrag des europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses – Gruppe der Arbeitnehmer.

Quelle: Institut Arbeit und Qualifikation Universität Duisburg-Essen

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