Zukunftsmodelle der Beruflichen Bildung

Das duale System zeigt sich stärker als je zuvor. Allen gegenwärtigen Diskussionen um Fachkräftemangel, Flexibilisierung und Europäisierung zum Trotz genießt es bei allen Akteuren höchste Akzeptanz. Nicht nur, dass ein breiter Konsens darüber besteht, an diesem System festzuhalten. Vielmehr werden große Anstrengungen unternommen, die betriebliche Ausbildung auszubauen und alles Erdenkliche zu tun, um einerseits mehr Betriebe für die Ausbildung zu gewinnen und andererseits die duale Ausbildung auch für Schulabsolventen insbesondere mit Studienzugangsberechtigung attraktiv zu machen. Vor diesem Hintergrund wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Reformansätze diskutiert und es ist eine fast unübersehbare Fülle von Modellen, Konzepten, Leitbilder und Visionen unterschiedlichster Akteure in diesem Feld entstanden. …

Gemeinsam ist diesen Modellen, dass sie das Berufsbildungssystem modern, kohärent, durchlässig und anschlussfähig gestalten wollen. Dabei soll erklärtermaßen den Lebenslagen und Unterstützungsbedarfen gerade auch benachteiligter junger Menschen in der Berufsausbildung deutlich mehr Rechnung getragen werden als es bisher in der betrieblichen Berufsausbildung der Fall war. Die Untersuchung, aber auch Bewertung der in den letzten Jahren entstandenen neuen Modelle, Organisationsformen, Konzepte, aber auch Vision und Leitbilder der Berufsausbildung sowie der Konsequenzen und Entwicklungspotenziale für die Jugendberufshilfe und berufliche Integrationsförderung, ist deshalb Gegenstand einer Expertise, die im Auftrag der BAG ÖRT erstellt wurde.

Gegenstand der Expertise war eine Synopse von Zukunftsmodellen und Leitbildern der Berufsausbildung. Unter Zukunftsmodellen versteht die Expertise dabei Organisationsformen beruflicher Bildung, die aktuell diskutiert werden oder sich in der Erprobung befinden. Darüber hinaus wurden Visionen und Konzepte untersucht, die in der Ausbildungspraxis noch nicht erprobt oder angewendet werden. … Auf der Grundlage dieser Synopse wurde die Frage geklärt, welche Folgen die Entwicklung neuer Organisationsformen beruflicher Bildung für die Jugendsozialarbeit und die Benachteiligtenförderung haben und welche Potenziale darin für die Entwicklung neuer zielgruppengerechter(-er) Ausbildungsmaßnahmen liegen. …

Folgende Modelle wurden untersucht: „Dual mit Wahl“ des Deutschen Industrie und Handelskammertages (DIHK), das „Berufebaukastensystem“ bzw. „Karrieremodell“ des Deutschen Handwerkkammertages (DHKT), der „3. Weg“ in NRW, die Teilzeitberufsausbildung für alleinerziehende Mütter/Väter, die „Abschlussorientierte modulare Nachqualifizierung“ und die Projekte der Jobstarter Initiative. Außerdem wurden untersucht das Produktionsschulmodell, der Reformvorschlag der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen „Dual-Plus“, die zweijährigen theoriegeminderten Ausbildungsberufe und verschiedene betriebliche Modelle zur Berufsausbildung sozial benachteiligter Jugendlicher. …

Ergebnisse der Expertise Zukunftsmodelle in der Berufsbildung und deren Potenziale und Auswirkungen für die zukünftige Gestaltung von Maßnahmen der Jugendberufshilfe von Dr. Dietmar Heisler, Universität Erfurt:
“ Die Reformen des Berufsbildungssystems zielten immer auch darauf, die Lebenslagen und spezifischen Förderbedürfnisse benachteiligter Jugendlicher zu berücksichtigen. Sie postulieren für sich Benachteiligung und die Selektivität des Systems von vornherein zu vermeiden. Alle Modelle, Konzepte und Leitbilder, die in der Expertise untersucht wurden, erklärten, dass sie die Gruppe sozial benachteiligter Jugendlicher mit im Blick haben. Dieses Ziel wird in unterschiedlichem Maße umgesetzt. In einigen der untersuchten Ausbildungsmodelle werden die besonderen Förderbedürfnisse benachteiligter Jugendlicher kaum bzw. gar nicht berücksichtigen. So zielen „Dual mit Wahl“ oder das „Karrieremodelle“ vor allem darauf, die duale Ausbildung für alle Jugendlichen attraktiver zu gestalten. Diese Modelle konkurrieren so mit schulischen und akademischen Ausbildungsgängen. Sie richten sich so aber zuerst an leistungsstärkere Jugendliche, an Realschüler und Abiturienten. Benachteiligte, i. S. der Expertise, werden in der Form bedacht, dass diese Modelle als in hohem Maße anschlussfähig und durchlässig konstruiert sind. Module und theoriegeminderte zweijährige Ausbildungsberufe habe zwar die didaktische Funktion eine berufsfeldbezogene Grundbildung zu vermitteln, speziell diesen Jugendlichen sollen sie aber auch den Übergang in die Berufsausbildung erleichtern. Andere Förderangebote sind nicht Bestandteil dieser Modelle. Benachteiligung soll offenbar allein über berufliche bzw. betriebliche Erziehungs- und Sozialisationsprozesse und über die Integration in die betriebliche Gemeinschaft überwunden werden. Gleiches gilt auch für die untersuchten betrieblichen Reformmodelle, die zu dem auch noch hoch selektiv sind. Damit wird aber die Gruppe sozial Benachteiligter i. S. der Expertise auch von diesen Modellen aus Sicht der Autoren ausgeschlossen. …
Andere Modelle, wie die Nachqualifizierung, assistierte/begleitete Ausbildungen oder auch die Teilzeitberufsausbildung, richten sich zwar speziell an Benachteiligte, sie werden aber ausschließlich im Rahmen von Projekten und Sonderprogrammen durchgeführt. Ohne diese zusätzliche Förderung finden sie trotz gesetzlicher Implementierung über das BBiG kaum Anwendung. … Das ist für die zu fördernden Jugendlichen zunächst kein Nachteil, stellt aber die Nachhaltigkeit – auch von erfolgreichen Modellen – in Frage. Zudem verschärft diese Praxis die oft kritisierte Diffusität im Förderdschungel.
Was bedeuten aber diese Erkenntnisse nun für die zukünftige Ausgestaltung und Entwicklung der Jugendberufshilfe und insbesondere auch für die Rolle der freien Träger der Jugendsozialarbeit?
Als Zukunftsszenario beschreibt die Expertise einen tiefgreifenden Wandel bei der Bedeutung der Bildungsträger für die Berufsausbildung benachteiligter Jugendlicher. Zunächst ist eine zunehmende Verlagerung der praktischen Ausbildung in den Betrieb festzustellen. Der Lernort Betrieb gewinnt so für die Berufsausbildung benachteiligter Jugendlicher zunehmend Bedeutung. Darauf deutet nicht nur die Zunahme kooperativer sowie sozialpädagogisch assistierter und begleiteter Ausbildungsformen hin, sondern auch die fachlichen Diskurse zur „Redualisierung der Benachteiligtenförderung“ und die zunehmende Verbreitung betrieblicher Modelle zur Förderung der Ausbildung Benachteiligter. …
Der in den neuen Modellen und Konzepten zu erkennende Bedeutungswandel der Träger kann sogar als paradigmatischer Wandel beschrieben werden: Aus „Bildungsträgern“, die mit ihrer Arbeit – primär im Auftrag der Bundesagentur für Arbeit oder der Jugendämter – auf die Förderung der Berufsausbildung sozial schwacher und benachteiligter Jugendlicher abzielten, werden „Bildungsdienstleister“, die ihre Leistungen Jugendlichen und Betrieben gleichermaßen anbieten. …

Zukunftsszenario: Zukunft der Berufsausbildung für benachteiligte Jugendliche
Die in der durchgeführten Synopse gewonnen Erkenntnisse werden nun in ein Zukunftsszenario übersetzt. … Zentrale Eckpunkte dieses Szenarios sind: ## die Veränderung, Verschärfung und Pluralisierung der Probleme und Förderbedarfe benachteiligter Jugendlicher,
## die Verlagerung der Förderschwerpunkte und Förderthemen in der pädagogischen Praxis,
## die zunehmende Ausdifferenzierung beruflicher Bildungsangebote,
## die zunehmende Verlagerung der beruflichen Förderung sozial benachteiligter Jugendlicher an den Lernort Betrieb,
## die Veränderung des Aufgabenspektrums der Träger und
## die weiterhin zunehmende Beeinflussung der Trägerarbeit durch Ressourcenmangel und den so zunehmenden Zwang zur Wirtschaftlichkeit.
Welche Dynamiken können die genannten Eckpunkte in den nächsten Jahren entfalten und zu welchen Entwicklungen könnte das führen?

1.) Die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass sich die Gruppe der Jugendlichen die in die Maßnahmen einmündet verändert. Die Zunahme psychischer Probleme sowie die zunehmende Ausdifferenzierung und Pluralisierung ihrer Problemlagen, wurden als die gravierendsten Veränderungen benannt. Es wird vermutet, dass sich diese Verschärfung und Verdichtung der Probleme dieser Gruppe Jugendlicher in den nächsten Jahren fortsetzen wird. Es wurden verschiedene Erklärungsansätze für die Ursachen dieses Trends entwickelt: Der demografische Wandel und der daraus resultierende Fachkräftemangel führen dazu, dass die betrieblichen Ausbildungschancen sog. „Marktbenachteiligter“ steigen. Folglich münden sie zunehmend seltener in Maßnahmen der Beruflichen Integrationsförderung ein. Stattdessen münden zunehmend Jugendliche ein, die zur Gruppe der genuin sozial Benachteiligten und individuell Beeinträchtigten gezählt werden. Es kommt so zur Zunahme und Verdichtung der Probleme Jugendlicher in diesen Maßnahmen. … So kommt es zur Zunahme und Verdichtung sozialer Problemlagen bei den Jugendlichen in den Maßnahmen, zumindest in der subjektiven Wahrnehmung der Pädagogen.

2.) Der demografische Wandel könnte zu einer Verlagerung der Förderschwerpunkte und Zielgruppen führen. … Aufgrund dieser Veränderung der Gesamtstruktur der Gruppe von am Arbeitsmarkt benachteiligten Menschen, kommt es möglicherweise zu einer Schwerpunktverlagerung von Förderangeboten in andere Bereiche und zu anderen Zielgruppen. Es könnten aber auch Maßnahmekonzepte und Formen entstehen, die mit allen Gruppen arbeitet. Es ist vorstellbar, dass sich Förderangebote der Träger in Zukunft viel stärker auch an (junge) Erwachsene, Un- und Angelernte, vielleicht sogar an ältere Arbeitnehmer und Rehabilitanden richten. …

5.) In ihrer Rolle als ein Lernort der Berufsausbildung werden Bildungsträger auch in Zukunft eine Kompensationsfunktion für das Duale System übernehmen, wenn auch nicht im gleichen Umfang wie bisher. Vor allem werden sie aber für die Arbeit mit sozial benachteiligten und individuell beeinträchtigten Jugendlichen zuständig sein. … Die Expertiseergebnisse deuten aber genauso darauf hin, dass es auch in Zukunft sozial benachteiligte Jugendliche geben wird, die von den neuen Modellen der Berufsausbildung nicht erreicht werden. Für die Träger muss es folglich u. a. darum gehen, für eben diese Jugendlichen berufliche Bildungsangebote zu entwickeln und vorzuhalten. Projekte und Förderprogramme können dafür auch in Zukunft der geeignete Rahmen sein. …

7.) Es liegt nun die Vermutung nahe, dass die Förderung sozial benachteiligter Jugendlicher künftig vor allem in kooperativen oder in rein betrieblichen Modellen erfolgt. Ausgehend von dieser Annahme, wird es zu einer Veränderung des Aufgabenspektrums der Bildungsträger kommen. In einigen der untersuchten Modelle zeichnet sich ein solcher Wandel bereits ab. In diesen Modellen ist zu erkennen, was die zukünftigen Aufgaben der Träger sein könnten: Sie werden als Partner der Betriebe und Schulen, zuständig sein für das Ausbildungsmanagement, für die Durchführung von Eignungsanalysen, als Anbieter von Berufsvorbereitungen, von Stützunterricht und von sozialpädagogischer Begleitung (z. B. in abH oder in Modellen der „assistierten Berufsausbildung“). Sie können außerdem zuständig sein für die Vermittlung von berufsübergreifenden Grundbildungen oder für die Vermittlung von Teilqualifikationen und Spezialisierungen, die im Betrieb, während der Ausbildung im Produktionsprozess nicht durchgeführt werden können.
… So besitzen die Träger – auch in Zukunft – ihren besonderen Wert für die Jugendlichen und besonders für die Unternehmen. Sie kennen die Gruppe sozial benachteiligter Jugendlicher ganz genau und sind Experten in der Arbeit und Förderung dieser Gruppe Jugendlicher. …

10.) Nicht zuletzt auch im Hinblick auf die aktuelle Ausschreibungs- und Vergabepraxis von Fördermaßnahmen und beruflichen Bildungsangeboten, wird sich der z. T. jetzt schon enorme wirtschaftliche Druck auf die Träger weiter erhöhen. Sie müssen einerseits höhere qualitative Anforderungen erfüllen, andererseits steigt aber auch aufgrund rückläufiger finanzieller Mittel und Ressourcen der Anspruch, effizienter und effektiver zu arbeiten. In Anbetracht dieses zunehmenden Kosten- und Leistungsdrucks auf die Träger, aufgrund der steigenden Erwartung effizient und wirtschaftlich zu arbeiten, werden projektförmig geförderter Maßnahmen in Zukunft an Bedeutung gewinnen. Aber auch ihr finanzieller Umfang wird vermutlich abnehmen. Dennoch werden Projekte, Förderprogramme und Initiativen auch in Zukunft der – möglicherweise einzige – Rahmen sein, in denen neue Modelle für die Berufsausbildung benachteiligter Personengruppen entwickelt werden. In diesem Feld wird auch in Zukunft keiner die Bedeutung der Bildungsträger in Frage stellen. Die Analyse der verschiedenen Ausbildungsmodelle hat verdeutlicht, dass es meist Bildungsträger sind, die die Initiatoren, Antragsteller oder durchführenden Institutionen von Modellprojekten zur Entwicklung neuer Organisationsformen beruflicher Bildung sind. …

Abschließend: … Hervorzuheben ist, dass die Bildungsträger als Akteure und Institutionen in diesem pädagogischen Handlungsfeld zwar nicht verschwunden sind – und auch nicht gänzlich verschwinden werden – dafür haben sie aber ihre zentrale Rolle, die sie bisher in diesem Handlungsfeld hatten verloren. In den untersuchten Modellen wurde demgegenüber deutlich, dass der Einfluss und die Bedeutung der Betriebe für die Förderung benachteiligter Jugendlicher deutlich gestiegen ist. Ein Großteil der praktischen Ausbildung soll im Betrieb und nicht mehr in den Werkstätten eines Trägers stattfinden. Problematisch ist nun, dass sich in der durchgeführten Synopse keine Ausbildungsformen finden ließen, die den besonderen Förderbedarfen dieser Jugendlichen, ihren besonderen Problemlagen und ihrer Lebenssituation uneingeschränkt Rechnung tragen. Die vorliegende Expertise hat verdeutlicht, dass die Förderbedarfe benachteiligter Jugendlicher von den meisten der untersuchten Modelle eben nicht berücksichtigt werden. Hier ist noch erhebliche Entwicklungsarbeit zu leisten, in die die Expertise und Erfahrung der Träger einfließen müssen. …
Die Bildungsträger werden zunehmend marktförmig auftreten müssen. Ihre weitere Existenz wird wesentlich durch ihre Angebote, Konzepte, ihr Profil und die Nachfrage nach ihren Dienstleistungen mit bestimmt werden, durch das sie sich von anderen Trägern abheben werden. Sie werden dabei gezwungen sein sich den Anforderungen der Wirtschaftlichkeit, Effizienz und Effektivität, im Sinne von Kundenorientierung, Qualität und Erfolg, zu stellen. Nicht nur in diesem Punkt unterscheidet sich die vorliegende Expertise nun von dem, was Schulte noch vor sieben Jahren als politische Forderung und als Zukunftsszenario formulierte: Im Unterschied zu ihm nimmt die vorliegende Expertise an, dass der Staat immer weniger für die finanzielle Absicherung der Förderstruktur und ihre Maßnahmen aufkommen wird. Das allein wird ihre weitere Existenz ohnehin nicht gewährleisten können. Ihr weiteres Überleben wird vielmehr davon abhängen, ob sie die beschriebenen neuen Anforderungen bewältigen und den Wandel zum Bildungsdienstleister mit individuell zugeschnittenen Bildungsdienstleistungen – für Jugendliche und/oder Betrieb – vollziehen können.“

http://www.bag-oert.de/de/webfm_send/574

Quelle: BAG ÖRT

Dokumente: Zukunftsmodelle_in_der_Berufsbildung_Studie_BAG_OeRT.pdf

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