Unzureichende Bildung zieht durch erhöhte Kriminalität hohe Folgekosten nach sich

Auszüge aus der Studie „Unzureichende Bildung: Folgekosten durch Kriminalität“ von Horst Entorf und Philip Sieger im Auftrag der Bertelsmann Stiftung:
“ … Kindern und Jugendlichen durch Bildung eine Perspektive für ihr weiteres Leben zu eröffnen und in Bildungsinstitutionen gesellschaftliche Werte, Empathie und soziales Miteinander einzuüben, erscheint … als eine mögliche Strategie der Kriminalprävention. Ein Blick auf die Bildungsstruktur von Haftinsassen stützt diesen Ansatz. Ein großer Anteil der Straftaten wurde von Personen mit niedriger Schulbildung verübt. Bildungspolitische Maßnahmen könnten ganz erheblich dazu beitragen, Fälle von Mord, Totschlag und anderer Gewalt- und Eigentumsdelikte zu reduzieren und damit verbundene Kosten für Opfer und Gesellschaft einzusparen. …

Auf der Grundlage der in der vorliegenden Studie durchgeführten sorgfältigen ökonometrischen Analysen kann erstmals für Deutschland belegt werden, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen unzureichender Bildung in Form eines fehlenden Hauptschulabschlusses und kriminellem Verhalten gibt. Die Analysen basieren dabei einer seits auf Individualdaten einer Bevölkerungsstichprobe von knapp 1.200 Probanden mit und ohne krimineller Erfahrung und anderer seits auf einem insgesamt 25 Jahre umfassenden aggregierten Paneldatensatz mit Daten aus den westdeutschen Bundesländern. Die Analyse der Bevölkerungsstichprobe weist eindeutig auf einen signifikanten Zusammenhang zwischen Bildung und Kriminalität hin, der auch nach Berücksichtigung anderer wichtiger Einflussfaktoren auf kriminelles Verhalten Bestand hat. In Anlehnung an den aktuellen Stand ökonometrischer Verfahren und in Analogie zur einschlägigen internationalen Fachliteratur kann dieser Zusammenhang als kausal interpretiert werden. …

Betrachtet man den Einfluss der Bildungsvariablen auf kriminelle Verhaltensweisen, so zeigt sich, dass der Abbruch einer Ausbildung, ein fehlender Hauptschulabschluss sowie der Besuch der Hauptschule an sich eine signifikante, meist hochsignifikante Rolle bei der Erklärung kriminellen Verhaltens spielen. Aufgrund des Einflusses dieser Variablen ist zu vermuten, dass insbesondere bei Jugendlichen, die ihren Schulabschluss nicht geschafft haben oder – aus welchen Gründen auch immer – ihre Ausbildung nicht erfolgreich zu Ende führen konnten, die Perspektivlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt und die damit verbundenen Folgen für ihre gesellschaftliche Teilhabe dazu führen, dass häufiger kriminelle Verhaltensweisen an den Tag gelegt werden und die Gefahr besteht, in die Kriminalität abzurutschen. Um kriminellem Verhalten wirksam vorzubeugen, ist es daher von entscheidender Bedeutung, Jugendlichen Bildungschancen und, damit verbunden, die Aussicht auf ein selbstbestimmtes und glückliches Leben in Beruf und Gesellschaft zu eröffnen. Die Reduktion des Anteils von Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss ist daher als wirksame präventive Maßnahme gegen Eigentums- und Gewaltdelikte anzusehen, ebenso wie das Ziel, jedem Jugendlichen einen Ausbildungsabschluss zu ermöglichen. …

Berechnung der Folgekosten unzureichender Bildung
… Vor dem Hintergrund … statistisch gesicherten Erkenntnisse zum Zusammenhang zwischen unzureichender Bildung und Kriminalität kann gezeigt werden, dass bereits eine Verringerung des Anteils der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss um einen Prozentpunkt die Zahl der begangenen Fälle von Raub und Erpressung um fast 7 Prozent reduzieren könnte, die von Mord und Totschlag um rund 4 Prozent und die Diebstahldelikte um fast 4 Prozent (leichter Diebstahl) bzw. 2 Prozent (schwerer Diebstahl). … Eine Halbierung des Anteils der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss würde demnach die Fallzahlen und die Kosten für die im Jahr 2009 dokumentierten Straftaten deutlich verändern. …

Die hypothetische Reduktion unzureichender Bildung um 50 %, so würde das die Fallzahlen um rund 27 % verringern. Die gesellschaftlich bedeutendste Wirkung dürfte jedoch durch die verringerte Zahl von
Tötungsdelikten eintreten, deren Fallzahl um rund 18 % zurückgehen würde. Genaue Schlussfolgerungen über die Schadenssummen sind jedoch erst dann möglich, wenn die verschiedenen Delikthöhen durch eine Gewichtung mit den Kosten vergleichbar gemacht wurden. … Die Bestimmung der Kosten der Kriminalität ist ein komplexes, schwieriges Unterfangen, das keine vollständig befriedigenden und exakten Antworten liefern kann. Gleichwohl ist die Abwesenheit jedweder Information über die Höhe eines Schadens, den es auf unterschiedliche Art und Weise zu vermeiden gilt, das ungleich größere Problem. …

Das Bundeskriminalamt (BKA) (2009) weist für das Berichtsjahr 2008 Kriminalitätsschäden in Höhe von 9.960 Millionen Euro aus. Diese Summe orientiert sich allerdings ausschließlich an den direkt messbaren materiellen Schäden der polizeilich bekannt gewordenen Fälle von Raub, Diebstahl, Betrug und Wirtschaftskriminalität. Schäden an Leib, Leben oder Psyche des Opfers, z.B. in Folge von Verbrechen wie Mord, Totschlag und Vergewaltigung, werden (fast) keiner Bewertung unterzogen (und oft nur mit symbolischen 1-Euro-Beträgen berücksichtigt).

… Unterstützt durch Forschungsergebnisse für die USA (Miller u.a. 1996), die seelische und körperliche Schäden berücksichtigen, ist auch für Deutschland mit einer volkswirtschaftlichen Gesamtschadenssumme
aus Kriminalität zu rechnen, die ein Vielfaches des vom BKA ausgewiesenen Wertes beträgt. So stellt Spengler (2004b) eine Rechnung unter Verwendung des Wertes eines „statistischen Lebens“ vor, in der sich allein für die vom BKA (2004) für das Jahr 2003 in der PKS berichteten 1.996 Todesopfer (ohne Straßenverkehr) mit ca. 4 bis 5 Mrd. Euro bereits ein wesentlich höherer Schaden ergibt als für das Massendelikt Diebstahl (ca. 2,76 Mio. Fälle im Jahr 2004), dessen
Schaden das BKA (2004) mit 2,42 Mrd. Euro bezifferte. …

Das britische Home Office nimmt bei der Gewichtung der Straftaten in Europa eine Vorreiterrolle ein. Es hat unlängst ein Update seiner Berechnung der Kosten der Kriminalität vorgelegt. Diese berücksichtigt nicht nur den Wert entwendeter Güter, sondern auch physische und emotionale Schäden der Opfer, vorsorgende Versicherungsleistungen (z.B. hinsichtlich PKWDiebstahl, Wohnungseinbruch), verringerte Produktivität der Opfer, Kosten für das Justizsystem (nachgelagerte Prozesskosten, Haftaufenthalte) und anderes mehr. In dieser Studie soll daher – … auf umgerechnete britische Zahlen zurückgegriffen werden. …

Um die hypothetische Kostenersparnis für einen möglichst aktuellen Zeitpunkt (für das Jahr 2009 liegen alle notwendigen Daten vor) zu berechnen, wird folgende Strategie verfolgt: Auf der Grundlage
der prozentualen Reduktion und der Reduktion der Fallzahlen wird der (absolute) Rückgang mit den entsprechenden Kosten pro Straftat multipliziert. …
Auf dieser Grundlage … wurden folgende Durchschnittskosten in Euro je Delikt ermittelt und den nachfolgenden Berechnungen zugrunde gelegt: ## Tötungsdelikt (Mord oder Totschlag): 2,146 Millionen Euro
## Raub und räuberische Erpressung: 10.700 Euro
## Diebstahl (beide Kategorien): 1.200 Euro …

Anders als bei einer ausschließlichen Konzentration auf die Fallzahlen wird bei der Bewertung der Straftaten durch ihren Schaden klar, dass nicht Diebstahl sondern Tötungsdelikte von zentraler Bedeutung sind. Von dem Schaden in Höhe von insgesamt ca. 8,2 Mrd. Euro, den die in dieser Studie betrachteten Delikte verursachen, fallen auf Mord und Totschlag 59 % (4,9 Mrd. Euro) der Schadenssumme. Entsprechend ist nicht überraschend, dass von den rund 1,42 Mrd. Euro, die man bei einer 50 %-Reduktion unzureichender Bildung einsparen könnte, allein 0,893 Mrd. Euro auf die 416 in diesem Szenario vermiedenen Tötungsdelikte entfallen.

Kosten bzw. Kostenersparnisse lassen sich sowohl auf Bundesebene als auch auf Landesebene berechnen. … Basierend auf den Daten der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik 2009 werden für jedes Bundesland die Kosten über die verschiedenen Delikte aggregiert. … Für den Zweck einer besseren Vergleichbarkeit, werden im Folgenden Pro-Kopf-Größen ausgewiesen. … Bei einer hypothetischen Reduktion der unzureichenden Bildung um 50% zeigen sich nicht überraschend die höchsten Ersparnismöglichkeiten pro Einwohner für jene Bundesländer, die die höchsten Kosten der Kriminalität pro Einwohner haben. Das sind die Stadtstaaten Bremen (ca. 35,11 Euro Einsparmöglichkeit), Hamburg (27,95 Euro) und Berlin (33,46 Euro). Dementsprechend sind die geringsten Kostenersparnisse für die Länder Saarland (11,99 Euro), Baden-Württemberg (13,10 Euro) und Rheinland-Pfalz (13,33 Euro) zu beobachten, also Bundesländer mit relativ geringer Kriminalitätsbelastung. …

Reduzierung der Zahl der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss
Reformansätze aus Sicht der Bertelsmann Stiftung

Auch wenn die Hälfte der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss im Rahmen von Maßnahmen des Übergangssystems einen Schulabschluss nachholt, ist das keine auf Dauer hinnehmbare Lösung der Probleme im allgemein bildenden Schulsystem. Sicherlich sind diese Maßnahmen heute notwendig und für einige Jugendliche auch erfolgreich. Sie kosten jedoch Lebenszeit auf Seiten der Jugendlichen und die Gesellschaft viel Geld. Zudem sollte man den jungen Menschen die oftmals demotivierenden und frustrierenden schulischen Erlebnisse ersparen. Die Bildungspolitik muss es daher als eine ihrer wichtigsten und vor allem drängendsten Aufgaben ansehen, die Zahl der Risikoschüler und der Schulabgänger ohne Abschluss zu verringern.

Welche Wege müssten aber bildungspolitisch eingeschlagen werden, um den Anteil der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss zu halbieren? Ein genauerer Blick auf die Gruppe der Abgänger ohne Hauptschulabschluss kann hier erste Hinweise geben. Von den Jugendlichen, die Jahr für Jahr die allgemein bildenden Schulen ohne einen Hauptschulabschluss verlassen, stammen mehr als die Hälfte (54,6 Prozent) aus Förderschulen und rund 27 Prozent aus Hauptschulen. Die verbleibenden
19 Prozent kommen aus allen übrigen Schulformen. Bildungspolitische Maßnahmen zur schnellen Intervention können sich damit zunächst auf wenige Schulen konzentrieren – das Förderschulsystem sowie Hauptschulen in Brennpunkten.

## Förderschulsystem konsequent umbauen

In Deutschland hatten im Jahr 2008/2009 482.400 Schülerinnen und Schüler der Primar- und der Sekundarstufe einen besonderen Förderbedarf. Von ihnen wurden 81,6 Prozent in eigens dafür eingerichteten Förderschulen unterrichtet. … Im Bundesdurchschnitt hat im Jahr 2008 jedoch über Dreiviertel aller Förderschulabgänger die Schule ohne einen Regelschulabschluss verlassen. Offensichtlich gelingt es im Rahmen der separaten Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf nicht, diesen jungen Menschen durch zumindest das Erreichen eines Hauptschulabschlusses Chancen auf eine spätere Ausbildung, Berufstätigkeit und somit Teilhabe and er Gesellschaft zu gewährleisten. … Das bisherige Förderschulsystem muss deswegen überdacht und deutlich reduziert werden. Dazu hat sich Deutschland mit der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Übrigen auch rechtlich verpflichtet.
… Der Umbau des Systems darf keinesfalls überhastet zu Lasten der Kinder mit speziellem Förderbedarf erfolgen. Entscheidend ist aber, dass in allen Bundesländern und allen Schulformen jetzt die Weichen in Richtung eines inklusiven Schulsystems gestellt und konkrete Zeitpläne für die Umsetzung vorgelegt werden. Je zügiger der Umbauprozess gelingt, desto schneller werden sich Erträge in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht zeigen.
## Hauptschulen – schwierige Milieus identifizieren und verändern

Während es mancherorts in Deutschland durchaus gute Hauptschulen gibt, an denen Abschlüsse auch Anschlüsse in den Ausbildungsmarkt darstellen, müssen die Hauptschulen, in denen zu viele Jugendliche an ihrem Schulabschluss scheitern, identifiziert und gezielt verändert werden. …

Für diese … Hauptschulen sollte ein Sonderprogramm entwickelt werden, hier muss gezielt und zusätzlich investiert werden. Grundsätzlich gilt: Der Ungleichheit in den Ausgangslagen der Kinder kann nur durch eine ungleiche Mittelverteilung begegnet werden. Diese Schulen brauchen die besten Lehrer und Schulleiter sowie weitere pädagogische Fachkräfte, die die Kinder und ihre Eltern begleiten und unterstützen. Dafür müssen finanzielle Anreize gesetzt werden. Wer
sich außerordentlich engagiert und in Schulen in sozialen Brennpunkten jeden Tag vor schwierigen Aufgaben steht, muss dafür Wertschätzung erhalten, auch in monetärer Form. Ein vorrangiger Umbau dieser Schulen zu Ganztagsschulen könnte darüber hinaus wesentlich zu mehr Chancengerechtigkeit und einer Verbesserung des Lernerfolgs der Kinder
beitragen. ….

…Das zentrale Ziel muss es sein, den Kindern ein Aufwachsen
und Lernen unter besseren Entwicklungsmilieus zu ermöglichen. Kinder brauchen Vorbilder unter ihresgleichen, die sie zum Lernen anspornen und ihnen neue Wege aufzeigen. Lehrer brauchen für guten Unterricht das Gefühl, etwas bewegen und motivierende Leistungsanforderungen stellen zu können. An manchen Stellen werden diese Herausforderungen von bildungspolitischen Akteuren ebenso wie von Eltern, Lehrern und Schülern ein Umdenken, mehr Flexibilität bis hin zu einem Paradigmenwechsel erfordern. Im Interesse der Kinder und unserer Gesellschaft sollten wir bereit sein, diese Schritte zu gehen. …
## Lebensperspektiven schaffen – Recht und Pflicht auf Ausbildung

Das Erreichen eines Schulabschlusses alleine eröffnet noch keine Lebensperspektiven für junge Menschen. Der entscheidende Schritt, der über die Integration in den Arbeitsmarkt und die sozialen Teilhabechancen entscheidet, ist der Abschluss einer vollqualifizierenden beruflichen Ausbildung. Im Jahr 2007 hatten fast 1,5 Millionen junge Erwachsene im Alter von 25 bis 34 Jahren
alleine in Westdeutschland keine abgeschlossene Ausbildung – … . Jeder Fünfte in dieser Altersgruppe war von Ausbildungslosigkeit
betroffen, neben Jugendlichen ohne und mit Hauptschulabschluss mittlerweile sogar in nicht unerheblichem Umfang Realschulabsolventen. Ein Schulabschluss alleine garantiert noch keine berufliche Perspektive. In der Konsequenz muss jeder ausbildungswillige Jugendliche eine Berufsausbildung erwerben können, sei es in betrieblicher, vollzeitschulischer oder einer staatlich getragenen subsidiären schulischen Ausbildungsform. Der derzeitige Maßnahmendschungel des Übergangssystems muss abgebaut werden. Keine Übergangsmaßnahme darf mehr ohne qualifizierenden Abschlussenden.
Somit würde auf der einen Seite der Staat einen Rechtsanspruch auf eine Ausbildung gewähren und auf der anderen Seite bestünde für jeden Einzelnen eine Ausbildungspflicht bzw. eine Bildungspflicht, die nicht mehr an eine bestimmte Anzahl von Schuljahren gebunden ist, sondern an das Erlangen eines Ausbildungsabschlusses bzw. des Abiturs. …

www.bertelsmann-stiftung.de
www.wirksame-bildungsinvestitionen.de
www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/media/xcms_bst_dms_32620_32621_2.pdf
www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-AAE92493-133308A9/bst/hs.xsl/nachrichten_103963.htm?drucken=true&
www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-5AB6A7FE-9D7ADEFB/bst/hs.xsl/nachrichten_103963.htm

Quelle: Bertelsmann Stiftung

Dokumente: unzureichende_Bildung_Folgekosten_druch_Kriminalitaet.pdf

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