Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung – umgangssprachlich auch Ein-Euro-Jobs genannt – sind quantitativ das bedeutendste Instrument der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland. Im Jahr 2008 wurden ca. 825.000 Eintritte in Arbeitsgelegenheiten gezählt – so viel wie nie zuvor. Nahezu 30% des Etats für Eingliederungsleistungen werden dafür verwandt. Insbesondere in Ostdeutschland ist diese Form öffentlich geförderter Beschäftigung weit verbreitet. Die vorliegende Studie setzt sich zunächst kritisch mit dem Anspruch und der Wirklichkeit dieses Instruments auseinander und zeichnet nach, wie sich seine Bedeutung im Zeitverlauf gewandelt hat. Neben einer Bilanz der bisherigen Entwicklung stellt die Studie jedoch die Sicht der Betroffenen in den Mittelpunkt und beleuchtet die Maßnahmewirklichkeit aus ihrer Perspektive. Dr. Esther Schröder, die Autorin der Studie, war arbeitsmarktpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Landtag Brandenburg. Sie richtete dort ein „Hartz IV-Kontaktbüro“ ein, eine Anlaufstelle für arbeitssuchende Hilfeempfänger. Die hier vorgestellten Befunde basieren auf Gesprächen mit 50 Langzeitarbeitslosen.
Auszüge aus der Expertise: „Ein-Euro-Jobs zwischen Anspruch und Realität aus Sicht der Maßnahmeteilnehmer und –teilnehmerinnen“:
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ANSPRÜCHE
Der Strategiewechsel von der aktiven zur aktivierenden Arbeitsmarktpolitik war vor allem verbunden mit dem Anspruch einer Balance von Leistung und Gegenleistung als durchgängiges Prinzip und dem Grundsatz, dass nicht Arbeitslosigkeit, sondern Arbeit sich lohnen soll. Der Grundsatz Fördern und Fordern zielt damit auf das Miteinander von staatlicher Verantwortung für Förderleistungen und gleichzeitig einzufordernder Eigeninitiative des Arbeitsuchenden. … Vor allem verbindet sich damit der Anspruch, die aktivierenden Maßnahmen zur Integrationsförderung verstärkt auf jene Arbeitslosen zu konzentrieren, „die ein beträchtliches Risiko tragen, keine oder nur eine unterwertige Beschäftigung zu finden“. Somit gilt, dass insbesondere die als schwer vermittelbar eingestuften Arbeitsuchenden eben nicht von vornherein als hoffnungslose Fälle abzustempeln sind. Im Gegenteil: Ihnen wird im Konzept einer modernisierten Arbeitsförderung die besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Voraussetzung hierfür ist ein vertrauensvolles Kundenverhältnis zwischen den Arbeitsuchenden und ihren persönlichen Ansprechpartnern bzw. Fallmanagern in den Grundsicherungsstellen. „Die Arbeitslosigkeit muss aus der Anonymität heraus wieder ein Gesicht bekommen.“, hieß es. Ziel war es, die alte Förderung von der Stange zu überwinden und stattdessen maßgeschneiderte Integrationsleistungen anzubieten, vorrangig zur Herausbildung von Qualifikation und Beschäftigungsfähigkeit in strikter Orientierung an den konkreten Möglichkeiten der Arbeitsaufnahme. Zu den im Eingliederungsplan festzuhaltenden Maßnahmen können nachrangig auch Arbeitsgelegenheiten gehören. …
REALTITÄTEN
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Mehr Fall als Management
„Wonach gehen die da bei der Vergabe der Ein-Euro-Jobs? Wird da gewürfelt?“, fragt sich Frau K. An drei Arbeitsgelegenheiten hat sie schon teilgenommen und hält die Vergabepraxis für undurchsichtig. Und nicht nur sie. Dass jede Maßnahme grundsätzlich auf einer individuellen Potenzialanalyse und einer Eingliederungsvereinbarung basieren soll, kommt vielen Teilnehmern nicht in den Sinn. Elf Befragte gaben an, eine solche Vereinbarung nicht zu kennen bzw. noch nie unterschrieben zu haben.
Hilfebedürftige, die im Besitz einer oder mehrerer Eingliederungsvereinbarungen sind, äußern sich über Inhalt und Qualität ihres Vertrages in der Regel distanziert, zuweilen äußerst kritisch. Den Gesprächen nach haben sie sich nicht wirklich mit dem dort Geschriebenen identifiziert. Schon gar nicht verstehen sie ihre Eingliederungsvereinbarung als Eintrittskarte in die Arbeitsgelegenheit.
Man unterschreibt die Vereinbarung, weil man muss. … „Davon halte ich nichts. Jedenfalls so, wie es bei mir gelaufen ist.“, sagt Herr P. Und damit verweist er auf Unzulänglichkeiten beim Zustandekommen der Vereinbarungen. Häufig stehen Eingliederungsvereinbarungen vor allem deshalb in der Kritik, weil sie ohne jedes persönliche Gespräch zustande kamen, nach der Devise: Vorlage, Durchlesen, Unterschrift. Auch wurden Vereinbarungen postalisch zugestellt mit der Bitte um Unterzeichnung und Rücksendung. Einige Maßnahmeteilnehmer berichten, dass bei ihnen der Vertragsabschluss erst erfolgte, als die Maßnahme sich schon anbahnte oder bereits lief.
Das alles spricht nicht für die Einlösung des Anspruchs, wonach Arbeitsgelegenheiten grundsätzlich auf einer mit dem Hilfebedürftigen erarbeiteten Eingliederungsvereinbarung basieren. Wenn Verträge, wie von den Befragten dargestellt, zustande kommen, fehlt ihnen jede Ausrichtung an den Bedarfslagen der Arbeitsuchenden und jede Abstimmung auf individuelle Erfordernisse und Bedürfnisse. … Vermisst wird der persönliche Eingliederungsfahrplan, in dem Arbeitsgelegenheiten als Schritt in einer Integrationskette erkennbar sind. Jedenfalls sind Bedeutung und Ausgestaltung ihrer Arbeitsgelegenheit vielen Maßnahmeteilnehmern nicht hinreichend durch die Eingliederungsvereinbarung vermittelt.
Als ein bemerkenswerter Befund der Befragung ist festzuhalten, dass Arbeitsgelegenheiten nicht in erster Linie als eine von den Grundsicherungsträgern initiierte Förder- oder Fordermaßnahme zugewiesen wurden. Vielmehr kamen sie durch die Eigeninitiative der Arbeitsuchenden zustande. … So sind häufig nicht die zu Aktivierenden, sondern die Aktiven in Arbeitsgelegenheiten beschäftigt. Weil Arbeitsuchende aktiv auf der Suche nach jedweder Beschäftigung sind, erhalten sie die Zuweisung. …
Wurde Arbeitsuchenden ohne ihr Zutun eine Arbeitsgelegenheit vom Grundsicherungsträger zugewiesen, wurden sie vom Angebot überrascht und erhielten es auf dem Postweg. Ein Vorgespräch war eher die Ausnahme. …
Arbeitsmarktpolitisch geradezu fahrlässig gaben Grundsicherungsstellen wichtige Kern- und Steuerungselemente des Fallmanagements aus der Hand, wenn Arbeitsuchende das Maßnahmeangebot direkt vom Träger erhielten und dieser in Eigenregie Arbeitsinhalte und sogar die Höhe der Aufwandsentschädigung mit den Teilnehmern vereinbarte. Solche Anbahnungen konterkarieren die Ansprüche der arbeitsmarktpolitischen Zweckmäßigkeit, denn die Maßnahmeinhalte sind dann nicht mehr gerichtet auf Bedarfslagen von Zielgruppen, individuellen Erfordernissen und Bedürfnissen und schon gar nicht auf die Aufnahme einer Beschäftigung am allgemeinen Arbeitsmarkt. …
Die beanspruchte Einbindung von Arbeitsgelegenheiten in ein Eingliederungskonzept ist mehr Theorie denn Praxis. …
Aus Sicht der hier befragten erwerbsfähigen Hilfebedürftigen mangelt es vor allem an der konkreten Hilfe bei der Suche nach regulärer Arbeit. Einige betonen, dass sie zwar ganz gut mit ihren Beratern auskämen, dass diese nett seien. Oft im gleichen Atemzug aber beklagen sie die fehlende konkrete Unterstützung in Form von Stellen- und Förderangeboten.
Eingesperrte Arbeitslosigkeit
Die beschäftigungs- und sozialintegrativen Wirkungen von öffentlich geförderter Beschäftigung stehen seit Jahren im Fokus und auf dem Prüfstand von Arbeitsförderung. Dahinter steht das widersprüchliche Ansinnen, mit zusätzlicher Arbeit, die am Markt nicht nachgefragt wird und zugleich für die Beschäftigung schwer Vermittelbarer geeignet sein soll, Chancen auf reguläre Arbeit zu erhöhen. Wie soll, wie kann Arbeitsmarktferne Arbeitsmarktnähe befördern? …
In der Regel sehen erwerbsfähige Hilfebedürftige in ihren Maßnahmen Positives wie Negatives. Die Antworten fallen ambivalent aus; einige der Befragten widersprechen sich auch selbst in ihren Einschätzungen. Für den Moment war die Maßnahme okay, um dem tristen Arbeitslosendasein zu entfliehen, um raus zu kommen, wieder unter Menschen zu sein und über etwas mehr Geld für die Existenzsicherung zu verfügen. Das gilt, solange die Arbeitsgelegenheit läuft. Doch wenn das Ende der Maßnahme nach sechs Monaten naht, dominiert wieder Perspektivlosigkeit. Wie geht es danach weiter? Eine Frage, die viel zu oft unbeantwortet bleibt.
Obwohl sie an die Tätigkeit in der Arbeitsgelegenheit selbst wenig Ansprüche stellen, klagen Langzeitarbeitslose mitunter auch über stumpfsinnige und überfl üssige Maßnahmen, darüber dass eine Tätigkeit im erlernten Berufsfeld sinnstiftender wäre, dass Arbeitsgelegenheiten dauerhaft auch stigmatisieren und diskriminieren und dass sie sich im Lebenslauf nicht gut machen. Sie meinen zudem, dass sie mit der Maßnahme vom regulären Arbeitsmarkt ferngehalten werden, eine Eingliederung über eine solche Maßnahme sowieso nicht gelingt, nie und nimmer daraus ein fester Arbeitsplatz wird. Und sie beklagen, dass sie sich in einem Teufelskreis befinden, aus dem Trott nicht herauskommen. …
NEUE WEGE IN GUTE ARBEIT
… Die Dominanz von Arbeitsgelegenheiten im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende wird den hohen Anforderungen, die sich auch im Rahmen einer Weiterentwicklung der Arbeitsmarktreformen an moderne Dienstleistungen neu stellen, nicht gerecht. Der gesetzlich verankerte Anspruch von Ultima Ratio wird aktuell nicht eingelöst, gehört aber unbedingt realisiert. Arbeitsgelegenheiten sind stärker noch in den Kontext der Reformbewegung und der übergeordneten Zielstellung von Integration in reguläre Arbeit zu rücken. Wenn Maßnahmeteilnehmer über ihre Erfahrungen mit Arbeitsgelegenheiten sprechen, geben sie mit ihren Auskünften der Politik wichtige Hinweise. Der Tenor lautet: Man fühlt sich wohl, weil die Arbeit Spaß macht, Sinn stiftet und einen schmalen Hinzuverdienst ermöglicht. Man fühlt sich ausgenutzt, weil die Konditionen nicht stimmen. Man fühlt sich integriert, weil man wieder rauskommt und gebraucht wird. Man fühlt sich hoffnungslos, weil die berufliche Perspektive im Anschluss an die Maßnahme fehlt. …
Im Interesse einer zielgerichteten, effizienten und nachhaltigen Arbeitsförderung und bei Aufrechterhaltung der Reformansprüche an eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik, sind an Arbeitsgelegenheiten enge Kriterien zu stellen. Die Maßnahmen sind unter der Maßgabe der Ultima Ratio-Bedingung quantitativ zurückzufahren. Eine Zuweisung ohne Potenzialanalyse und echte Eingliederungsvereinbarung verbietet sich. Arbeitsgelegenheiten müssen eng begrenzt sein auf Zielgruppen mit persönlichen Vermittlungshemmnissen.
Die Übertragung von Kernaufgaben des Fallmanagements an Maßnahmeträger ist auszuschließen. Die Maßnahmen sind eng zu begleiten, am Einsatzort zu kontrollieren und im Gespräch mit den Teilnehmern auszuwerten. Zudem darf gelegentliche Arbeit nicht zur Dauerbeschäftigung werden, vor allem nicht für Fachkräfte mittels einer Bestenauslese am zweiten Arbeitsmarkt.
Und nicht zuletzt sind anspruchsvolle und sinnstiftende Maßnahmen zu initiieren, die eine ausbildungs- und berufsadäquate Beschäftigung ermöglichen und auch anspruchsvolle Qualifizierungsmodule vorhalten.
Neue Wege können aus der Erwerbslosigkeit in gute Arbeit führen, wenn ein funktionierendes Fallmanagement den Kurs bestimmt. Dabei verstellt das hier auf die Mikroebene gerichtete Interesse keineswegs den Blick auf die notwendigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarktpolitik sind eng aufeinander abzustimmen, wenn es um die Zusammenführung von Stellen- und Bewerberprofile geht.
Um Arbeitsvermittlung in Deutschland zu einer der leistungsfähigsten öffentlichen Institution zu entwickeln, braucht es wirtschaftlich stabile Unternehmen, die ihre vakanten Arbeitsplätze und den entsprechenden Personalbedarf in einem breiten Spektrum anzeigen. Daran ist eine bestmögliche Betreuung und Vermittlung auszurichten. Matchingprozesse am Arbeitsmarkt erfordern Höchstleistungen im Fallmanagement und Eingliederungsvereinbarungen als Fahrpläne in reguläre Beschäftigung. Die reformierte Arbeitsmarktpolitik muss sich daran messen lassen, wie sie diesen Kernaufgaben gerecht wird und es gelingt, insbesondere Arbeitsuchenden mit einem großen persönlichen Unterstützungsbedarf Vermittlungsangebote auf hohem Niveau zu unterbreiten.“
http://library.fes.de/pdf-files/wiso/06794.pdf
Quelle: WISO-Diskurs – Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik November 2009
Dokumente: Wiso_Diskurs_Ein_Euro_Jobs_zwischen_Anspruch_und_Realitaet_2009.pdf