Michaela Glaser und Dr. Peter Rieker von der Arbeitsstelle Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit beim Deutschen Jugendinstitut (DJI) begleiten und evaluieren zehn Praxisprojekte gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. In ihrem Beitrag ‚Forschung zur pädagogischen Praxis gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit‘ formulieren sie vorläufige Thesen über Konzepte und Praxis ‚interkulturellen Lernens‘. Auszüge: “ … In den zurückliegenden Jahren hat sich die Arbeitsstelle vor allem mit Fragen der pädagogischen Auseinandersetzung mit rechtsextrem bzw. fremdenfeindlich orientierten Jugendlichen beschäftigt. … Gegenwärtig stehen Ansätze interkulturellen Lernens im Fokus der Aufmerksamkeit. … In der Untersuchung zu Ansätzen und Erfahrungen interkulturellen Lernens ging es zunächst darum, sich einen Überblick über das Feld zu verschaffen und relevante Fragestellungen für die Untersuchung zu ermitteln. … Schließlich wurden ca. zehn Projekte ausgewählt, die unterschiedliche Handlungsfelder und Lernarrangements interkulturellen Lernens präsentieren und die ausführlich begleitet werden sollen. Dafür werden Interviews mit Pädagogen/-innen und jugendlichen Zielgruppen, teilnehmende Beobachtungen sowie Workshops mit den Projektmitarbeitern/-innen durchgeführt. Da die Begleitung der Projekte noch am Anfang steht, lassen sich an dieser Stelle erst vorläufige Thesen und Beobachtungen formulieren, die eine erste Einschätzung des Untersuchungsfeldes darstellen. … Interkulturelles Lernen – ein weiter Begriff Bei der Frage, wie fremdenfeindlichen und rechtsextremen Orientierungen bei Kindern und Jugendlichen vorgebeugt werden kann, richten sich politische und pädagogische Hoffnungen zunehmend auf pädagogische Angebote des so genannten „interkulturellen Lernens“: Diese sollen Vorurteile abbauen, das wechselseitige Verständnis fördern und einen kompetenteren Umgang mit der Einwanderungsgesellschaft ermöglichen – und auf diese Weise fremdenfeindlichen Tendenzen in unserer Gesellschaft entgegenwirken. Der Begriff „interkulturelles Lernen“ kann in der Praxis jedoch für ganz unterschiedliche pädagogische Angebote stehen. Das ist zum einen darauf zurückzuführen, dass in der Fachdiskussion unterschiedliche Definitionen interkulturellen Lernens existieren, die mit verschiedenen pädagogischen Zielstellungen verbunden sind. Die zentrale Frontstellung verläuft zwischen Ansätzen, die auf kulturelle Differenz und daraus resultierende Ängste und Missverständnisse rekurrieren und antirassistischen Positionen, die sich auf Diskriminierungspraktiken und -strukturen in der Einwanderungsgesellschaft konzentrieren. Zum anderen werden häufig auch solche Angebote der Jugend- und Jugendsozialarbeit als interkulturelles Lernen bezeichnet, die auf spezifische Interessen und Bedarfe von Migranten gerichtet sind und sich nicht oder nur am Rande an Jugendliche der Mehrheitsgesellschaft richten – die zwar nicht die einzige, aber doch eine wesentliche Zielgruppe sind, wenn es um die pädagogische Auseinandersetzung mit fremdenfeindlichen Tendenzen bei Jugendlichen geht. Es ist also keineswegs selbstverständlich, dass unter dem Etikett „interkulturelles Lernen“ firmierende Projekte die eingangs genannte Zielstellung auch tatsächlich verfolgen bzw. die hierfür relevanten Zielgruppen erreichen. Die Unklarheit darüber, welche pädagogischen Angebote jeweils als interkulturelles Lernen gelten, erschwert nicht nur eine angemessene Einschätzung des Feldes, sondern steht auch einer produktiven Auseinandersetzung über die spezifischen Zielstellungen, Schwierigkeiten und Entwicklungsperspektiven entgegen. Praxisfelder interkulturellen Lernens Interkulturelles Lernen wird in den verschiedenen Handlungsfeldern der Jugendhilfe in sehr unterschiedlicher Weise realisiert bzw. angestrebt. Bei schulergänzenden und außerschulischen Bildungsprojekten kommen häufig speziell entwickelte Lehrmaterialien oder Trainings zum Einsatz, d.h. es spielten mehr oder weniger stark vorstrukturierte Lehr-Lern-Arrangements eine große Rolle. Hier setzt man auch vorrangig auf die Vermittlung der Lerninhalte durch Erwachsene, oft auch durch Experten/-innen mit Migrationshintergrund. In der offenen wie auch in der verbandlichen Jugendarbeit setzt man dagegen vor allem auf die Lerneffekte, die interkulturelle Begegnungen von (gleichaltrigen) Jugendlichen haben können. Anders als in den westdeutschen Ballungszentren, in denen Migranten/-innen inzwischen zu den „etablierten“ Nutzergruppen offener Jugendeinrichtungen gehören, geht es in ländlicheren Gebieten und insbesondere auch in den ostdeutschen Bundesländern vor allem darum, Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen und Einrichtungen für Jugendliche unterschiedlicher Herkunft zu öffnen. Bemühungen der Jugendverbände konzentrieren sich ebenfalls darauf, die bisher kaum vertretenen Jugendlichen nicht-deutscher Herkunft stärker in ihre Strukturen einzubinden. Dabei sehen sich solche Bestrebungen häufig mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass die Zielgruppen beider Seiten solche Angebote nur sehr zögerlich wahrnehmen bzw. diese von einer ethnischen Gruppe „besetzt“ werden. Aber auch die multikulturell geprägten westdeutschen Einrichtungen werden häufig nur von bestimmten Jugendlichen besucht hier sind es Fachleuten zufolge häufig die einheimischen Jugendlichen sowie die Aussiedlerjugendlichen, die in diesen Einrichtungen unterrepräsentiert und zum Teil auch gar nicht vertreten sind. Wissenschaft – Praxis: Ein schwieriges Verhältnis Unter wissenschaftlichen Expert/inn/en ist die Einschätzung weit verbreitet, dass der Stand der Fachdebatte in der Praxis nur ungenügend rezipiert wird und dort nicht selten Positionen und Ansätze vertreten werden, die aus theoretischer Perspektive als überholt oder gar als problematisch eingeschätzt werden müssen. Diese Bedenken gelten vor allem dem Verständnis von bzw. dem Umgang mit kultureller Differenz: Viele Angebote – so die Befürchtung – befördern kulturalisierende Sichtweisen, die die Unterschiede zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen verfestigen und deren Verständigung und Zusammenleben erschweren. Es existiert jedoch nur sehr wenig systematisches Wissen darüber, wie sich die Praxis interkulturellen Lernens tatsächlich gestaltet. Insbesondere zum außerschulischen Bereich liegen bisher kaum Untersuchungen und Dokumentationen vor, so dass sich nicht begründet entscheiden lässt, ob und inwiefern diese Befürchtungen berechtigt sind. Bei Expertengesprächen und Projektbesuchen entstand aber auch der Eindruck, dass es umgekehrt auch an einem Transfer von Erfahrungen – Anforderungen, Schwierigkeiten und Möglich-keiten der Arbeit betreffend – aus der Praxis in die Theorie mangelt. Das gilt insbesondere für die Arbeit mit so genannten „schwierigen“ Zielgruppen. So spielen bildungsferne Jugendliche oder Jugendliche mit ausgeprägt fremdenfeindlichen Einstellungen in den konzeptionellen Überlegungen der theoretischen Debatte so gut wie keine Rolle, während die Praxis interkulturellen Lernens doch tagtäglich mit ihnen zu tun hat. Zusammengenommen entsteht jedenfalls der Eindruck, dass der Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis kaum entwickelt ist. Dieser fehlende Austausch steht nicht nur einer fachlich fundierten Weiterentwicklung von Angeboten im Wege auf diese Weise geht auch wertvolles Erfahrungswissen verloren, das z.B. über die pädagogische Ausbildung wieder der Praxis zugute kommen könnte. Die Etablierung von institutionalisierten Formen des Austauschs, beispielsweise in Form von Fachpublikationen und Diskussionsforen, wäre eine wichtige Voraussetzung für eine Klärung des Feldes und für die Bestimmung der Chancen und Schwierigkeiten der pädagogischen Arbeit. Interkulturelles Lernen in Ostdeutschland – ein weißer Fleck in der Fachdiskussion Als besonders entwicklungsbedürftig erscheint das Thema „interkulturelle Bildung in den neuen Bundesländern“, das in der Fachdiskussion nicht die notwendige Aufmerksamkeit findet. Interkulturelles Lernen findet in Ostdeutschland unter besonderen Bedingungen statt, denen die in westlichen Einwanderungsgesellschaften entwickelten Konzepte interkulturellen Lernens nur bedingt gerecht werden. Dazu gehören DDR-spezifische Erfahrungen mit Migration, ein nach wie vor geringer Migrantenanteil und damit der fehlende Alltagskontakt zu Menschen mit Migrationshintergrund, aber auch das Erleben des Systemumbruchs und seiner Folgen. Letztere sind nicht nur als spezifische Schwierigkeit für die interkulturelle Arbeit im Osten Deutschlands zu sehen, sondern sie bieten aufgrund ähnlich gelagerter Ausgrenzungs- und Fremdheitserfahrungen auch Ansatzpunkte für die Arbeit in diesem Feld. Wünschenswert wäre deshalb eine „interkulturelle Sensibilisierung“ der bisher weitgehend auf eine westdeutsche Problemwahrnehmung zentrierten Konzepte und Fachdiskussionen für die Realitäten und Anforderungen in den ostdeutschen Bundesländern. Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass die hier formulierten Einschätzungen der weiteren, auch empirischen Überprüfung bedürfen. Eine Tendenz zeichnet sich auf Basis der vorliegenden Informationen jedoch bereits ab: Für Interkulturelles Lernen gilt vielleicht in noch stärkerem Maße als für andere Bereiche der Jugendarbeit gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus, dass ihre Realisierung sehr stark auf Sonderfördermittel (Aktionsprogramme von Bund und Ländern, Stiftungsgelder) angewiesen ist. Fast alle Angebote, die im Rahmen der Recherche ermittelt werden konnten, werden aus solchen zeitlich befristeten Projektmitteln finanziert, die Regelförderung spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Es kann vermutet werden, dass die fehlende Absicherung der Arbeit prekäre Konsequenzen für die Kontinuität, die Entwicklungsmöglichkeiten und die Nachhaltigkeit der pädagogischen Angebote interkulturellen Lernens hat. “ Kontakt: Michaela Glaser und Dr. Peter Rieker, Arbeitsstelle Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit beim Deutschen Jugendinstitut (DJI), Außenstelle Halle, www.dji.de/1_rechts
http://www.entimon.de/content/e2/e453/e635/entimon-newsletter_03.pdf
Quelle: Michaela Glaser und Dr. Peter Rieker: ‚Forschung zur pädagogischen Praxis gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit‘, in: entimon newsletter, Ausgabe 3, Dez. 2004