Kaum Bewegung, viel Ungleichheit – Deutschland auf dem Weg zur geschlossenen Gesellschaft

Kaum eine andere Forderung in der politischen Diskussion ist so wenig umstritten wie die Forderung nach gleichen Chancen für alle: Chancen auf ein gutes Einkommen, auf einen sicheren Arbeitsplatz, auf ein gesundes Leben und auf ein hohes Ansehen – kurz: auf die Chance, eine gute Position in der Gesellschaft zu erreichen. Für alle soll die Chance bestehen, durch eigene Anstrengungen aus schlechteren Verhältnissen aufzusteigen. Doch gilt dieses Versprechen in unserer Gesellschaft tatsächlich, dass man unabhängig von sozialer Herkunft, Migrationshintergrund oder Geschlecht nach oben kommen kann? Gilt das Versprechen für alle oder doch nur für bestimmte Gruppen? Gab es früher diese Aufstiegschancen tatsächlich und hat sich über die Zeit hinweg daran etwas geändert? Glauben die Bürger und Bürgerinnen an diese Aufstiegschancen, oder wie nehmen sie ihre Aufstiegschancen wahr?

Die vorliegende Studie zu sozialer Mobilität in Deutschland untersucht diese und weitere Fragen eingehend. «Soziale Mobilität» deckt als allgemeinerer Begriff Schlagworte wie mangelnde Chancengleichheit, blockierte Aufstiegschancen oder die Furcht vor einer «Entleerung der Mitte» mit ab.

Auszüge aus der Studie „Kaum Bewegung, viel Ungleichheit“ von Reinhard Pollak im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung:
“ …
Die Entwicklung der sozialen Mobilität

Die Darstellung des Ausmaßes und der Entwicklung der sozialen Mobilität in Deutschland beginnt mit der Betrachtung der sogenannten absoluten Mobilitätsraten. Hierfür zählt man den Anteil derjenigen, die gegenüber dem Elternhaus eine andere Position einnehmen: Wie viel Prozent der Personen waren sozial mobil, wie viele davon sind auf- oder abgestiegen, und wie viele haben eine neue ähnliche Position in der gesellschaftlichen Hierarchie eingenommen? … Für Männer in Westdeutschland, die zwischen 1920-1929 geboren sind, ergibt sich eine Gesamtmobilitätsrate von 67%, d.h. zwei Drittel der Männer dieser Geburtsjahrgänge hatten zum Zeitpunkt der Befragung eine andere Klassenposition als ihr Vater. Bei Frauen lag der Wert bei 76% und damit höher als bei Männern. Jedoch ist dies auf den Vergleich mit der Position des Vaters statt der Mutter zurückzuführen. Dieses Ausmaß an Mobilität schwankt ohne erkennbaren Trend über die weiteren Geburtsjahrgänge hinweg. Insgesamt sind also ca. zwei Drittel der Männer und drei Viertel der Frauen in Westdeutschland sozial mobil.

In Ostdeutschland ist das Ausmaß an Mobilität für Frauen auf dem gleichen Niveau wie in Westdeutschland, ungefähr drei Viertel der Frauen sind sozial mobil, mit einem leicht abnehmenden Trend. Bei den Männern hingegen nimmt die Gesamtmobilität von knapp 70% in den Jahrgängen 1930-1949 auf ca. 60% in den Jahrgängen 1950-1978 ab, mit jeweils leichten Schwankungen.

Doch was bedeutet diese Mobilität? Verbergen sich dahinter soziale Auf- und Abstiege, oder sind es eher Veränderungen innerhalb einer Hierarchiestufe? … Unter den westdeutschen Männern erfährt gut jeder
zweite einen Auf- oder Abstieg. Dieser Wert steigt über die Geburtsjahrgänge hinweg leicht an. Dagegen nimmt der Anteil an horizontaler Mobilität über die Zeit hinweg deutlich ab, von 18% in den ältesten Geburtsjahrgängen auf 11% in den jüngsten. Entsprechend sind heute Auf- und Abstiege fünfmal häufiger als horizontale Veränderungen. Für westdeutsche Frauen lag der Anteil von Auf- und
Abstiegen etwas höher bei knapp 58%, die Anteile horizontaler Mobilität ebenfalls leicht höher bei knapp 20%. Diese Anteile schwanken leicht ohne erkennbaren Trend über die Geburtsjahrgänge, bei Frauen in Westdeutschland sind Auf- und Abstiege gut dreimal häufiger als horizontale soziale Mobilität. Für ostdeutsche Frauen ist das Bild wiederum recht ähnlich wie für westdeutsche Frauen. …

Insgesamt ist demnach die übergroße Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland gegenüber der Elterngeneration sozial mobil. Die Werte sind jedoch keineswegs ungewöhnlich, auch in anderen europäischen Ländern findet man ein solches Ausmaß an sozialer Mobilität. Auch findet man ein großes Maß an Ähnlichkeit zwischen Ost und West und eine vergleichsweise hohe Stabilität in den Mobilitätsraten über die Geburtsjahrgänge hinweg. Doch dahinter verbergen sich sehr unterschiedliche Entwicklungen… .

Gut ein Drittel aller westdeutschen Männer haben in den beiden ältesten und jüngsten Geburtsjahrgängen einen Aufstieg erlebt. In den Jahrgängen 1940-1959 lag der Anteil sogar bei etwas über 40%. Es gab also bei den westdeutschen Männern eine Phase, in der bestimmte Jahrgänge tatsächlich besonders gut ihre Aufstiegschancen nutzen konnten. Bei den Frauen hingegen sah die Entwicklung etwas anders aus. Nur gut 20% der westdeutschen Frauen aus den ältesten Jahrgängen konnten eine bessere Position im Vergleich zum Elternhaus erzielen. Jedoch stieg der Anteil in den mittleren Geburtsjahrgängen auf knapp 35% und verharrt seitdem auf diesem hohen Niveau. Die westdeutschen Frauen haben in den jüngeren Jahrgängen damit die Männer in den Aufstiegserfahrungen eingeholt.

Auch für die Abstiege zeigt sich für Westdeutschland eine Konvergenz
zwischen Männern und Frauen. Frauen hatten in den älteren Jahrgängen weit mehr Abstiege erlebt als Männer, über ein Drittel hatte sich schlechter gestellt als das Elternhaus. Jedoch sinkt der Anteil der Frauen, die einen Abstieg hinnehmen müssen, auf gut 20%. Bei den westdeutschen Männern hingegen nimmt der Anteil an Abstiegen seit den mittleren Jahrgängen deutlich zu und erreicht mit ca. 20% beinahe das Niveau der Frauen. Westdeutsche Männer büßen folglich trotz des Zwischenhochs in den mittleren Jahrgängen bei den Aufstiegen ihren Vorsprung gegenüber den Frauen ein, weil sie erstens zunehmend auch soziale Abstiege hinnehmen müssen und weil zweitens die Frauen über die Jahrgänge hinweg häufiger aufsteigen und seltener absteigen. …

Schafft man es von «ganz unten» nach «ganz oben»?
… Es gibt natürlich immer Fälle, in denen der Vater Tellerwäscher war und der Sohn oder die Tochter selbst Millionäre geworden sind. In den vorliegenden Daten schaffen es weniger als 1% der Kinder aus ungelernten Arbeiterpositionen, selbst eine leitende Angestelltenposition zu erhalten – und sind damit noch lange nicht zwangsläufig Millionäre geworden. … Kinder von Facharbeitern
beispielsweise haben in den älteren Geburtsjahrgängen nur sehr selten einen weiten Aufstieg erreicht. In den jüngeren Jahrgängen steigt dieser Anteil auf immerhin knapp 10% an, d.h. ca. 10% aller Facharbeiterkinder überspringen die Gruppe der (hoch) qualifizierten Angestellten und erreichen somit eine leitende Angestelltenposition. Gut 25% dieser Personen erlebten einen Aufstieg in eine benachbarte, höher gelegene Position (sie werden (hoch) qualifizierte Angestellte)
und weitere 20% steigen in die Klasse der ungelernten Arbeiter ab. … Es fällt auf, dass kurze Auf- und Abstiege bedeutend häufiger vorkommen als weite Auf- und Abstiege. Detailliertere Berechnungen zeigen, dass Männer in Westdeutschland ca. doppelt so viele kurze Aufstiege wie weite Aufstiege haben und ungefähr viermal so viele kurze Abstiege wie weite Abstiege. Jedoch zeigt sich bei den Abstiegen, dass über die Zeit hinweg sowohl der Anteil an kurzen Abstiegen als auch der Anteil an langen Abstiegen zunehmen. Für westdeutsche Frauen dagegen nehmen weite Aufstiege deutlich zu, gleichzeitig verringert sich der Anteil von kurzen Abstiegen über die Folge der Geburtsjahrgänge. Kurze Aufstiege sind im Schnitt dreimal so häufig wie lange Aufstiege für Frauen, bei den Abstiegen ist das Verhältnis 5:1 zugunsten der kurzen Abstiege. Für ostdeutsche Personen sieht man …, dass der Anteil von Aufstiegen generell zurückgeht. Insbesondere der Anteil von weiten Aufstiegen hat sich mehr als halbiert. Dagegen steigen für Männer und Frauen die Anteile an kurzen Abstiegen merklich an. Insgesamt sind die Entwicklungen für Männer und Frauen in Ostdeutschland hinsichtlich der Art der Auf- und Abstiege sehr ähnlich, bei Frauen liegt das Verhältnis zwischen kurzen und weiten Abstiegen etwas höher als bei Männern, im Schnitt 4,5 zu 1 bei Frauen und 2,5 zu 1 bei Männern. …

Wie kann man das geringe Ausmaß an sozialer Mobilität in Deutschland erklären?
… Auch wenn der indirekte Weg über die Bildung der wichtigste Einzelfaktor zur Erklärung für ein hohes oder geringes Ausmaß an sozialer Mobilität ist, so kann dieser indirekte Pfad im Durchschnitt nur weniger als 50% des Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft und eigener Position erklären. Der größere Teil des Zusammenhangs verläuft daher nicht vermittelt über die Bildung. …

Die starke Prägung der Berufe überträgt sich auch auf die Kinder. Der Wissensvorsprung über den Beruf der Eltern umfasst die Inhalte des Berufes, das Fachvokabular und die Zugangsvoraussetzungen (Schule, Ausbildung, Studium). Die Kinder können über die Eltern oder Kollegen der Eltern leichter an Praktika oder Jobs kommen, und sie haben insgesamt in der Regel ein positives Bild von diesem Beruf. Entsprechend häufig wird dieser Beruf auch gewählt, um Abstiegsmobilität zu vermeiden.

In Deutschland ist diese Beruflichkeit unter anderem durch das duale Ausbildungssystem sehr stark geprägt. Mehrere hundert staatlich anerkannte Ausbildungsberufe kanalisieren Jugendliche und junge Erwachsene in einen bestimmten Beruf hinein. Auch im Studium wird in der Regel auf einen bestimmten Beruf hin ausgebildet, sei es Medizin, Jura, Lehramt etc. Allgemeine Studiengänge wie «liberal arts» in den USA findet man in Deutschland kaum. Die Wahl weniger klar definierter Ausbildungs- oder Studiengänge wird häufig mit der Frage quittiert, was man damit später machen will – und der Fragende erwartet in der Regel eine Berufsbezeichnung als Antwort. Hat man sich in Deutschland einmal für eine berufliche Tätigkeit entschieden, wechselt man nur noch sehr selten in einen anderen Beruf, sondern bleibt meist das ganze Leben in diesem Beruf tätig. Auch wenn es heute häufiger Diskussionen um die Notwendigkeit von beruflicher Flexibilität und lebenslangem Lernen gibt, ist die Prägung durch die Berufe nach wie vor in der Gesellschaft dominant. …

Insgesamt verstärkt also die starke Beruflichkeit des deutschen Ausbildungssystems und des deutschen Arbeitsmarktes die Tendenz zu einem insgesamt geringen Ausmaß an sozialer Mobilität in Deutschland, neben der starken Bildungsungleichheit und der vergleichsweise geringen Bildungsexpansion im Hochschulbereich. …

Was können Politik und Gesellschaft tun, um mehr Chancengleichheit
zu ermöglichen?

Deutschland weist im internationalen Vergleich eine sehr geringe soziale Mobilität auf, oder anders formuliert: Die Chancen, gesellschaftlich auf- oder abzusteigen, sind in kaum einem anderen industrialisierten Land so ungleich verteilt wie in Deutschland. …
Was können Politik und Gesellschaft tun, damit auch in Deutschland mehr
Chancengleichheit in der Generationenfolge möglich wird? Der vielleicht
wichtigste Punkt ist Aufklärung. Vielen Bürgerinnen und Bürgern ist nicht bewusst, dass wir uns deutlich mehr Chancenungleichheiten leisten als andere Länder und dass diese Ungleichheit nicht notwendig ist, um den Lebensstandard zu halten. Im Gegenteil, man kann sich überlegen, ob es nicht allen besser gehen würde, wenn es kein generationenübergreifendes Verharren in niedrigen Positionen oder gar ein generationenübergreifendes Angewiesensein auf Transferleistungen gäbe. Die mangelnde Chancengleichheit sollte in der politischen und gesellschaftlichen Debatte einen viel breiteren Raum einnehmen, und alle Mitglieder und Entscheidungsträger in der Gesellschaft sollten eine «herkunftsspezifische Folgenabschätzung» ihres Handelns vornehmen.

Lehrer sollten versuchen, bei ihren Grundschulempfehlungen die soziale
Herkunft des Kindes weitgehend auszublenden. Bei gleicher Leistung der Kinder bekommt ein Kind aus der Arbeiterklasse seltener eine Grundschulempfehlung für das Gymnasium als ein Kind von leitenden Angestellten, mit dem Argument, dies sei besser für das Wohl des Kindes.

Ausbildende und Betriebe sollten insbesondere darauf achten, Jugendlichen mit Migrationshintergrund bei gleicher Qualifikation die gleichen Chancen auf Ausbildungsplätze einzuräumen.
Universitäten sollten ihre Auswahlprozesse für Studienplätze dahingehend untersuchen, ob sie nicht verdeckt Herkunftsindikatoren verwenden. Ein Punktesystem etwa, das längere Auslandsaufenthalte vor dem Studienbeginn belohnt, wird tendenziell Kinder aus gut gestellten Familien bevorzugen.

Die Politik sollte sich gut überlegen, bedarfsunabhängige Elite-Stipendien zu vergeben. Zwar ist es bestimmt gut, die Besten zu fördern. Die Frage ist allerdings, ob die besten Studierenden das Geld wirklich benötigen oder ob sie nicht sowieso aus reicheren Elternhäusern kommen.

Die Analysen zu den wahrgenommenen Einflussfaktoren von gesellschaftlichen Aufstiegen in der Bevölkerung haben ein gewisses Defizit im Wissen aufgezeigt, welche Faktoren letztlich entscheidend sind. Die Bildung wird zwar richtigerweise als der wichtigste Einzelfaktor angesehen, der die soziale Mobilität beeinflusst.
Aber die Bildung ist in hohem Maße von der sozialen Herkunft abhängig,
und in der Summe sind neben der Bildung andere Herkunftseffekte sogar noch wichtiger. Es gilt, diese Befunde stärker ins Bewusstsein aller relevanten Akteure zu rufen.

… Wie die Diskussion der Ursachen gezeigt hat, gibt es in Deutschland
einige institutionelle Regelungen, die die Chancenungleichheiten tendenziell vergrößern: das Fehlen einer systematischen frühkindlichen Förderung; die Halbtagsschule und fehlende Betreuungsmöglichkeiten; die frühe Aufteilung der Kinder nach der vierten Klasse; das recht starre zwei- bzw. dreigliedrige Schulsystem mit wenigen Aufstiegen zwischen den Schulformen; … . Dies sind alles Regelungen, die generell weniger Chancengleichheiten ermöglichen. Vorschläge zur Verbesserung dieser Regelungen gibt es seit Jahren, doch zeigen die Debatten in Hamburg und Baden-Württemberg um die Verlängerung der Grundschulzeit oder die Zusammenlegung von Haupt- und Realschule, mit welchen Widerständen die Politik von Seiten der Eltern rechnen muss. Auch hier bedarf es einer intensiven Aufklärungsarbeit, dass von gleicheren Bildungs- und Lebenschancen alle profitieren werden. Erfolgreiche Beispiele in den europäischen Nachbarländern gibt es genug. „

Die Studie in vollem Text entnehmen Sie bitte aufgeführtem Link oder dem Anhang.

http://www.boell.de/presse/presse-pressemitteilung-aufstiegschancen-gesellschaft-10424.html

Quelle: Heinrich-Böll-Stiftung

Dokumente: 201010_Studie_Soziale_Mobilitaet_1_.pdf

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