… Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Jugendsozialarbeit in Ostdeutschland…
Die Bevölkerungszahl ist überdurchschnittlich zurückgegangen. Im Zeitraum 2003 bis 2008 sank die gesamtdeutsche Bevölkerungsanzahl um 0,6 Prozent. In den ostdeutschen Flächenländern lag der Rückgang zwischen 2,0 Prozent in Brandenburg und 5,6 Prozent in Sachsen-Anhalt. Parallel dazu hat ein Alterungsprozess stattgefunden. Lag 1990 der Bevölkerungsanteil der 15- bis unter 25jährigen in Ostdeutschland bei rund 12,5 Prozent, sank diese Prozentzahl Jugendlicher bis zum Jahr 2008 auf ca. 11 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit ist seit 2005 rückläufig. Die Quote liegt in allen ostdeutschen Ländern aber noch im zweistelligen Bereich und ist damit fast doppelt so hoch wie in Westdeutschland. Die Anzahl der Bewerber auf dem Lehrstellenmarkt ist zwar zurückgegangen und branchen- bzw. gebietsspezifisch werden Ausbildungsplätze nicht besetzt, weil geeignete Bewerber fehlen würden. Dennoch gibt es ausbildungsplatzsuchende Jugendliche. Insgesamt reicht die Zahl betrieblicher Ausbildungsplätze nicht aus. Die staatlich finanzierte Ausbildung wird zurückgefahren. Für das Ausbildungsplatzprogramm Ost sieht die Bundesregierung nach 2013 keinen Bedarf mehr.
Die Armutsquote bei Jugendlichen in Ostdeutschland liegt bei über 30 Prozent, während im gesamten Bundesgebiet ca. 19 Prozent aller Jugendlichen und ca. 14 Prozent der Gesamtbevölkerung als arm gelten.
Die nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz von den Kreisen und kreisfreien Städten zu finanzierenden Leistungen der Jugendsozialarbeit sind nicht ausreichend. Für den gesamten Bereich der Paragrafen 11 – 14 stehen in Ostdeutschland nur noch 4,6 Prozent der Gesamtaufwendungen der Kinder- und Jugendhilfe zur Verfügung (Westdeutschland 6,3 Prozent). … Auffällig ist, dass sich trotz geringerer Anzahl von Kindern und Jugendlichen, die Fallzahlen in den Erziehungshilfen erhöht haben. Die Annahme, dass durch den demografischen Wandel der Bedarf an Jugendhilfeleistungen zurückgeht, bestätigt sich nicht, im Gegenteil, Bedarfe steigen und werden komplexer.
Die Sicht der Fach- und Leitungskräfte auf die Situation und die Hauptproblemlagen der Zielgruppe
… Auf die Frage, wie sie die Situation ihrer Zielgruppe beschreiben würden, zeichneten die Befragten ein weitgehend einheitliches Bild. Es setzt sich aus individuellen Faktoren der Jugendlichen, strukturellen Bedingungen und sich daraus ergebenden Folgen zusammen. …
Bei den Kindern und Jugendlichen wird eine soziale und emotionale Vernachlässigung und Verwahrlosung festgestellt. Sie kommen aus Familien, in denen sie keine Wertschätzung und Zuwendung erfahren und von gleichgültigen und/oder überforderten Eltern keine Unterstützung erhalten. Häufig gibt es nur einen Sorgeberechtigten. Innerhalb der Familie gibt es keine Tagesstruktur. Eltern stehen nicht als Bezugspersonen oder Vorbilder zur Verfügung, an denen man sich orientieren oder reiben könnte. Es werden keine Grenzen gesetzt. Es werden keine Rituale, wie gemeinsames Essen oder Geburtstagsfeiern, gepflegt. Die Jugendlichen können keine realistische Zukunftsvorstellung oder eigene Ziele und Wünsche entwickeln, ihnen fehlt es an Phantasie zur Lebensgestaltung. Sie haben Probleme verbindlich zu sein, haben eine geringe Eigenmotivation, Anstrengungsbereitschaft und mangelnde Eigenverantwortung. Das Selbstwertgefühl, die Frustrationstoleranz und die Beziehungsfähigkeit sind kaum ausgeprägt. Innerhalb der Familie werden Kinder und Jugendliche von Konflikten, zerrütteten Familienverhältnissen, Schulden, Drogenkonsum oder Delinquenz belastet. …
Strukturell sind die Jugendlichen oder ihre Eltern von Arbeitslosigkeit betroffen und leben langjährig auf Arbeitslosengeld II-Niveau. In der Schule treffen sie auf überforderte Lehrer und sehen sich einer Institution gegenüber, die ihrer Lebenswirklichkeit nicht gerecht wird, sondern einseitig auf Fakten- und Lernstoffvermittlung ausgerichtet ist. Sie leben mit dem Gefühl, perspektivlos zu sein. Jugendliche Spätaussiedler treffen auf ein Unfeld, das nicht integrationsbereit ist.
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Die Wahrnehmung von Jugendarmut durch die Fach- und Leitungskräfte
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Armut an Bildung, Beziehung und Erziehung
… Es fehlt Eltern nicht an Zeit. Diese Ressource wird aber nicht genutzt und als gemeinsame Zeit von Eltern und Kindern gestaltet. Die Eltern erziehen nicht. Es fehlt an Geborgenheit, Solidarität, Toleranz, Befähigung zur Eigeninitiative, Anregung und Liebe. Positive Rollenmuster, die Jugendliche übernehmen oder ablehnen könnten, existieren nicht. Den Eltern selbst fehlen Selbstwertgefühl und Perspektiven. Aufgrund eigener geringer Bildung können Eltern ihre Kinder nicht beim schulischen Lernen unterstützen. Die Institution Schule, die Eltern mit den auftretenden Problemen konfrontiert, meiden diese. Genauso wenig können sie in der beruflichen Orientierung ihren Kindern eine Hilfe sein. Durch die eigene Langzeitarbeitslosigkeit fehlen ihnen Kenntnisse aus der Arbeitswelt. Durch den ostdeutschen Transformationsprozess sind mögliche frühere Erfahrungen entwertet. …
Armut an Gesundheit
… Bei den Kindern und Jugendlichen wird eine ungesunde, unregelmäßige, mangelhafte und einseitige Ernährung festgestellt. Ein Bewusstsein für die Notwenigkeit guter Ernährung ist nicht ausgeprägt. Schülerinnen und Schüler frühstücken nicht zu Hause und bringen kein Essen mit in die Schule. An der Mittagsversorgung in der Schule nehmen viele Schülerinnen und Schüler, auch aus Kostengründen, nicht teil. Viele Einrichtungen der offenen Arbeit bieten deshalb einen Mittagstisch für Kinder und Jugendliche oder Koch- und Backangebote an. Von den Familien wird häufig das Angebot der Tafeln genutzt. …
Armut an gesellschaftlicher Teilhabe
Die Einengung der Lebenswelt von Familien, die von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind überträgt sich von der Eltern- auf die Kindergeneration. … In den Einrichtungen wurde beobachtet, dass Kinder und Jugendliche bestimmte Angebote nicht annehmen, weil diese außerhalb ihres Lebenshorizontes liegen, z.B. ein Ausflug aus dem Randbezirk ins Stadtzentrum. …
Es fehlt in den Familien an Kompetenzen in der Arbeitswelt, in der Bildung und im Sozialverhalten. Die Bildungseinrichtungen sind offenbar nicht in der Lage dies durch ausreichende Förderung zu kompensieren. Hinzu kommt, dass das Schulsystem selbst Scheitern produziert. Für die hohe Zahl von Jugendlichen, die die Schule ohne Abschluss verlassen, insbesondere die überproportionale Anzahl von Schülern, die im Förderschulsystem unterrichtet werden, gibt es trotz veränderter Situation auf dem ostdeutschen Lehrstellenmarkt keine echte berufliche Perspektive.
Gesellschaftliches und politisches Leben findet keinen Eingang in die Lebenswelt der Jugendlichen und existiert für diese praktisch nicht. Sozialeistungsempfänger empfinden sich als Objekte staatlichen Handelns. … Es besteht keine Einbindung in demokratische Prozesse.
Jugendliche mit Migrationshintergrund treffen in Ostdeutschland auf ein Umfeld mit wenig interkultureller Kompetenz und Sensibilität. Dies trifft auch auf Behörden und Jugendhilfeeinrichtungen zu. Es fehlt an ausreichenden Sprachkursen, die die Jugendlichen in die Lage versetzen, eine Ausbildung aufzunehmen. Die Komplexität und föderale Unterschiedlichkeit des Schul- und Ausbildungssystems kann von den Jugendlichen bzw. deren Eltern nicht erfasst werden.
Materielle Armut
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Ein finanzielles Problem von dem Kinder und Jugendliche direkt betroffen sind, ist die Überschuldung der Familie. Aber auch volljährige Jugendliche haben Probleme mit eigenen Schulden. …
Wahrgenommen wurde, dass Wohnverhältnisse, in denen Kinder und Jugendliche leben, beengt und teilweise auch ungenügend sind. Bei Jugendlichen kommt es immer wieder zu Mietschulden und im Extremfall auch zu Räumungen, weil es bei Aufnahme einer Ausbildung und Zuständigkeitswechsel der Sozialleistungsträger zu langen Bearbeitungszeiten ohne Geldmittelbezug kommt. …
Die Strukturen der Jugendhilfe und die Bedürfnisse der Jugendlichen
… Ein durchgängiges Grundproblem stellt die Schwäche des aus dem SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz) finanzierten Basisangebots der Jugendsozialarbeit dar. Durch die Finanzschwäche der Landkreise und kreisfreien Städte ist die Angebotsdecke dünn und die Ressourcenausstattung der Einrichtungen und Projekte schlecht. Dies betrifft Angebote der offenen und mobilen Arbeit und der schulbezogenen Jugendsozialarbeit. In vielen Einrichtungen wird nur noch eine Fachkraft in Teilzeit finanziert. …
Andererseits gibt es mittlerweile eine Programmlandschaft nicht aufeinander abgestimmter Förderungen, insbesondere an Schulen (Bundes-, Landes-, ESF- und Bundesagenturprogramme), die äußerst kritisch gesehen wird. Die Programme müssten an die Bedürfnisse der Jugendlichen mit ihren äußerst vielfältigen Lebensformen und Problemlagen individuell und flexibel angepasst werden können. Trotz der gern verwendeten Label „innovativ“ und „nachhaltig“ erfüllen diese meist befristeten Aktivitäten die Anforderungen nicht. Der Aufwand für die Administration ist hoch und die Ressourcen dafür nicht vorhanden. … Den Programmen fehlt in vielen Fällen die Einbindung in die Jugendhilfeplanung. Nötig wäre eine übergeordnete Koordinierung durch die Jugendhilfe. …
Früh ansetzende und präventive Angebote und Hilfen durch bessere Förderung in der Schule, ist Wunsch, nicht Realität. Der Jugendhilfepartner Schule „bewegt sich zu wenig“. Multiprofessionelle Teams fehlen, Schulpsychologen stehen mit immer weniger zeitlichem Umfang zur Verfügung. Die Schulsozialarbeit ist meist mit geringen Ressourcen ausgestattet. Eine Schulsozialarbeiterin / ein Schulsozialarbeiter in Teilzeit für mehrere hundert Schüler einer oder mehrerer Schulen ist die Regel. …
Blick nach vorn – Ansätze und Forderungen
## Jugendliche und Eltern dürfen von staatlichem Handeln nicht entmündigt werden. Sie müssen im Gegenteil zur Teilhabe befähigt werden. Der pauschale Entzug von Eigenverantwortung der Mittelverwendung für eine ganze Bevölkerungsgruppe kann keine Lösung sein, auch wenn im Einzelfall dieser Eingriff geboten sein mag. Gestärkt werden müssen präventive kostenfreie Bildungsangebote für Jugendliche und Familien.
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## Die Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter und Träger der Jugendsozialarbeit müssen für die materiellen Nöte Jugendlicher noch sensibler werden. Krisenintervention, Anwaltschaft und Kompetenzerwerb müssen für dieses Problemfeld Konzeptbestandteil der Angebote sein. Nachholbedarf gibt es beim Erwerb interkultureller Kompetenz in den Einrichtungen und Projekten, die außerhalb der Jugendmigrationsarbeit tätig sind, um die Integration von Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu fördern. Es bedarf in Ostdeutschland eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses, wie Integration auch der relativ wenigen Migranten erfolgreich sein kann.
## Da in Zukunft in Ostdeutschland die Zahlen der Schülerinnen und Schüler weiter rückläufig sein werden, müssen frei werdende Mittel zur Einrichtung multiprofessioneller Teams (Sozialpädagogen, Psychologen, Heilpädagogen) an Schulen genutzt werden. Der Schule käme dies nicht nur direkt, sondern zusätzlich durch die Vernetzungsleistung dieser Professionen im Sozialbereich zugute.
## Die Jugendhilfe braucht verlässliche Fachstandards, die die Qualität der Arbeit sichern und nicht die Kassenlage zum Maßstab nehmen. Es gibt in den östlichen Bundesländern auf politischer und fachlicher Ebene noch zu wenige Ideen, wie in Zukunft eine bedarfsgerechte Jugendhilfe aussehen könnte. Die vorhandenen arbeitsfeldübergreifenden Ansätze müssen gefördert und weiterentwickelt werden. Die Qualität der Arbeit muss vor quantitativen Überlegungen stehen. …
Quelle: BAG KJS
Dokumente: 20101022_bestandserhebung2010.pdf