Hartz IV: Durch Anrechnung der Kindergelderhöhung 569 Millionen Euro pro Jahr gespart

ZUR ABSCHAFFUNG VON UNGERECHTIGKEIT AUF EIN GERICHTSURTEIL WARTEN?

Das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe offenbart die Absurdität der Anrechnung des Kindergeldes auf Hartz IV im Hinblick auf die Handlungsschwerpunkte im Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Kritik äußert auch der Berliner Kardinal Sterzinsky. Ministerin Köhler hingegen plädiert dafür, dass sich auch im Familieneinkommen deutlich ein Unterschied zwischen erwirschaftetem Einkommen und staatlicher Transferleistung zeigen müsse.

„Durch das angehobene Kindergeld entstehen beim Bund sowie in geringem Umfang bei den Kommunen Minderausgaben beim Arbeitslosengeld II (Sozialgeld) in Höhe von insgesamt 569 Mio. Euro jährlich.“
Ein Satz aus der Begründung des zum 1. Januar 2010 in Kraft getretenen sog. Wachstumsbeschleunigungsgesetzes. Minderausgaben in Höhe von 569 Millionen Euro pro Jahr oder (rechnerisch) Minderausgaben von 20 Euro pro Monat für 2,37 Millionen Kinder und Jugendliche in Familien, die auf Arbeitslosengeld II (Hartz IV) angewiesen sind: Ein „gelungener Beitrag“ des bevölkerungsreichsten Mitgliedsstaates der Europäischen Union zum Auftakt des „Europäischen Jahres zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung (2010)“.

Am 22. Oktober 2008 hatte das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union ausgerechnet das deutsche Agenda-Jahr 2010 zum „Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“ (Amtskürzel: „Europäisches Jahr“ bzw. EJ 2010) ausgerufen. Als erstes der drei „große(n) Themenfelder“ in der Bundesrepublik Deutschland nennt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS)auf der eigens für das „Europäische Jahr“ eingerichteten deutschen Website mit dem schönen Namen „www.mit-neuem-mut.de“: „Jedes Kind ist wichtig – Entwicklungschancen verbessern.“

Den „Mut“, die Erhöhung des Kindergeldes um 20 Euro pro Monat zu Beginn des EJ 2010 von der Anrechnung auf das Sozialgeld (Arbeitslosengeld II) und die Sozialhilfe freizustellen oder die Regelleistung für Kinder und Jugendliche mit Blick auf das im EJ 2010 zu erwartende Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu den Regelleistungen (zunächst) um 20 Euro zu erhöhen, wollten die Bundestagsfraktionen der CDU/CSU und FDP und Bundesregierung offensichtlich nicht aufbringen.

Stattdessen wurde die Kürzung des Sozialgeldes (Arbeitslosengeldes II) durch die Bundesagentur für Arbeit (BA) in ihrem Zuständigkeitsbereich „vorsorglich“ sichergestellt. Die Öffentlichkeit wurde darüber, anders als über die Umsetzung der Kindergelderhöhung, nicht informiert. Mit der Geschäftsanweisung 44/2009 vom 27. November 2009, ein Monat vor Verkündung des „Wachstumsbeschleunigungsgesetzes“ (30. Dezember 2009), wurden die Vorsitzenden der Geschäftsführungen der Agenturen für Arbeit angewiesen, diese Geschäftsanweisung „… gegenüber den ARGEn ihres Zuständigkeitsbereichs unverzüglich, d.h. in der Regel binnen 24 Stunden nach Erhalt, in geeigneter Weise verbindlich in Kraft zu setzen.“ Vor dem 30. Dezember 2009 erstellte (Änderungs)Bescheide sollten den Zusatz enthalten: „Durch das geplante Gesetz zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums werden die Kindergeldbeträge zum 1. Januar 2010 voraussichtlich erhöht. Im Rahmen dieser Entscheidung habe ich das erhöhte Kindergeld vorbehaltlich der entsprechenden Regelung durch das Gesetz zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums bereits berücksichtigt (leistungsmindernd berücksichtigt oder kurz: abgezogen). Für den Fall einer anders lautenden gesetzlichen Regelung werden mögliche Nachzahlungen von Amts wegen vorgenommen.“

Ein geradezu „fürsorglicher“ Nebenaspekt: Die hilfebedürftigen Eltern erhalten jetzt 20 Euro pro Kind und Monat später als sie dieses Geld bisher erhielten. Denn während das (ab Januar 2010) um 20 Euro pro Kind reduzierte Sozialgeld (Arbeitslosengeld II) monatlich im Voraus überwiesen wird bzw. werden soll (§ 41 SGB II), wird das um 20 Euro erhöhte Kindergeld zu einem späteren Zeitpunkt ausgezahlt. Maßgeblich ist die letzte Ziffer (Endziffer) der Kindergeldnummer. Im Januar 2010 z.B.: Überweisungstag für das Kindergeld mit der Endziffer 5 ist der heutige 13. Januar 2010. Der Überweisungstag ist nicht zu verwechseln mit dem (späteren) Tag, an dem das Kindergeld dem Konto der Empfängerin/des Empfängers gutgeschrieben wird.

Die Anrechnung der Kindergelderhöhung auf Hartz IV kritisierte auch der Berliner Kardinal Georg Sterzinsky. In einem Interview mit der Katholischen Nachrichtenagentur forderte er Nachbesserungen. „Das muss die Politik noch ausgleichen“, so Sterzinsky, der die Familienkommission der Deutschen Bischofskonferenz leitet. Bundesfamilienministerin Kristina Köhler hingegen kann sich für einen finanziellen Ausgleich nicht erwärmen.

In der Debatte um die Hartz IV-Regelsätze wollte sich Köhler nicht auf eine pauschale Erhöhung festlegen:
„Kinderarmut ist vor allem auch Armut an Bildung und an Perspektiven“, so die Ministerin. Natürlich sei der Regelsatz für Kinder „äußerst knapp“: „Aber dennoch: Eine Familie mit zwei Kindern kann mit Hartz IV inklusive Miete auf bis zu 1600 Euro im Monat kommen. Es gibt viele Familienväter, die für dieses Geld von morgens bis abends arbeiten. Wichtig ist, dass jemand, der arbeitet, mehr Geld hat als jemand, der nicht arbeitet.“

Quelle: BIAJ; KNA

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