Shell-Studie 2015 – Eine Sieg des Neoliberalismus?

Shell legt die 17. Jugendstudie vor: Die junge Generation stellt hohe Ansprüche an die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, will die Gesellschaft aktiv mitgestalten und ist Zuwanderern gegenüber offen eingestellt. Das ist das positive Bild, das die Studie zeichnet. Laut der Studie ist der Anteil der jungen Menschen zwischen 12 und 25 Jahren, die sich für Politik interessieren, auf 41 Prozent gestiegen. Besonders wichtig ist ihnen die Meinungsfreiheit, das Recht zu wählen und die Möglichkeit, sich in Entscheidungen einzubringen. 83 Prozent der befragten Jugendlichen wünschen sich, dass die Belange ihrer Generation in der Politik stärker Berücksichtigung finden. Außerdem ist die junge Generation offener für Zuwanderung. Insgesamt blicken 61 Prozent optimistisch in die persönliche Zukunft, das sind noch einmal mehr als in den Jahren 2010 und 2006. Die Zuversicht der Jugendlichen aus sozial schwachen Schichten hingegen stagniert. Rund 15 Prozent der jungen Menschen in Deutschland zählen sich zu den „Abgehängten“ und sehen keinerlei Perspektive für sich. Jugendliche, die die Schule ohne Schulabschluss verlassen mussten, haben deutlich schlechtere Chancen, einen Ausbildungsplatz zu finden und danach eine geregelte Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Auch Jugendliche, die bereits einen Schulabschluss erlangt haben, sehen Risiken. Aktuell erwarten fast drei Viertel, ihre Berufswünsche verwirklichen zu können – ein gutes Viertel aber eben nicht.

Eine Bewertung der Shell-Studien-Ergebinsse aus dem Handlungsfeld der Jugendsozialarbeit von Dr. Monika Rosenbaum (Fachreferentin BAG KJSIN VIA Akademie):

„Alles wird besser – nur unten bleibt‘s gleich?

Die Shell-Jugendstudie ist eine der „großen“ Jugendstudien, die in Deutschland als wichtige Referenzrahmen gelten. Entsprechend gab es auch ein reges Presseecho nach der Vorstellung der Studie am 13. Oktober, je nach Orientierung des Mediums aber mit verschiedenen Schwerpunkten:

„Das Netz fängt die Jugend ein“ titelte die F.A.Z. und verwies auf den Zusammenhang zwischen gestiegenem Interesse deutscher Jugendlicher an Politik und der im Netz verbrachten Zeit. Einen ähnlichen Aufhänger wählte die Süddeutsche: „Das Smartphone ist das halbe Leben“ und betont die wachsende Zeit im Netz, das unverzichtbare Smartphone und verwischende Grenzen zwischen Online- und Offline-Aktivitäten, verweist direkt aber auch auf eine soziale Spaltung zwischen optimistischen Jugendlichen der Ober- und Mittelschicht und dem Gefühl des Angehängt-seins bei der Unterschicht.

Die Berliner Tageszeitung wählt den Schwerpunkt „Beruf geht vor Familie“ und erläutert „Kinder sind okay, aber nicht um jeden Preis. Jugendliche sind pragmatisch, der Beruf geht vor. Sie sind politisch, aber parteiungebunden.“ Die Welt hingegen titelt fast pastoral „Die Jugend von heute ist ein deutsches Wunder“ und darunter: „Wer Trost und Zuversicht sucht in diesen krisenwirren Tagen, kann sie unvermutet nahe finden – bei den eigenen Kindern.“

Väterlicher Schulabschluss als zentraler Statuszuweiser?

Aus Sicht der Jugendsozialarbeit interessieren natürlich besonders Aussagen über die Jugendlichen „am unteren Ende“ der gesellschaftlichen Hierarchie, für die in der Studie anstatt der früheren Begriffe „Unterschicht“ und „Oberschicht“ die neuen Wendungen einer „oberen“ bzw. „unteren Schicht“ eingeführt wurde.

Wie werden dieser unterschieden? Nach den veröffentlichten Angaben erfolgt die Einordnung der Jugendlichen in Schichten anhand von vier Indikatoren: dem höchsten Schulabschluss des Vaters (max. 6 Punkte), der Wohnsituation der Eltern (max. 2 Punkte), der Zufriedenheit mit der finanziellen Situation (max. 2 Punkte) und der Anzahl der Bücher im Elternhaus (max. 3 Punkte). Nach dieser Gewichtung zählt zur Mittelschicht z.B. ein Jugendlicher, dessen Vater zwar den höchsten Schulabschluss hat, der aber bei seiner Mutter, die über keinen Schulabschluss verfügt, in einer kleinen Mietwohnung mit relativ vielen Büchern lebt und seine finanzielle Situation als sehr schlecht bezeichnet. Ein Mädchen dagegen, dessen Vater zwar nur über einen niedrigen Schulabschluss verfügt, das seine finanzielle Situation aber als „Sehr gut“ bezeichnet und das im eigenen Haus mit einer geringeren Zahl von Büchern aufwächst, zählt nur zur unteren Mittelschicht.

Ein Fünftel aller Familien mit minderjährigen Kindern in Deutschland lebt bei „nur“ einem Elternteil. Bei den Alleinerziehenden stellen die Frauen mit ca. 90 Prozent die Mehrheit und sind im Durchschnitt finanziell deutlich schlechter gestellt. Vor diesem Hintergrund ist aufgrund der hohen Bedeutung, die in der Studie dem väterlichen Schulabschluss bei der Zuordnung von Jugendlichen zu Schichten beigemessen wird, eine gesunde Skepsis beim Blick auf die entsprechenden Aussagen erforderlich.

„Denn wer hat, dem wird auch gegeben“ (Matthäus)

Aus Sicht der Jugendsozialarbeit ist sicher dies ein zentrales Ergebnis der Shell-Studie: Zwar zeigt sich die aktuelle Jugendgeneration im Schnitt als ehrgeizig, leistungsbereit und schaut voll Zuversicht in die persönliche wie auch gesellschaftliche Zukunft – das gilt aber insbesondere für die Jugendlichen, die einen guten Start haben, denn: „Von dieser steigenden Zuversicht profitieren Jugendliche aus der sozial schwächsten Schicht erneut nicht. Wie schon im Jahr 2010 äußert sich nur ein Drittel (33%) optimistisch hinsichtlich der eigenen Zukunft.“ (S. 14). Die Unterschiede zeigen sich im Bericht in allen Lebensbereichen: Jugendliche der unteren Schicht haben häufiger schulische Probleme, werden häufiger nicht versetzt und bewerten ihre Chancen auf einen Wunschberuf deutlich schlechter: Die erreichten Schulabschlüsse haben sich zwar im Durchschnitt verbessert – aber längst nicht so deutlich wie bei Mittel- und Oderschicht.

Das Bildungskapitel ist überschrieben mit „Immer ehrgeizigere Ziele“ (S. 65). Da die Autoren und Autorinnen aber in den nachfolgenden Ausführungen selbst darauf hinweisen, dass die Zahl der Arbeitsplätze für Geringqualifizierte sinke, lässt sich fragen, ob es um ehrgeizige Ziele oder doch eher um wachsenden Leistungsdruck geht. Angesichts der steigenden schulischen Voraussetzung für Ausbildungsplätze lassen sich verbesserte Schulabschlüsse und der wachsende Anteil derjenigen, die das Abitur anstreben, verstehen als mehr oder minder verzweifelte Versuche, diese Entwicklung einzuholen. Wenn Jugendliche in den qualitativen Interviews eine gute schulischen Bildung betonen, erhält dies plötzlich einen drohenden Charakter: Wer diese Zugangsvoraussetzungen nicht bringen kann, kann sich schon früh auf die Rolle des Verlierers einrichten. Kein Wunder, dass die Jugendlichen der unteren Schicht später die eigenen Kinder nicht so erziehen wollen, wie es ihre eigenen Eltern taten (S. 54).

Eine Auswertung von Sorgentypen und dem Grad persönlicher Zuversichtlichkeit (S. 96 ff) zeigt deutliche Unterschiede in Abhängigkeit von der sozialen Lage: Je besser gestellt, desto positiver. Während sich der positive Blick auf die eigene Zukunft in Mittel und Oberschicht verbreitet hat, zeigen die Daten für die untere Schicht, dass alles Aktivieren, Fördern und Fordern bisher nicht dazu geführt hat, dass Jugendliche die eigene Zukunft positiv sehen.“

Schlechter ausgebildete Gruppen als Teil des Systems?

„Wenn es in der Jugendsozialarbeit darum geht, Biographien beweglich zu halten und objektive wie subjektive Sackgassen für die Jugendlichen zu vermeiden, belegt die neue Shell-Studie eher besorgniserregende Entwicklungen: Das ist zwar nichts Neues, aber durch die Verweise auf Veränderungen im Zeitablauf zeigt sich, dass sich für die schlechter gestellten Jugendlichen im Blick auf Bildung, Ausbildung und Beruf kaum Hürden abbauen. Die Besprechungen der Shell-Studie verknüpfen oft positive bis erleichterte Aussagen über die pragmatische, positiv gestimmte Jugend mit dem Hinweis, dass Bildungspolitiker in ihren kritischen Analysen bestätigt würden. Und endlich kommt auch wieder Tempo in die Lebensläufe. Die Jugendlichen von heute gehen fixer durch den Statusübergang ins Erwachsenenleben, also in eine Berufstätigkeit. Die postadoleszente Jugendphase schrumpft deutlich. Das wertet die Studie als Erfolg des Turboabiturs und der entfallenen Pflichtzeiten (Wehr-, Zivildienst).

Aus einer anderen Perspektive lässt sich aber sagen, dass diese Studie einen Sieg des Neoliberalismus belegt, wo die Existenz einer schlechter ausgebildeten Gruppe mit geringen Bildungs- und Aufstiegschancen und einer gewissen resignierten Haltung kein Ausrutscher, sondern Teil des System ist und als disziplinierender Hintergrund dient für Fleiß, Aufstiegsorientierung und Zuversicht der Mittel- und Oberschicht.“

Die 17. Shell Jugendstudie 2015 stützt sich auf eine repräsentativ zusammengesetzte Stichprobe von 2.558 Jugendlichen im Alter von 12 bis 25 Jahren aus den alten und neuen Bundesländern, die von den Interviewern von TNS Infratest zu ihrer Lebenssituation und zu ihren Einstellungen und Orientierungen persönlich befragt wurden. Die Erhebung fand auf Grundlage eines standardisierten Fragebogens im Zeitraum von Anfang Januar bis Mitte März 2015 statt. Im Rahmen einer ergänzenden qualitativen Studie wurden zwei- bis dreistündige vertiefende Interviews mit 21 Jugendlichen dieser Altersgruppe durchgeführt.

Quelle: Shell Deutschland

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