Die zentralen Fragen der Expertise sind:
(1) Wie stellt sich die Situation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund am Übergang von der Schule in Ausbildung und Erwerbstätigkeit dar?
(2) Wie sind Jugendliche mit Migrationshintergrund in den verschiedenen Maßnahmetypen des Übergangssystems vertreten und wie stellen sich ihre Übergänge aus den jeweiligen Maßnahmen in Ausbildung und Erwerbsarbeit dar?
(3) Welche Forschungslücken werden deutlich und welche Folgerungen ergeben sich aus den Befunden für die Praxis?
In die Expertise einbezogen wurden die quantitativ wichtigsten Angebote des Übergangssystems. Untersucht wurde, wie viele Jugendliche mit Migrationshintergrund hier vertreten sind und wo sie im Anschluss verbleiben. Ausgewertet wurden zudem aktuelle empirische Untersuchungen
zum Übergangssystem sowie Daten der amtlichen Statistik (insbesondere Statistisches Bundesamt, Statistik der Bundesagentur für Arbeit, verschiedene statistische Landesämter). Nicht berücksichtigt werden konnten aktuelle Programme verschiedener Bundesministerien, da hier bislang keine (hinreichenden) öffentlich zugänglichen Daten zur Verfügung stehen.
Ausgewählte Ergebnisse der Expertise „Notwendig, aber reformbedürftig. Die vorberufliche Bildung für Jugendliche mit Migrationshintergrund“ von Gerhard Christe im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung:
“ Auch wenn die vorliegenden Daten eine Differenzierung nach Migrationshintergrund nicht erlauben, zeigt doch bereits die Unterscheidung nach Nationalität, dass ausländische Jugendliche
gegenüber deutschen Jugendlichen auch im Übergang von der Schule in Ausbildung und Erwerbstätigkeit systematisch benachteiligt sind.
… Ausländische Jugendliche sind beim Zugang ins Übergangssystem
deutlich überrepräsentiert. Sie gelangen nahezu doppelt so häufi g wie deutsche Jugendliche ins Übergangssystem, aber wesentlich seltener
ins duale System. Ausländische Jugendliche sind, seit Jahren mit steigender Tendenz, im Übergangssystem überproportional häufig vertreten. Insbesondere in den berufsschulischen Formen des Übergangssystems sind sie deutlich überrepräsentiert, am stärksten in Baden-Württemberg, Hamburg und Hessen (Ausländeranteil z. T. mehr als ein Drittel), aber auch in Bayern, Berlin, Bremen und Nordrhein-Westfalen (Ausländeranteil zwischen 20 und 25 Prozent).
…
Ausländische Jugendliche schneiden nach Durchlaufen des
Übergangssystems durchweg schlechter abschneiden als deutsche Jugendliche. Sie gelangen seltener in eine Ausbildung und scheiden häufiger ganz aus dem Bildungs- und Erwerbssystem aus. Das Übergangssystem ist offensichtlich nicht in der Lage, die bereits beim Eintritt bestehenden Benachteiligungen zu kompensieren und Chancengleichheit für ausländische Jugendliche herzustellen. Die Benachteiligungen ausländischer Jugendlicher kumulieren von einer Bildungsetappe zur nächsten. Zwar verbessern sich für alle Jugendlichen, die an Maßnahmen des Übergangssystems teilnehmen, die Chancen auf einen Ausbildungsplatz, doch profi tieren deutsche Jugendliche davon deutlich stärker als ausländische Jugendliche.
… Die … getroffenen Aussagen zu den Wirkungen des Übergangssystems sind recht pauschal. Belastbare Daten für eine differenziertere
Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Übergangssystems für die nach verschiedenen soziodemografischen Merkmalen zu unterscheidenden
Gruppen von Jugendlichen liegen bislang nicht vor. Um die je nach individuellen und sozialen Voraussetzungen der Jugendlichen unterschiedlichen Wirkungen des Übergangssystems einschätzen zu können, bedarf es dringend solcher Daten. Dabei muss nicht nur zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund, sondern auch innerhalb der Jugendlichen mit Migrationshintergrund unterschieden werden. …
Folgerungen und Handlungsempfehlungen
… Umbau des Übergangssystems
Ungeachtet zahlreicher schulischer Reformbemühungen und eines massiven Ausbaus des Übergangssystems hat sich die Bildungssituation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in den letzten 30 Jahren nur wenig verbessert und an ihrer relativen Bildungsbeteiligung nur partiell etwas verändert. Dies wirft ein bezeichnendes Licht auf die hohe Selektivität des deutschen Bildungssystems und macht seine erheblichen Defizite bei der Förderung und Integration von Jugendlichen mit Migrationshintergrund sichtbar. Die niedrige Bildungsbeteiligung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist aber
nicht nur auf das Bildungssystem selbst zurückzuführen, sondern insbesondere auch auf die soziale Herkunft dieser Jugendlichen. Sie kommen in einem stärkeren Maße als Jugendliche ohne Migrationshintergrund aus Familien mit einem niedrigeren sozialen Status, was sich an dem vergleichsweise niedrigen Schulbildungsniveau
ihrer Eltern zeigt. Während in der über 25-jährigen Bevölkerung ohne Migrationshintergrund nur 13 Prozent keinen beruflichen Bildungsabschluss haben, sind es in der gleichaltrigen Bevölkerung
mit Migrationshintergrund 41 Prozent. … Dies ist auch eine Folge der für Deutschland typischen Einwanderungspolitik. … Selbst eine deutlich verbesserte Förderung von Migranten und ihren Kindern durch
das Bildungs- und Ausbildungssystem, so wird vermutet, kann die Qualifikationsstruktur der Bevölkerung mit Migrationshintergrund allenfalls langfristig verändern.
Doch auch bei Kontrolle des Bildungshintergrunds und des berufl ichen Status der Eltern bleiben Jugendliche mit Migrationshintergrund in
ihren schulischen Leistungen hinter Jugendlichen ohne Migrationshintergrund zurück. Jugendliche mit Migrationshintergrund werden bereits in der Schule gegenüber Jugendlichen ohne Migrationshintergrund deutlich benachteiligt. So empfehlen Lehrkräfte, bei gleicher Schichtzugehörigkeit und gleichen Leistungen, Jugendliche
mit Migrationshintergrund z. B. seltener für das Gymnasium. …
Zusammenfassend kann festgehalten werden:
Die Gründe für die Unterschiede in der Bildungsbeteiligung sind vielfältig. Neben dem sozioökonomischen Status und dem Bildungsniveau der Eltern spielen die Aufenthaltsdauer der Jugendlichen in Deutschland sowie kulturelle Orientierungen der Familien eine Rolle. Allerdings sind die verschiedenen Aspekte der Benachteiligung so miteinander verwoben, dass sich ihre Effekte kaum voneinander trennen lassen. Das Bildungssystem seinerseits ist bislang nicht darauf angelegt, die entsprechenden Benachteiligungen bei den Voraussetzungen der Jugendlichen auszugleichen. Im Gegenteil: Es verstärkt diese noch zusätzlich. …
Probleme hinsichtlich der Leistungsfähigkeit des Übergangssystems bei der Integration von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund
resultieren aber auch daraus, dass sich die reguläre Berufsausbildung nach unten abgrenzt und deshalb nur ein kleinerer Teil der Abgänge aus
dem Übergangssystem in eine anerkannte berufliche Ausbildung führt. Durch die hoch gesetzten Standards der Ausbildung in den anerkannten
Ausbildungsberufen ist die Integrationswirkung des dualen Systems am unteren Rand nur gering. Die geringe Transparenz des Übergangssystems
und das Sammelsurium von nicht systematisch aufeinander bezogenen Maßnahmen verstärken diesen Effekt. Die fehlende Kompatibilität der Maßnahmen des Übergangssystems zur dualen Ausbildung und von Träger zu Träger unterschiedliche Inhalte, die zudem häufig nicht in klarer Weise auf Ausbildungsabschnitte der betrieblichen Ausbildung bezogen sind, machen die im Übergangssystem erworbenen Qualifikationen und ausgestellten Zertifikate für die Unternehmen wenig transparent. Was ein Jugendlicher in den Maßnahmen des Übergangssystems gelernt hat, wird in aller Regel nicht auf dem Arbeitsmarkt anerkannt und in einer Ausbildung nur selten angerechnet. Wem es nicht gelingt, aus dem Übergangssystem in eine geregelte Ausbildung einzumünden, findet sich voraussichtlich sein ganzes Erwerbsleben lang in der Kategorie der „An- und Ungelernten“ wieder.
Vor diesem Hintergrund enthält das von der Bertelsmann Stiftung (2009) vorgelegte Konzept zur Neustrukturierung des Übergangssystems einige interessante Anregungen. Zum einen wird hier vorgeschlagen, den Zugang zur Berufsausbildung so zu gestalten, dass kein Jugendlicher verloren geht, der eine Ausbildung anstrebt. … Zum anderen müssen die Angebote des Übergangssystems systematisch und ohne Zeitverlust auf die Erreichung einer qualifi zierten Berufsausbildung hinführen. Sofern
kein unmittelbarer Einstieg in eine duale Berufsausbildung möglich ist, müssen Einstiege in die Berufsausbildung so gestaltet werden, dass keine Warteschleifen und Verdoppelungen entstehen. Dies erfordert eine (horizontale) Durchlässigkeit innerhalb und zwischen erschiedenen Formen der Berufsausbildungsvorbereitung und Berufsausbildung.
Aufgrund der unterschiedlichen Voraussetzungen von ausbildungsreifen und nicht ausbildungsreifen Jugendlichen sind die Zuund Übergänge jeweils unterschiedlich zu konzipieren. …
Kernpunkt dieses Konzepts ist die Synchronisation alternativer Lernwege in Ausbildung, und zwar so, dass eine wechselseitige Substituierbarkeit und Anrechenbarkeit möglich wird. Der Wechsel von schulischer/trägereigener Ausbildung in eine betriebliche Ausbildung wäre dann ebenso möglich wie der umgekehrte Wechsel etwa nach einem Ausbildungsabbruch oder bei Insolvenz eines Ausbildungsbetriebs, ohne dass die bislang erworbenen Qualifikationen „verloren“ gingen. …
Dies setzt u. a. voraus, dass die Erreichung der Ausbildungsreife
mit dem verbindlichen Angebot gekoppelt ist, eine abschlussorientierte Berufsausbildung antreten zu können. All dies ist jedoch nicht zuletzt darauf angewiesen, dass auch die entsprechenden Ausbildungsplätze – ob gefördert oder ungefördert – zur Verfügung gestellt werden.
Jugendliche mit Migrationshintergrund sollen im Rahmen dieser neuen Struktur besonders gefördert werden. Dazu gehört eine speziell auf
Jugendliche mit Migrationshintergrund abgestimmte Berufsorientierung und Berufseinstiegsbegleitung, ergänzt um ein besonderes Fallmanagement, das an der besonderen Situation dieser Jugendlichen anknüpft, ohne sie jedoch in Sonderwege der Ausbildung auszugliedern. …
Fazit
Angesichts der Tatsache, dass das Übergangssystem in Bezug auf den Umfang seiner Maßnahmen in den letzten Jahren erheblich ausgeweitet worden ist und angesichts der hohen fi nanziellen Mittel, die für das Übergangssystem bereitgestellt werden, ist es bemerkenswert, dass bislang nur unzureichend empirisch abgesichert ist, welche Wirkungen die verschiedenen Maßnahmen für die Integration Jugendlicher in Ausbildung und Erwerbstätigkeit haben. … Im Interesse des Abbaus von Bildungsarmut und sozialer Ungleichheit ist es jedoch erforderlich,
hierüber sehr viel mehr zu wissen als bisher, insbesondere auch und gerade über Jugendliche mit Migrationshintergrund, die im deutschen Schul- und Berufsbildungssystem besonders benachteiligt sind. …
Das Übergangssystem ist entstanden im Kontext einer gesellschaftlichen Entwicklung, die einer immer größer werdenden Zahl von Jugendlichen,
insbesondere aus den unteren sozialen Schichten und hierunter überproportional vielen Jugendlichen mit Migrationshintergrund, den
Zugang zu einer anerkannten Berufsausbildung verwehrt. Seine Aufgabe müsste es sein, dieser Entwicklung entgegenzuwirken und einen Beitrag
zur berufl ichen und sozialen Integration dieser Jugendlichen zu leisten.
Die bislang vorliegenden Befunde zur Leistungsfähigkeit des Übergangssystems haben jedoch deutlich gemacht, dass es hier noch erheblichen Handlungsbedarf gibt – für die Forschung wie für die Praxis. Ungeachtet dessen gibt es bereits jetzt viele interessante Ansätze zur Verbesserung des Übergangssystems, die darauf zielen,
den Kreislauf der Perpetuierung sozialer Ungleichheit, an dem auch das Übergangssystem beteiligt ist, zu durchbrechen. Das Spektrum dieser Ansätze ist breit, es reicht von der Fokussierung auf einzelne Maßnahmen bis hin zu der Frage, wie die Kumulation von Bildungsungerechtigkeit beseitigt und schließlich das Übergangssystem
selbst überfl üssig werden kann. Diese Ansätze einmal zu systematisieren, auf ihre jeweilige Reichweite zu überprüfen und daraus Folgerungen für Übergangsforschung und Übergangspraxis
abzuleiten, könnte ein wichtiger Beitrag zur Integrationsförderung sein.“
Das Gutachten in vollem Textumfang entnehmen Sie bitte aufgeführtem Link oder dem Anhang.
http://library.fes.de/pdf-files/wiso/08037.pdf
Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung: WISO-Diskurs
Dokumente: Vorberufliche_Bildung_Jugendliche_mit_Migrationshintergrund_WISO.pdf