Auswirkungen der demographischen Entwicklung auf dem Ausbildungsmarkt

Seit mehreren Jahren gelingt einer beträchtlichen Zahl von Jugendlichen der Übergang von der Schule in Ausbildung und Beschäftigung nur mit großen zeitlichen Verzögerungen. So befinden sich im Jahr 2008 ca. 400.000 Schulabsolventen nach der allgemein bildenden Schule zunächst in einer der zahlreichen Maßnahmen des sogenannten Übergangssystems. Dies ist für die betroffenen Jugendlichen kein guter Start in das Erwerbsleben, zudem belastet es die öffentlichen Haushalte derzeit mit mehr als 4 Mrd. € jährlich. Die Situation erhält eine neue Dimension durch die demographische Entwicklung und der daraus resultierenden Gefahr eines zukünftigen
Fachkräftemangels. In diesem Zusammenhang wird die These vertreten, dass die virulenten Probleme der schwierigen Einmündung in Ausbildung und Beschäftigung mehr oder weniger demographisch gelöst werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie der aufgespannte
Sachzusammenhang zwischen demographischer Entwicklung, Fachkräftebedarf, Ausbildungsmarkt und Übergangssystem aufgeklärt werden kann.

Die Expertise verfolgt das Ziel, vorliegendes Datenmaterial im Hinblick auf diesen Zusammenhang auszuwerten. Dabei stehen die folgenden Fragestellungen im Vordergrund:
1. Welche möglichen Auswirkungen hat die demographische Entwicklung auf den zukünftigen Bedarf an Fachkräften?
2. Welche Optionen haben Unternehmen zur Deckung eines zukünftigen Fachkräftebedarfs? Welchen Stellenwert besitzt in diesem Zusammenhang die Rekrutierung über die (duale) Berufsausbildung?
3. Welche möglichen Auswirkungen hat die demographische Entwicklung auf die Struktur des (a) Übergangssystems; (b) Ausbildungsmarktes?
4. Welche möglichen Konsequenzen resultieren aus dem Zusammenwirken von Fachkräftebedarf und Berufsausbildung für das Übergangssystem?

Auszüge aus der Expertise „Einfluss der demographischen Entwicklung auf das Übergangssystem und den Berufsausbildungsmarkt“ von Prof. Dr. Dieter Euler im Auftrag der Bertelsmann Stiftung:
„Die Daten zur demographischen Entwicklung sind zumindest für die hier interessierenden Alterskohorten eindeutig. Zwei Größen dokumentieren den Ausgangspunkt:
(1) Die Bevölkerungszahl in der Kohorte der 16- bis 19-Jährigen sinkt von ca. 2,69 Mio. (2008) auf ca. 2,04 Mio. (2025); dies entspricht einem Rückgang von ca. 24,3 %.
(2) Die Bevölkerungszahl in der Kohorte der 17- bis 25-Jährigen sinkt von ca. 7,71 Mio. (2008) auf ca. 6,52 Mio. (2025); dies entspricht einem Rückgang von ca. 15,4 %.

Der zukünftige Fachkräftebedarf kann u.a. im Hinblick auf das Qualifikationsniveau sowie die verschiedenen Berufssektoren konkretisiert werden. …

Hinsichtlich der Bedarfsentwicklung in den unterschiedlichen Berufssektoren kommt die Qualifikationsforschung zu dem Ergebnis, dass die Verschiebung von den produktions- zu den primären und sekundären Dienstleistungsberufen anhält. Arbeitskräftelücken im Zeithorizont 2025 konzentrieren sich entsprechend den Angebot-Nachfrage-Projektionen auf folgende Berufshauptfelder: Gastronomie- und Reinigungsberufe; Gesundheits- und Sozialberufe/Körperpflege; künstlerische sowie Berufe mit geistes-, sozial-, rechts-, natur- oder wirtschaftswissenschaftlichen Grundlagen. …

Es besteht weitgehend Konsens darüber, dass die demographische Entwicklung nicht zwangsläufig zu einer Verlagerung der betroffenen Jugendlichen aus dem Übergangssystem in eine (duale) Berufsausbildung führt. Pointiert wird dies über zwei Zahlen im Nationalen Bildungsbericht 2010 quantifiziert. Demnach wird davon ausgegangen, dass die Zahl der Jugendlichen im Übergangssystem aufgrund der demographischen Entwicklung bis 2025 zwar zurückgehen wird, jedoch ohne Veränderungen und effektive Interventionen immer noch auf einem Niveau von ca. 238.000 Jugendlichen bestehen bleibt. Die jährlichen Kosten würden sich bei dieser Zahl auf ca. 3,3 Mrd. € jährlich (gegenüber 4,3 Mrd. € im Jahr 2010) belaufen. …

Auswirkungen der demographischen Entwicklung auf den zukünftigen Fachkräftebedarf
In der berufsbildungspolitischen Diskussion wird die demographische Entwicklung zunächst in einem engen Zusammenhang mit der Frage der Sicherung des zukünftigen Fachkräftenachwuchses betrachtet. Das (Berufs-)Bildungssystem wird in diesem Zusammenhang instrumentell mit der Verantwortung verbunden, über die Aktivierung aller Begabungsreserven den gesellschaftlichen Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften zu sichern – eine schon in früheren Zeiten mit ähnlichen Bedarfskonstellationen auf dem Arbeitsmarkt wiederholt erhobene Forderung. In diesem Argumentationskontext kommt auch die Zukunft des Übergangssystems in die Betrachtungen. …

„Aussagen, dass das Arbeitskräfteangebot – bedingt durch die demographische Entwicklung und Abwanderung – zurückgehen wird, bleiben an der Oberfläche, wenn nicht aufgezeigt werden kann, für welche Tätigkeiten in welchen Branchen Fachkräfte benötigt werden.“ (BMBF, 2009, 50) Die folgenden Darstellungen gehen nicht hinunter bis auf Tätigkeiten bzw. Branchen, sondern sie zeigen auf der Grundlage verfügbarer Daten einige grundlegende Entwicklungen auf der Aggregationsebene von Berufsklassen auf. Im Hinblick auf die Prognose des Fachkräftebedarfs sind zwei wesentliche Faktoren zu berücksichtigen: das zukünftige Qualifikationsniveau sowie der Bedarf in unterschiedlichen Berufssektoren.

Hinsichtlich des Qualifikationsniveaus wird von einer Fortsetzung des Trends zur Höherqualifizierung ausgegangen. Dies findet zum einen seine Ausprägung in der weiteren Anreicherung von Tätigkeiten und Berufen mit wissensintensiven Anteilen (höherer Theoriegehalt), zum
anderen in der Entwicklung Arbeitskräftebedarfs in den unterschiedlichen Qualifikationsstufen. Die größte Bewegung zeigt sich in der Gruppe der Arbeitskräfte ohne berufliche Ausbildung. Der Bedarf in diesem Segment geht von 15,2 auf 13,3 % (Anteilswerte) zurück, dies entspricht in absoluten Zahlen etwa einer halben Million Personen im Zeitraum 2005–2025. … Die Arbeitskräfte mit einem anerkannten Berufsausbildungsabschluss verändern ihren Anteil an den Erwerbstätigen insgesamt kaum und stellen weiterhin die größte Qualifikationsgruppe dar.

Korrespondierend zu dieser Bedarfsstruktur zeigt die Arbeitsmarktbilanz für unterschiedliche Qualifikationsniveaus, dass mit ca. 1,3 Mio. der größte Angebotsüberhang bei Personen ohne beruflichen Abschluss besteht. Die Arbeitsmarktsituation des mittleren Qualifikationssegments geht von einem weitgehend konstanten Bedarf aus, dem aufgrund der aus Altersgründen ausscheidenden Personen ein zunächst leichter, ab ca. 2020 stärkerer Angebotsrückgang entgegensteht. …

Dies führt zu der Betrachtung der Bedarfsentwicklung in den unterschiedlichen Berufssektoren. … Bei den primären Dienstleistungen zeigt sich der größte Zuwachs in den Gastronomie- und Reinigungsberufen, deren Anteil an den Erwerbstätigen von 10,4 auf 12,6 % ansteigen wird. Sie stellen eines der weniger qualifikationsintensiven Berufshauptfelder dar und bilden für Geringqualifizierte weiterhin einen potenziellen Beschäftigungsbereich. Bei dem expandierenden Sektor der sekundären Dienstleistungen erfolgt die stärkste Ausweitung in dem Berufshauptfeld „Gesundheits- und Sozialberufen, Körperpflege“. Arbeitskräftelücken im Zeithorizont 2025 konzentrieren sich entsprechend den Angebots-Nachfrage-Projektionen auf folgende Berufshauptfelder:

– Gastronomie- und Reinigungsberufe = ca. 700.000
– Gesundheits- und Sozialberufe, Körperpflege = ca. 640.000
– Künstlerische, Medien-, Geistes- und Sozialwissensch. Berufe = ca. 200.000
– Rechts-, Management- und Wirtschaftswissensch. Berufe = ca. 70.000

…Selbst wenn die Bedarfslücken bis 2025 die Werte aus der Projektion wesentlich übertreffen sollten, so erscheinen mögliche Lösungsansätze doch naheliegend. Einer dieser Ansätze betrifft die berufliche Qualifizierung jener ca. 15 %, die heute ohne einen Ausbildungsabschluss ins Erwerbsleben treten. Ökonomisch betrachtet, stellt diese Gruppe das Arbeitskräftepotenzial für den mittleren Fachkräftebereich dar, das bei der prognostizierten Stabilität dieses Bereichs demographisch bedingte Ausfälle im vollqualifizierenden Berufsbildungssystem wie auch solche, die durch mögliche Verschiebungen der Ausbildungspräferenzen von Schulabsolventen vom mittleren Sektor zur Hochschulausbildung entstehen können, ersetzen kann. Dazu wären allerdings geeignete Maßnahmen in der Berufsbildungspolitik erforderlich.

Optionen von Unternehmen zur Deckung eines möglichen
Fachkräftebedarfs

… Es stellt sich die Frage, welche Optionen ein Unternehmen hat, wenn es mit einem absehbaren oder manifesten Fachkräftebedarf auf den mittleren Qualifikationsstufen konfrontiert ist. Führt eine solche Situation zu einer Ausweitung der betrieblichen Ausbildungsaktivitäten mit der Folge eines Abschmelzens des Übergangssystems? Wie verlaufen die entsprechenden Entscheidungsprozesse, wenn – anders als heute – das Angebot an Jugendlichen mit guten Schulabschlüssen auf dem Ausbildungsmarkt knapp ausfällt und entsprechend die Risiken einer Ausbildungsinvestition höher ausfallen?

Der Weg von einem diagnostizierten Fachkräftebedarf zu einer Entscheidung für die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen verläuft nicht linear. Das Ergebnis aus dem Experten-Delphi der Prognos-Studie gibt eine Grundrichtung vor: „Die Ausbildungsbereitschaft bleibt im Wesentlichen stabil. … Sind Ausbildungsanfänger nicht ausreichend qualifiziert, werden sie auch trotz Fachkräftemangel nicht eingestellt. Eher bleiben Ausbildungsplätze unbesetzt.“ (BMBF, 2009, S. 8) In jedem Fall ist aus betriebswirtschaftlicher Perspektive zu erwarten, dass bei einem realen oder möglichen Fachkräftemangel vor einer entsprechenden Entscheidung mögliche Alternativen zur eigenen Berufsausbildung geprüft werden. Dazu zählen insbesondere: ## Rekrutierung von arbeitslosen Fachkräften. Diese Option ist für Unternehmen dann attraktiv, wenn sich unter den Arbeitslosen Personen auf einem entsprechenden Qualifikationsniveau befinden, die nach einer Einarbeitungszeit vergleichsweise schnell eingesetzt
werden können.
## Rekrutierung von bislang nicht erwerbstätigem Personal auf dem relevanten Teilarbeitsmarkt. Hierzu zählen insbesondere Frauen, denen aufgrund von dann attraktiveren Arbeitsbedingungen (u. a. Vergütung, günstigere Arbeitszeiten, bessere Kombinierbarkeit mit Familie) die Rückkehr in den Beruf erleichtert wird.
## Rekrutierung auf ausländischen Arbeitsmärkten. Hierunter fällt die verstärkte Anwerbung von Fachkräften aus anderen Ländern.
## Besetzung von Facharbeitsplätzen durch Personal aus angrenzenden Qualifikationssegmenten. Bezogen auf den Bereich von Fachkräften, die primär aus einer dualen Berufsausbildung rekrutiert werden, besteht zum einen prinzipiell eine Offenheit nach unten, indem bei begrenzt anspruchsvollen Arbeitsplätzen an- und ungelernte Arbeitskräfte
durch geeignete Qualifizierungsmaßnahmen auf das Anforderungsniveau dieser Arbeitsplätze „gehoben“ werden. Zum anderen besteht bei anspruchsvolleren Facharbeitsplätzen prinzipiell eine Offenheit nach oben, indem Hochschul-Absolventen für diese Stellen rekrutiert werden.
## Weiterbildung der Stammbelegschaft, d. h. fehlende Qualifikationen werden verstärkt durch die Weiterbildung bestehender Mitarbeiter aufgebaut. In vielen Unternehmen werden bereits entsprechende Konzepte einer alters- und alternsgerechten Personalpolitik im Sinne einer laufbahnbegleitenden Qualifizierung erprobt (vgl. BMBF, 2009, 61).
## Ausdehnung der Arbeitszeit, beispielsweise durch Überstunden, Erhöhung der Wochenarbeitszeit, Hinausschieben der Renten- und Pensionsphase und damit Verlängerung der Lebensarbeitszeit.
## Verstärkte Bemühung um weitere Produktivitätssteigerungen, u. a. durch Investitionen in technologische Entwicklungen. …
Welche dieser prinzipiellen Optionen im Einzelfall tragfähig sind, hängt von der spezifischen Konstellation des jeweiligen Betriebs- bzw. Berufsbereiches ab. Insbesondere in Wirtschafts- und Berufsbereichen, in denen duale Ausbildungstraditionen noch nicht etabliert sind, erscheinen Formen der Personalrekrutierung entlang den dargestellten Optionen eher wahrscheinlich.

Zusammenfassung und mögliche Konsequenzen
Die Berufsbildungsdiskussion über die Entwicklung von Übergangs- und Ausbildungssystem wird aktuell von zwei Seiten eingerahmt:
Im Hinblick auf das allgemein bildende Schulsystem wird auf die Ergebnisse der fortgesetzten PISA-Studien hingewiesen und angemahnt, dass die ca. 20 % der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler unterhalb der Kompetenzstufe II im Lesen (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2010, 333) durch entsprechende Reformen im Umfang deutlich reduziert werden müssen. Dabei besteht weitgehend Einigkeit darin, dass diese Gruppe einer gezielten Förderung bedarf, um den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen in Ausbildung und Beschäftigung gewachsen zu sein. Auch wenn davon auszugehen ist, dass diese „Risikogruppe“ bereits vor PISA existierte, haben die international vergleichenden Schulleistungsuntersuchungen auf diese Gruppe aufmerksam gemacht und zudem das Bewusstsein über die vergleichsweise hohe Korrelation zwischen sozialer Herkunft und Schulleistungserfolg in Deutschland geschärft.
Im Hinblick auf den dualen Ausbildungsmarkt ist in der vergangenen Dekade das betriebliche Ausbildungsangebot bzw. die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge deutlich gesunken. So sank das Ausbildungsplatzangebot von ca. 722.000 (1992) über 639.000 (2000) auf 583.000 (2009) (BMBF, 2010a, 19). Zwar bleibt jedes Jahr statistisch betrachtet die Zahl der „unversorgten Bewerber“ niedrig, doch gelingt dies nur aufgrund der „Versorgung“ einer großen Zahl von Schulabsolventen in den Maßnahmen des Übergangssystems.

Zwischen diesen beiden Koordinaten spannt sich ein politischer Argumentationsraum auf. Während die eine Seite auf unzulänglichen Ausbildungsvoraussetzungen der Schulabsolventen abhebt („mangelnde Ausbildungsreife“), weist die andere Seite auf den Rückgang der betrieblichen Ausbildungsplätze hin („mangelnde Ausbildungsbereitschaft“). …

Indikatoren dokumentieren, dass das Übergangssystem im Hinblick auf Teilnehmerzahlen, Aufwendungen, Sozialstruktur und Effektivität einen Sektor im Bildungssystem darstellt, das trotz der demographischen Entwicklungen weiterhin einen markanten Problemdruck impliziert und daher unverändert ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und politischer Gestaltung erfordert. Während in den Unternehmen die Implikationen der demographischen Entwicklung auf den Fachkräftebedarf bzw. den daraus resultierenden Konzepten der Personalentwicklung und betrieblichen Bildung zu ersten Handlungskonzepten geführt haben, bleiben die berufsbildungspolitischen Konzepte in diesem Bereich bislang noch punktuell und fragmentarisch. Im Kern ergeben sich zwei mögliche Konsequenzen:

In beiden Fällen führt der Weg der aufgrund der demographischen Entwicklung notwendigen Ausschöpfung von Begabungspotenzialen über das Übergangssystem. Dabei muss nicht von einer Dichotomie zwischen privatwirtschaftlicher und öffentlicher Verantwortung ausgegangen werden. Während die verstärkte Rekrutierung von Ausbildungsbewerbern aus dem „Reservoir“ des Übergangssystems durch die Betriebe zu einer Reduktion des Problemdruckes beitragen könnte, wäre eine strukturelle Neuausrichtung der Maßnahmen des Übergangssystems mit dem Ziel eines schnelleren Abschlusses in einem anerkannten Ausbildungsberuf eine zentrale Reform in öffentlicher Verantwortung. „

Die Expertise in vollem Textumfang entnehmen Sie bitte aufgeführtem Link oder dem Anhang.

www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-68FE6D90-D906E828/bst/hs.xsl/nachrichten_103785.htm

Quelle: Bertelsmann Stiftung

Dokumente: Expertise_Demographische_Entwicklung_Uebergangssystem_und_Berufsausbildung.pdf

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