Auszüge aus der Studie „Das Grundrecht auf einen Ausbildungsplatz“ von Heiner Fechner im Auftrag der GEW:
“ Bereits Mitte der siebziger und achtziger Jahre gab es eine Unterversorgung mit Ausbildungsplätzen. Der nun seit 1995 andauernde Mangel an Lehrstellen zeigt, dass sich das duale Ausbildungssystem in der Bundesrepublik Deutschland seit langem in einer tiefen, strukturellen Krise befindet. Kennzeichnend dafür ist nicht zuletzt das so genannte Übergangssystem von der Schule in den Beruf, in dem sich im Jahr 2008 ca. 400.000 Jugendliche in einer Warteschleife auf einen Ausbildungsplatz befanden.
Wenngleich nur eine relativ geringe Zahl von Schulabgänger/-innen laut Bildungsberichterstattung gänzlich unversorgt bleibt, suchen jährlich zehntausende Jugendliche vergeblich nach einem betrieblichen Ausbildungsplatz. So waren laut Berufsbildungsbericht 2010 am 30. September 2009 im Verhältnis zu 566.004 neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen zwar „nur“ 16.439 Bewerber/-innen gänzlich „unversorgt“, d.h. ohne Alternative (Berufsvorbereitungsjahr, Berufsgrundbildungsjahr, Berufsfachschulen usw.), insgesamt wurden aber
93.161 noch suchende Bewerber/-innen gezählt. Legt man die sog. erweiterte Nachfragedefinition zugrunde, die bei der Nachfrage auch Jugendliche berücksichtigt, die in eine Alternative eingemündet sind, aber weiterhin Interesse an einer Ausbildung haben, so standen 2009 für 100 Nachfragende 83 Ausbildungsstellenangebote zur Verfügung. …
Allein 45,7 Prozent der im Berichtsjahr 2008/09 bei Arbeitsagenturen und ARGEn gemeldeten Bewerber/-innen hatten zudem die allgemein- oder berufsbildende Schule bereits vor dem Berichtsjahr verlassen, hätten ihre Ausbildung also bereits früher beginnen können – von diesen 243.791 Bewerber/-innen warteten 54,2 Prozent sogar länger als ein Jahr. Mehr als ein Drittel der Bewerber/-innen muss nach der Schule zunächst den Umweg über das sog. Übergangssystem gehen. Während der prozentuale Höchststand 2005 mit 39,9 Prozent der Neuzugänge bestand, wurde 2008 der innerhalb der letzten acht Jahre niedrigste Stand mit
34,1 Prozent bzw. knapp 400.000 Jugendlichen erreicht. Auffällig ist zudem, dass die Quote der Hauptschulabsolvent/-innen bei den bereits länger einen Ausbildungsplatz suchenden Bewerber/-innen deutlich überproportional hoch ist.
Besondere Schwierigkeiten, eine Ausbildungsstelle zu bekommen, haben insbesondere Altbewerber/-innen mit Migrationshintergrund, höherem Alter (über 20) und schlechteren Schulnoten; die derart Benachteiligten sind wiederum überproportional in außerbetrieblichen
bzw. schulischen Ausbildungen vertreten. …
Vor diesem Hintergrund hatte eine insbesondere von Schüler/-innenvertretungen sowie aus dem gewerkschaftsnahen Bereich initiierte Kampagne eine von über 72.500 Unterstützer/-innen getragene Petition an den Bundestag gerichtet mit der Forderung, einen Rechtsanspruch auf eine berufliche Ausbildung im Grundgesetz zu verankern. In der Petition wurde auf die prekäre Situation der Jugendlichen anhand der Daten der Ausbildungsstatistik verwiesen
und darüber hinaus angeführt, die Notprogramme und Vereinbarungen zwischen Politik und Wirtschaft seien erfolglos geblieben, eine qualifizierende Berufsausbildung jedoch für die Zukunft junger Menschen sowie der Gesellschaft entscheidend. Erforderlich sei der Übergang von der Schule in den Beruf ohne Wartezeiten auf einen Ausbildungsplatz. Hierfür trage der Staat die Verantwortung. Für alle Jugendlichen müsse es jederzeit und unabhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung genügend Arbeitsplätze geben. Ohne einen Rechtsanspruch auf Ausbildung lasse sich dieses Ziel nicht erreichen. Der Petitionsausschuss beschloss nach zweijähriger Beratung und Einholung von Stellungnahmen verschiedener Ministerien ohne öffentliche Anhörung oder Anhörung der Petent/-innen, das Petitionsverfahren abzuschließen.
Zur Begründung führte der Petitionsausschuss an, die Einführung sozialer Grundrechte ins Grundgesetz sei bereits in der Vergangenheit eingehend erörtert worden, habe aber keine Mehrheit gefunden. So habe u.a. in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat mit Ausnahme der PDS/LL Einigkeit darüber bestanden, dass klagbare soziale Grundrechte in der Verfassung nicht normiert werden sollten, da „der Staat damit überfordert wäre und sich solche Rechte nur unter den Bedingungen einer zentralen Verwaltungswirtschaft und damit „um den Preis der Freiheit“ einführen ließen.“ Eine justiziable Ausgestaltung sozialer Grundrechte würde zudem (1) einen individualisierbaren Anspruchsberechtigten und (2) Anspruchsgegner, (3) einen präzise bestimmbaren Leistungsgegenstand sowie (4) die Verfügungsbefugnis des Verpflichteten über den Leistungsgegenstand voraussetzen. Letztere Voraussetzung sei – jedenfalls theoretisch – nur in einer zentralen Verwaltungswirtschaft möglich, in der der Staat über die Arbeitsplätze (bzw. Ausbildungsplätze) verfüge. …
Die Studie untersucht die zentralen, sich aus der Petition und der Ablehnungsbegründung des Petitionsausschusses ergebenden juristischen Fragen. Wobei im Rahmen der vorliegenden Studie eine abschließende Untersuchung nicht möglich ist. …
Verfassungsrechtliche Beurteilung der aktuellen Rechts- und Faktenlage
… Zwischen den ermittelten verfassungsrechtlichen Anforderungen an Gesetzgebung und Verwaltung einerseits und der in der Einleitung dargestellten, statistisch erfassten Situation im Ausbildungswesen eine erhebliche Diskrepanz. Allein, … , fehlt es bislang weitgehend an einzelgesetzlichen Regelungen zur Verwirklichung des Verfassungsauftrages (Staatszielbestimmung) aus Art. 12 I GG i.V.m. Art. 3 GG sowie dem Sozialstaatsprinzip, interpretiert im Licht des UN-Sozialpaktes; ein unmittelbar einklagbares Grundrecht ist im Grundgesetz bislang nicht verankert und auch durch Interpretation nicht zu ermitteln; die bestehende Staatszielbestimmung ist zwar durch die Auslegung des UN-Sozialpaktes durch den CESCR in erheblichem Maße konkretisiert, bedarf allerdings der weiteren Konkretisierung durch die Gesetzgebung, um justiziabel zu werden. …
Zunächst lässt sich feststellen, dass seit vielen Jahren nicht ausreichend Ausbildungsstellen für alle Bewerber/-innen vorhanden sind, geschweige denn eine Auswahlmöglichkeit. Das Bundesverfassungsgericht hatte in der Entscheidung zur Ausbildungsplatzumlage den im Gesetz als Zielsetzung genannten Bedarf an Stellenangeboten bei 12,5 Prozent über der Zahl der Bewerber/-innen gebilligt. Der Gesetzgeber hat bisher keine erkennbaren Maßnahmen ergriffen, die dieses Stellendefizit auszugleichen vermögen. Auch der 2004 vereinbarte sog. Ausbildungspakt hat mittlerweile gezeigt, dass er nicht geeignet ist, das Defizit zu beheben. Die bislang ergriffenen Maßnahmen zur Schaffung von Ausbildungsstellen verletzen insofern schon nach dem Maßstab des Bundesverfassungsgerichts das Untermaßverbot. Nach den vom CESCR ermittelten Maßstäben zum UN-Sozialpakt sind in einer solchen Situation Maßnahmen des Gesetzgebers – und nicht nur der Verwaltung – geboten. …
Die Rechtslage in Bund und Ländern ist wegen Unterlassens hinreichender gesetzgeberischer Maßnahmen insbesondere wegen Verstoßes gegen die Gleichheitsrechte aus Art. 3 I, III GG i.V.m. Art. 12 I GG sowie dem Sozialstaatsprinzip, ausgelegt im Lichte des UN-Sozialpaktes,
in erheblichem Maße verfassungswidrig.
Zunächst stellt die Garantie eines Studienplatzes bei Unterlassung des Garantierens eines betrieblichen oder sonstigen beruflichen Ausbildungsplatzes eine Verletzung des Art. 13 II lit. b) IPwskR sowie des Art. 3 III GG dar. Denn die Garantie einer berufsqualifizierenden Ausbildung für Studienberechtigte stellt eine mittelbare Benachteiligung von Jugendlichen aus bildungsfernen Schichten, insbesondere Kindern aus Arbeiterklassefamilien, sowie Kindern von Migrant/-innen dar und verletzt damit Art. 3 III 1 GG, der eine auch nur mittelbare Benachteiligung wegen der Herkunft verbietet. Die Regelungen des UN-Sozialpaktes machen zudem darauf aufmerksam, dass lediglich für einen Studienplatz erhöhte Anforderungen an die (schulischen) Vorleistungen zulässig sind, während dies bei der sonstigen beruflichen Ausbildung nicht geschehen darf. Regelt das Verfassungsrecht entsprechend einen Anspruch auf einen Studienplatz, nicht aber auf einen Ausbildungsplatz, findet eine Umkehrung der Abstufung des UN-Sozialpaktes statt. Die Tatsache, dass die hochschulische Ausbildung in erster Linie durch staatliche Einrichtungen erfolgt, die berufliche jedoch durch private Anbieter, rechtfertigt eine solche Ungleichbehandlung nicht. Denn der Staat hat nicht nur die Möglichkeit der direkten oder mittelbaren Einwirkung auf private Ausbildungsbetriebe, er kann auch qualitativ vergleichbare Ausbildungsplätze selbst schaffen.
Zusammenfassung der wesentlichen Thesen
## 2. Die Verankerung sozialer Grundrechte ist dem deutschen Verfassungsrecht und auch dem Grundgesetz nicht fremd. In Form von Staatszielbestimmungen sind sie bereits vielfach vorhanden, aber auch als Grundrechte im engeren Sinn ist ihre Verankerung im Grundgesetz
nicht ausgeschlossen.
## 3. Das Grundrecht auf eine Ausbildungsstelle ist als Staatszielbestimmung bereits im Grundgesetz verankert. Es folgt aus Art. 12 I GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip.
## 4. Einen stärker konkretisierten Gehalt erhält dieses Grundrecht durch Interpretation im Licht des Art. 13 II b) UN-Sozialpakt sowie weiterer Bestimmungen des Paktes.
## 5. Die Vorschriften des UN-Sozialpaktes sind im Rahmen der völker- und menschenrechtsfreundlichen Auslegung in Art. 12 I, 3 I GG hineinzulesen.
## 6. Hineinzulesen sind die Normen des UN-Sozialpaktes in der Auslegung, die sie durch den UN-Ausschuss für soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte (CESCR) in Form der General Comments erhalten haben, soweit keine zwingenden verfassungsrechtlichen Regeln dagegen
sprechen.
## 7. Mit diesem Inhalt dienen sie als Staatszielbestimmungen als zwingende Gesetzgebungsaufträge sowie der Auslegung durch Verwaltung und Gerichte. Maßnahmen des Gesetzgebers müssen innerhalb eines angemessen kurzen Zeitraums ergriffen werden und überlegt, konkret und zielgerichtet sein. Gerade in diskriminierungsgefährdeten Bereichen wie beim Angebot von Ausbildungsplätzen sind hinreichende gerichtliche Verfahrensmöglichkeiten für Individuen und/oder Gruppen (z.B. Gewerkschaften) bereitzustellen.
## 8. Verfassungsrechtlich einklagbar sind die Bestimmungen in Form des Untermaßverbotes. Eine Verfassungsbeschwerde hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn Maßnahmen von Gesetzgebung und Verwaltung unterblieben oder gemessen an den grundrechtlichen Anforderungen gänzlich unzureichend sind.
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## 10. Der Anspruch auf einen beruflichen Ausbildungsplatz in Privatunternehmen bedarf zur Klagbarkeit nach herrschender Grundrechtsdogmatik einfachgesetzlicher Bestimmungen. Generell fehlen solche Bestimmungen bislang. Bei Problemen der unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung lässt sich allerdings grundsätzlich auf die Regelungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes zurückgreifen. Diese sind um weitere Tatbestände, insbesondere die soziale Herkunft, und einen Anspruch auf einen Ausbildungsplatz bei Diskriminierung (Kontrahierungszwang) zu ergänzen.
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## 12. Das vorhandene Grundrecht in Form der Staatszielbestimmung rechtfertigt weitgehende Eingriffe in die Berufsfreiheit der Unternehmen gem. Art. 12 I GG.
Der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights, ICESCR), kurz UN-Sozialpakt oder IPwskR genannt, ist ein multilateraler völkerrechtlicher Vertrag. Er wurde am 16. Dezember 1966 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen einstimmig verabschiedet und liegt seither zur Unterschrift auf. Er wurde inzwischen von 160 Staaten ratifiziert (Stand 5. Januar 2010), unter anderem von der Bundesrepublik Deutschland (17. Dezember 1973). Seine Einhaltung wird durch den UN-Ausschuss über Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte überwacht.
Die Studie in vollem Textumfang entnehmen Sie bitte aufgeführtem Link oder dem Anhang.
http://www.gew.de/Binaries/Binary81406/Studie+-+Fechner+komplett-web-neu.pdf
Quelle: GEW; Wikipedia
Dokumente: Studie___Fechner_komplett_web_neu.pdf