Junge Menschen befinden sich quasi im Dauerkrisenmodus. Tom Urig (als Geschäftsführer der BAG KJS derzeit Sprecher des Kooperationsverbundes Jugendsozialarbeit) interviewte für die Zeitschrift Dreizehn den DGB Jugendsekretär Kristof Becker zur Situation von jungen Menschen in Krisenzeiten. Er fragte, wie Ausbildung garantiert werden kann und warum man auch kritisch nach Österreich schauen muss. Becker mahnt angesichts der Inflation, vor allem auch der gestiegenen Wohnkosten, eine Erhöhung der Mindestausbildungsvergütung an. Neben weiteren Entlastungsmaßnahmen, die die Politik auf den Weg bringen muss, nimmt er die Tarifpartner in die Pflicht, um einen tragfähigen Inflationsausgleich zu verhandeln.
Das vollständige Gespräch lesen Sie in der aktuellen Ausgabe der Dreizehn. Ein paar Highlights haben wir für Sie in diesem Beitrag zusammengestellt.
Azubi in Krisenzeiten bedeutet eine große Herausforderung
Wie würden Sie aus Sicht der DGB-Jugend die Situation von Azubis in diesen Krisenzeiten beschreiben?
Kristof Becker: Das ist auf jeden Fall eine große Herausforderung, gerade für uns junge Menschen. Wir sind ja in die Coronapandemie gestolpert und haben zwei wichtige Jahre unserer Jugend praktisch verloren. Wir haben einen Großteil der Zeit zu Hause verbracht und konnten unsere Freunde nicht sehen. Dann in dieser Phase in den Beruf zu starten und eine Ausbildung zu machen, das war für viele schwer. Eine kaufmännische Ausbildung lässt sich mit Einschränkungen noch remote machen, aber schweißen will niemand von zu Hause aus lernen. Trotzdem musste es ja auch in den drei Jahren möglich sein, einen Beruf zu lernen. Und das haben viele junge Menschen auch unter diesen Umständen toll gemacht.
Wenn Sie noch einmal genau drauf schauen, alles wird teurer. Wie können junge Menschen das schaffen?
Die MIAV, also die Mindestauszubildendenvergütung, reicht vorn und hinten nicht. Momentan liegt sie bei 585 Euro im ersten Ausbildungsjahr, aber selbst mit knapp 800 Euro im dritten Jahr tut die aktuelle Entwicklung weh.
Von diesem Geld kann man noch nicht einmal gut in einem subventionierten Kolping-Wohnheim unterkommen. Deshalb muss die Politik jetzt dringend zwei Dinge tun. Die MIAV muss auf 80 Prozent der durchschnittlichen tariflichen Ausbildungsvergütung angehoben werden. Und zweitens, weil auch das die aktuellen Preissteigerungen nicht ausgleichen kann, sind weitere Entlastungsmaßnahmen wichtig. Gerade junge Menschen, nicht nur Auszubildende, sondern auch Studierende sind von den steigenden Preisen besonders betroffen. Und nicht zu vergessen, dass junge Menschen auch deutlich schmälere Gehälter bekommen als Menschen, die länger im Berufsleben sind. Ich frage mich schon, warum für Studierende nur 200 Euro Heizkostenzuschuss vorgesehen sind, während sonst 300 Euro ausgezahlt werden. Für die Studis kostet die Butter ja auch nicht weniger. Die Politik muss hier deutlich nachbessern, um die Situation abzufedern – wir fordern 500 Euro und für jedes Kind zusätzlich 100 Euro. Aber auch Tarifverhandlungen spielen eine Rolle. Wir werden sehen, was in den Runden herauskommt, die die nächsten Monate stattfinden. (…)
Es gibt einen Anstieg bei jungen Erwachsenen zwischen 20 und 34 Jahren ohne Berufsabschluss, 2,3 Millionen junge Menschen sind es, die keinen Abschluss haben. (…) Wir als Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit fordern die Ausbildungsgarantie, die Gewerkschaften sowieso und nun steht sie auch im Koalitionsvertrag. Wie soll aus Ihrer Sicht eine Ausbildungsgarantie gestaltet werden?
Im Koalitionsvertrag steht eine Garantie drin, aber die Umlage fehlt. Das ist ein Problem, weil damit völlig offenbleibt, wie die Ausbildungsgarantie finanziert werden soll. Der Koalitionsvertrag ist an der Stelle leider sehr schwammig. Wir sagen, es braucht dringend mehr betriebliche Ausbildungsplätze und es müssen sich auch wieder mehr Betriebe an der Ausbildung beteiligen. Denn heute bildet nicht einmal mehr jeder fünfte Betrieb aus, Tendenz sinkend. Auch wenn es durchaus Unterschiede in den einzelnen Bundesländern gibt, noch nie war die Lage so schlecht wie während Corona. Die Zahlen der abgeschlossenen Ausbildungsverträge steigen zwar jetzt mini- mal, aber das Vorkrisenniveau ist längst nicht erreicht. (…)
Beim Thema Ausbildungsgarantie wird oft nach Österreich geschaut. Bertelsmann zum Beispiel fordert, das österreichische System zu übernehmen. Das wird aber nicht funktionieren. Die Ausbildungssysteme scheinen sehr gleich zu sein, aber es gibt große Unterschiede. Zum Beispiel macht dort mit Matura fast niemand eine Ausbildung, in Deutschland ist es dagegen üblich, mit Abitur eine Ausbildung zu beginnen. Die Österreicher_innen schaffen es aber, dass zwischen Schule und erstem Berufsabschluss niemand unter die Räder kommt, denn dort ist der Arbeitsmarktservice, bei uns ist das die Bundesagentur für Arbeit, stark in die Berufsorientierung eingebunden. Daran sollten wir uns hier orientieren, denn wir müssen wissen, wo die jungen Menschen sind. (…) Klar ist für uns aber auch: An einem gesetzlichen Anspruch auf einen Ausbildungsplatz – denn das ist die Ausbildungsgarantie – führt kein Weg vorbei.
Ausbildung ja, aber in Teilzeit – warum ist der DGB so zurückhaltend?
Teilzeitberufsausbildung ist für uns auch ein Thema. Alle reden über Work-Life-Balance, für uns geht es dabei noch um etwas mehr. Nämlich auch junge Menschen in den Blick zu nehmen, die von Beeinträchtigungen betroffen sind, die sich nicht acht Stunden am Tag konzentrieren können, oder die Alleinerziehend sind oder Angehörige pflegen. Teilzeitberufsausbildung ist damit also auch ein Instrument der Inklusion. Wie steht die DGB-Jugend zur Teilzeitausbildung und zur Flexibilisierung von Ausbildungen?
Über die Teilzeitausbildung wurde bei der Reform des Berufsbildungsgesetzes lange diskutiert. Wir waren und sind da eher zurückhaltend, weil eine Teilzeitausbildung leider auch so gestaltet werden kann, dass sie für junge Menschen eben nicht vorteilhaft ist. Zum Beispiel regelt das Berufsbildungsgesetz, dass die Vergütung an den Teilzeitanteil geknüpft ist. Während der Ausbildung gibt es aber kein klassisches Gehalt, sondern eine Vergütung, die den Auszubildenden eine gewisse Unabhängigkeit von ihren Eltern gibt. Daher ist es schon problematisch, wenn junge Menschen mit Teilzeitausbildung nur eine Teilvergütung bekommen. Wenn die Teilzeit Menschen ermöglicht, einen voll qualifizierten Berufsabschluss zu machen, ist das gut. Schwierig ist allerdings die zeitliche Aufteilung zwischen Berufsschulanteil und der Zeit im Betrieb. Da gilt es schon, sehr genau hinzuschauen und individuell zu entscheiden, ob so eine Ausbildung sinnvoll ist. Aus meiner Erfahrung in der Zusammenarbeit mit den Jugend- und Auszubildendenvertretungen weiß ich, dass diese Möglichkeit kaum genutzt wird.
Es gibt seit langem ja Flexibilität bei den Berufen, bei denen man die Ausbildung regulär in drei Jahren macht oder, je nach anerkannter Vorbildung, bereits nach zwei Jahren abschließen kann. Alleinerziehende etwa sind meist bemerkenswert gut organisiert und haben einen klaren Zeitplan. Das ist bei Menschen mit Beeinträchtigung anders. Ich stimme klar zu, dass man differenzieren muss. Aber dazu brauchen wir auch verschiedene Instrumente, so dass keiner abgehängt wird. (…)
Auch für Menschen mit Beeinträchtigungen gibt es gute Instrumente, damit sie im ersten Arbeitsmarkt arbeiten können. Sicherlich muss man da auch regelmäßig schauen, ob noch etwas verbessert werden kann. Wichtig ist aber immer, dass diese Instrumente nicht missbräuchlich genutzt werden. Deshalb beobachten wir die Teilzeitausbildung mit Sorge. (…)
Neue Konzepte für die Berufsorientierung erforderlich?
In Ihrem Ausbildungsreport haben mich die folgenden Zahlen besonders erschreckt. Fast drei Viertel der Befragten gaben an, dass ihnen an der Schule kaum bei der Berufswahl geholfen wurde. Überdies haben nicht einmal 29 Prozent der Befragten die Berufsberatung der Agentur für Arbeit genutzt. Und von ihnen gaben außerdem 40,5 Prozent an, dass sie ihnen wenig oder gar nicht geholfen hat. Jetzt habe ich (…) eine Expert*innenbefragung der Bertelsmann-Stiftung und der deutschen Kinder- und Jugendstiftung gelesen. Die große Mehrheit der Expert*innen sagt, die Berufsorientierung müsste viel stärker in der Aus- und Weiterbildung für Lehrkräfte verankert werden. Das bedeutet, sowohl bei den Arbeitsagenturen als auch in den Schulen scheint etwas nicht richtig zu laufen. Es braucht also bessere Fort- und Ausbildungen. Stimmen denn da überhaupt die Konzepte aus Ihrer Sicht noch?
Es besteht auf jeden Fall Handlungsbedarf. Ich habe schon beschrieben, dass die Schüler*innen weniger zufrieden sind, je höher ihr Schulabschluss ist. Das macht mir Sorgen, weil alle eine gute Beratung bekommen müssen. Auch die Kolleg*innen an der Schule, die Lehrkräfte brauchen in dieser Frage mehr Unterstützung und bessere Qualifizierung. Oft gibt es keine Schulsozialarbeit. Auch das ist ein wichtiger Punkt, denn Schulsozialarbeit kann da unterstützen. (…)
Bei der Bundesagentur für Arbeit handelt es sich um Angebote, die jede und jeder freiwillig wahrnehmen kann und auch sollte. Nur ist die BA damit eben offensichtlich nicht sichtbar genug. Zu wenige junge Menschen finden den Weg dorthin. Außerdem sollte die Berufsorientierung unter einem Dach stattfinden. Es kann nicht sein, dass junge Menschen dafür 20 Stationen anlaufen müssen. (…)
Jede*r macht eine Ausbildung in dem Beruf, den er oder sie möchte
Nehmen wir einmal an, die Bundesregierung würde ab sofort alles richtig machen in Sachen Berufsausbildung, die richtigen Dinge auf den Weg bringen. Woran würdet Ihr es als DGB-Jugend merken und woran würden es die jungen Menschen merken?
2,3 Millionen junge Menschen haben heute keine Berufsausbildung – diese Zahl würde deutlich niedriger sein. Und aus meiner Sicht darf niemand ohne berufsqualifizierenden Abschluss sein. Pro Jahr sind es 230.000 junge Menschen, die nach ihrem Schulabschluss keinen Ausbildungsplatz erhalten und die in einer Warteschleife ohne Perspektive sind. Wenn die Politik alles richtig machen würde, dann wären wir an einem Punkt, wo jeder Mensch eine Perspektive hat auf einen Abschluss, auf ein gutes Berufsleben, in dem Beruf, der ihm oder ihr Spaß macht. Und dafür ist eine umlagefinanzierte Ausbildung und Ausbildungsgarantie der richtige Weg. Das wäre ein sehr großer Schritt in die richtige Richtung, da bin ich mir sicher. Damit jede*r in einem Beruf, den er oder sie möchte, eine Ausbildung macht.
Quelle: Im Gespräch mit Kristof Becker. in: Dreizehn. Zeitschrift für Jugendsozialarbeit Ausgabe 28/2022, 15. Jahrgang. Seite 25 – 29