Höheres ALG II und Kindergrundsicherung: Teure Vorschläge mit erheblichen Nebenwirkungen

VERMEIDUNG VON ARMUT DURCH STAATLICHE TRANSFERLEISTUNGEN Neben allgemeinen Gerechtigkeitsaspekten dreht sich die aktuelle Debatte und daraus resultierende politische Forderungen vor allem um die Frage, ob und wie staatliche Transferleistungen zur Vermeidung von Armut, insbesondere von Kinderarmut, beitragen können. Der IAB-Kurzbericht von Michael Feil und Jürgen Wiemers untersuchte die Kosten sowie zu erwartende Anreizwirkungen von einem höheren ALG II-Regelsatz und der Einführung einr Kindergrundsicherung. Auszüge aus der IAB-Untersuchung: “ … HÖHERS ALG II – SIMULIERTE WIRKUNGEN Der erste Vorschlag sieht eine Erhöhung der ALG-II-Regelleistung von 351 auf 420 EUR vor. Damit wird auch dem Ziel der Familienförderung und der angemessenen Versorgung von Minderjährigen Rechnung getragen. Denn zwischen der Höhe des ALG II und der sozialen Mindestsicherung von Kindern besteht ein unmittelbarer Zusammenhang: Das Sozialgeld, wie die Sozialleistungen an die nicht erwerbsfähigen Familienmitglieder heißen, beträgt 60 bzw. 80 Prozent der ALG-II-Regelleistung. Die derzeitige Regelleistung von 351 EUR (seit 1. Juli 2008) deckt nach Ansicht von Kritikern, z.B. der Nationalen Armutskonferenz, das soziokulturelle Existenzminimum in Deutschland nicht mehr ab. Kritisiert wird vor allem die unzureichende Anpassung an die allgemeine Preisentwicklung. Aber auch die Methode zur Ermittlung des Existenzminimums ist umstritten. Eine Studie des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes beziffert eine angemessene Regelleistung auf 420 EUR. Dieses Niveau, das u.a. auch von Bündnis 90/Die Grünen und der Linkspartei gefordert wird, liegt den IAB-Simulationsrechnungen zugrunde. * Anhebung des ALG-II-Regelsatzes kostet 10 Mrd. EUR … Die Ausgaben für die höhere Regelleistung selbst (ALG II) steigen um etwa 3,8 Mrd. EUR auf gut 14 Mrd. EUR. Daneben sind ca. 3 Mrd. EUR zusätzlich für die Übernahme von Mieten und Heizkosten (KdU) aufzubringen. Den Ausgaben stehen Einsparungen beim Wohngeld (800 Mio. EUR) und beim Kinderzuschlag (86 Mio. EUR) gegenüber. Zusätzlich belastend wirkt das niedrigere Einkommensteueraufkommen (minus 3 Mrd. EUR), das aus der notwendigen Erhöhung des Grundfreibetrags im Zuge des gestiegenen Existenzminimums resultiert. Insgesamt ergibt sich eine Belastung aller öffentlichen Haushalte von ca. 10 Mrd. EUR. Unberücksichtigt bleiben Veränderungen auf der Einnahmen- oder Ausgabenseite, die durch wahrscheinliche Verhaltensreaktionen verursacht werden. … Die Erhöhung der Regelleistung weitet den Kreis der Anspruchsberechtigten bei den „Kosten der Unterkunft“ um knapp 2 Mio. Personen aus. Die Zahl der Wohngeldempfänger sinkt dadurch um etwa 1,15 Mio. Sie wechseln sozusagen vom Wohngeldamt zur Arbeitsgemeinschaft. Etwa 800.000 Personen erhalten darüber hinaus auch noch einen Teil der Regelleistung. Dieser Personenkreis besteht überwiegend aus bereits heutigen „Hartz-IV-Empfängern“, deren Ansprüche durch die Regelsatzanhebung ausgeweitet werden und nun über die Übernahme der KdU hinausgehen. Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu beachten, dass der mit „Status Quo“ bezeichnete Ausgangszustand die bereits beschlossenen Gesetzesänderungen (Wohngeld und Kinderzuschlag) enthält. Das ist insbesondere für die Zahl der Wohngeldempfänger von Bedeutung, die im Zuge der Wohngelderhöhung deutlich zunehmen wird … * Starke negative Anreize Die zusätzlichen Kosten und die Zahl der Neu-Anspruchsberechtigten verdeutlichen die Großzügigkeit der vorgeschlagenen Anpassung. Es sollte daher nicht verwundern, wenn auch die potentiellen Verhaltensänderungen relativ hoch ausfallen. Der negative Arbeitsangebotseffekt beläuft sich auf etwa -200.000 Personen (gemessen in Vollzeitäquivalenten). Der gesamte Anreizeffekt setzt sich aus dem Rückzug vom Arbeitsmarkt von 165.000 Personen und einer größeren Präferenz für kürzere Arbeitszeiten zusammen. Die höhere Regelleistung veranlasst vor allem in Vollzeit Beschäftigte nicht länger am Erwerbsleben zu partizipieren. Hierbei handelt es sich um Personen, deren Erwerbseinkommen nur wenig über den jeweiligen ALG-II-Zahlungen (inkl. Warmmiete) liegen. … Der Rückgang des Arbeitsangebotes dürfte zu einem Rückgang der Beschäftigung in ähnlichem Umfang führen und daher zu zusätzlichen fiskalischen Kosten, die in den zuvor genannten Zahlen nicht berücksichtigt sind. Überschlägig dürfte es sich um einen Betrag zwischen 2 und 3 Mrd. EUR handeln. * Verteilungswirkungen Ein Ausgabevolumen von 10 Mrd. EUR dürfte ohne eine Erhöhung der Staatseinnahmen oder Ausgabenkürzungen nicht zu bewältigen sein. Bei der Berechnung der Verteilungseffekte wird daher angenommen, dass zum Ausgleich des Bundeshaushalts ein Zuschlag auf die Einkommensteuer erhoben wird, ähnlich dem Solidaritätszuschlag. … * Armutsrisiko sinkt Die Regelsatzerhöhung senkt tendenziell die Einkommensarmut. Die Quantifizierung dieses Effekts hängt jedoch entscheidend an ihrer Definition. Armut kann man entweder absolut oder relativ definieren. Ein absoluter Armutsbegriff liegt z.B. meistens der Messung von Armut in Entwicklungsländern zugrunde. In entwickelten Volkswirtschaften wird Armut dagegen zumeist relativ definiert. Bei der Untersuchung der relativen Armutshäufigkeit werden mindestens drei Definitionen von Armut unterschieden. Die in der Regel in offiziellen Dokumenten (z.B. Bundesregierung oder EU) verwendete Definition wird in der Wissenschaft als „Armutsrisiko“ oder „Armutsgefährdung“ bezeichnet. Technisch handelt es sich um den Anteil der Wohnbevölkerung, der weniger als 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Einkommens (Median-Nettoäquivalenzeinkommen) zur Verfügung hat. Von „relativer Einkommensarmut“ spricht man, wenn das Nettoäquivalenzeinkommen weniger als 50 Prozent, und von „Armut“, wenn es weniger als 40 Prozent des Medians beträgt. … Insgesamt sinkt der Anteil von Armut bedrohter Personen um 2 Prozentpunkte. Damit könnte der von 2001 bis 2005 beobachtbare Anstieg der Quote (+ 3 Prozentpunkte …) zu etwa zwei Dritteln rückgängig gemacht werden. Haushalte mit Kindern profitieren in überdurchschnittlichem Maß von der höheren Regelleistung. So sinkt die Armutsrisikoquote für die Gruppe der Alleinerziehenden (mindestens ein minderjähriges Kind) von 22,5 Prozent auf 15 Prozent. Bei Paarhaushalten mit Kindern reduziert sie sich von 6,1 Prozent auf 3,6 Prozent. … KINDERGRUNDSICHERUNG SIMULIERTE WIRKUNGEN Der zweite untersuchte Reformvorschlag ist eine (bedingungslose) Kindergrundsicherung für jedes minderjährige Kind. Einerseits entspricht eine Kindergrundsicherung einer deutlichen Anhebung des Kindergelds. Andererseits soll damit Kindern aber auch ein eigener Rechtsanspruch eingeräumt werden. Die Kindergrundsicherung sollte so bemessen sein, dass sie das Existenzminimum des Kindes abdeckt. Da das Existenzminimum eines Kindes steuerlich in Form von Kinderfreibeträgen relevant ist, kann man die Kindergrundsicherung auch als „negative Einkommensteuerkomponente“ auffassen, die dazu führen würde, die progressionsbedingten nterschiede bei der steuerlichen Entlastung zu nivellieren. … Mit einem Betrag von 300 EUR orientiert sich der hier untersuchte Vorschlag an der Untergrenze der verschiedenen Forderungen. … * hohe Kosten Die Kindergrundsicherung verursacht mit gut 18 Mrd. EUR deutlich höhere Nettokosten als die Anhebung der Regelleistung für erwerbsfähige Hilfebedürftige auf 420 EUR. … Die Maßnahme entspricht einer Kindergelderhöhung um annähernd 100 Prozent für Kinder unter 18 Jahren und führt zu entsprechenden Mehrausgaben von ca. 20,7 Mrd. EUR. Da eine Kindergrundsicherung von 3.600 EUR im Jahr die maximal mögliche Steuer entlastende Wirkung der Kinderfreibeträge übersteigt, stehen diesen Ausgaben Mehreinnahmen des Fiskus bei der Einkommensteuer (+ 0,95 Mrd. EUR) gegenüber. Fiskalisch bedeutsamer sind jedoch die Entlastungen bei den Leistungen nach dem SGB II. Hier kommt es zu Einsparungen von insgesamt etwa 2,65 Mrd. EUR. Etwa 440.000 Personen (KdU), darunter ca. 230.000 Kinder, hätten keinen Anspruch mehr auf die Grundsicherung nach SGB II … Allerdings kommt es auch hier, ähnlich wie bei der Anhebung des Regelsatzes, in großem Umfang zum Wechsel ins Wohngeld (+ 33 0.000 Personen). Das hohe zusätzliche Transfervolumen bliebe nach den Simulationsrechnungen demnach nicht ohne Wirkung. Die Zahl der auf Sozialgeld bzw. auf die (teilweise) Übernahme der Warmmiete angewiesenen Minderjährigen würde etwa um 15 Prozent sinken. Dieser Rückgang würde deutlich höher ausfallen, wenn die Regelleistungen im SGB II nicht ebenfalls angehoben werden. Eine unterschiedliche Bemessung des Existenzminimums von Kindern im SGB II und im Bundeskindergeldgesetz dürfte jedoch politisch nicht durchsetzbar sein. * Anreizwirkungen per Saldo praktisch Null Eine Kindergrundsicherung von 300 EUR verändert das gesamtwirtschaftliche Arbeitsangebot praktisch nicht. Zwar sinkt das Arbeitsangebot von beschäftigten Personen mit Kindern leicht, da diese Gruppe in den Genuss eines höheren Haushaltseinkommens kommt und darauf tendenziell mit einer Reduktion der angebotenen Arbeitszeit reagiert. Andererseits beseitigt die Kindergrundsicherung negative Arbeitsanreize durch die im Status Quo vorhandene Differenz zwischen Sozial- und Kindergeld. Nach derzeitigem Recht müssen Eltern bei der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit den „Verlust“ von 57 bzw. 127 EUR an verfügbarem Einkommen je Kind kompensieren, der sich durch die im Vergleich zum Kindergeld (154 EUR/Monat) höheren Regelleistungen (211 bzw. 281 EUR) im Rahmen des SGB II ergibt. Der einheitliche Transfer von 300 EUR je Kind stellt Vollzeit-Arbeitnehmer besser, die in etwa den impliziten SGB-II-Mindestlohn erhalten (können) – verglichen mit der Alternative, keiner bzw. nur einer geringfügigen Beschäftigung nachzugehen. Beide Effekte, der negative Einkommenseffekt und der positive Effekt eines geringeren effektiven Grenzsteuersatzes an der Nahtstelle zwischen Transfer- und eigenem Erwerbseinkommen, sind quantitativ nicht sonderlich bedeutsam. … * Armutsrisikoquote von Haushalten mit Kindern sinkt Hinsichtlich der Verminderung der gesamten Armutsrisikoquote bleibt die Kindergrundsicherung wirkungslos. … Zwar erhöht sich das verfügbare Einkommen von einkommensarmen Haushalten mit Kindern. Dies würde isoliert zu einer Verminderung der Armutsrisikoquote führen. Da die Kindergrundsicherung aber über weite Teile der Einkommensverteilung die Einkommen erhöht, ändert sich die relative Einkommensarmut insgesamt nicht. Die deutliche Veränderung der gesamten Verteilung zeigt sich auch am Median-Nettoäquivalenzeinkommen, das um 58 EUR auf 1.531 EUR steigt. … Während die allgemeine Armutsrisikoquote kaum verändert wird, bewirkt die Kindergrundsicherung eine Verminderung der spezifischen Armutsquote von Alleinerziehenden. Hier sinkt die Armutsrisikoquote von 22,5 Prozent auf 17,8 Prozent. Für Paare mit Kindern ergibt sich ebenfalls eine Reduktion der relativen Einkommensarmut, und zwar von 6,1 Prozent auf 5,1 Prozent. FAZIT … eine Erhöhung der Regelleistung für erwerbsfähige Hilfebedürftige (§ 20 SGB II) würde die Armutsrisikoquote voraussichtlich vermindern und zu einer gleichmäßigeren Einkommensverteilung beitragen. Der Preis für diese Veränderungen wäre jedoch hoch. Zum einen weil über Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen 10 Mrd. EUR jährlich aufzubringen wären. Zum anderen hätte die höhere Regelleistung auch deutliche negative Anreizeffekte und liefe somit dem Ziel der Aktivierung und der Hilfe zur Beendigung des Leistungsbezugs entgegen. Der schon heute kaum mehr vorhandene Abstand zu den niedrigsten Löhnen würde weiter schrumpfen. Eine bedingungslose Kindergrundsicherung erreicht zwar eine gewisse Zahl von ALG-II-Haushalten mit Kindern und führt diese aus dem Hilfebezug hinaus. Die Kosten hierfür sind jedoch mit ca. 18 Mrd. EUR immens. … Das Ziel, die Situation von einkommensschwachen Haushalten mit Kindern zu verbessern, sollte statt mit einer allgemeinen Erhöhung des Kindergelds durch gezielte Maßnahmen verfolgt werden. Die vor kurzem verabschiedete Ausweitung des Kinderzuschlags und die Erhöhung des Wohngelds sind wesentlich effizienter und weisen in die richtige Richtung. “ Die hier vorgestellten Ergebnisse sind Schätzungen mit dem IAB-Mikrosimulationsmodell (vgl. Arntz et al. 2007). Dieses Modell berechnet für eine Stichprobe von Haushalten – das Sozioökonomische Haushaltspanel (SOEP) – Steuern und Abgaben sowie Ansprüche auf die wichtigsten Sozialleistungen (ALG II, Wohngeld, Kindergeld, etc.). Ausgangspunkt sind dabei die Bruttoeinkommen aller Haushaltsmitglieder. Durch geeignete Gewichtungsfaktoren kann man die auf Basis der Stichprobe ermittelten Ergebnisse auf die deutsche Wohnbevölkerung hochrechnen. Das IAB-Mikrosimulationsmodell umfasst auch ein mikroökonometrisches Arbeitsangebotsmodell, mit dessen Hilfe es möglich ist, Aussagen über die wahrscheinliche Veränderung des Erwerbsverhaltens (Partizipation und Umfang in Stunden) zu treffen. Die Ergebnisse der IAB-Simulationsrechnungen ergeben sich als Differenz zwischen einer Basissimulation und einem Reformszenario. Bei den Berechnungen zu den Reformvorschlägen (höheres ALG II und Kindergrundsicherung) ist der voraussichtliche Rechtsstand zum 1. Januar 2009 berücksichtigt. D.h. die Wohngelderhöhung (1. Januar 2009) und der großzügigere Kinderzuschlag (1. Okrober 2008) sind im Basisszenario der Simulation enthalten. Die Untersuchungsergebnisse in Form eines IAB-Kurzberichtes entnehmen Sie bitte dem Anhang.

http://www.iab.de

Quelle: Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung

Dokumente: IAB_Kurzbericht_hoeheres_ALG_II.pdf

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