Mehr Entschiedenheit bei der Bekämpfung von Armut notwendig – Zweiter Schattenbericht der Nationalen Armutskonferenz

Auszüge aus dem 2. Schattenbericht der Nationalen Armutskonferenz „Zehn Jahre Hartz-IV – zehn verlorene Jahre“ aus Beiträgen von Prof. Dr. Claus Reis und Benedikt Siebenhaar sowie Michael David:

„Fördern und Fordern“ ist gescheitert. – Für einen Perspektivwechsel im SGB II: befähigen statt aktivieren
Als das Sozialgesetzbuch (SGB) II im Jahre 2005 in Kraft trat, sollte es den erwerbsfähigen Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfängern den Zugang zu arbeitsmarktpolitischen Instrumenten eröffnen. Gleichzeitig blieb aber die grundgesetzlich verankerte Aufgabe der Gewährleistung eines menschenwürdigen Lebens bestehen. (…) Von Beginn an waren das Gesetz und seine Wirkungen heftig umstritten. Befürworter verwiesen auf den mit dem SGB II in Verbindung gebrachten Abbau von Arbeitslosigkeit, Kritiker stellten genau diese Verbindung in Frage und zeigten auf, dass eines der wesentlichen Ziele, die Verhinderung von Langzeitarbeitslosigkeit, verfehlt wird – damit laufe die „Aktivierung“ („Fördern und Fordern“) ins Leere und verkomme zu einer „Aktivierung ohne Arbeit“.

Tatsächlich zeigt eine vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 2011 veröffentlichte Studie, dass eine Anhäufung von Vermittlungshemmnissen, wie sie für Bezieher von SGB II-Leistungen typisch ist, den Ausstieg aus der Arbeitslosigkeit erschwert. Nur acht Prozent der Langzeitarbeitslosen wiesen keine Risiken auf, dagegen aber 42 Prozent drei Risiken und mehr – und hatten damit eine Chance von bestenfalls 4,3 Prozent, wieder unmittelbar im Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. (…)

Die Nationale Armutskonferenz (nak) hat bereits Anfang 2014 eine Reihe von Vorschlägen zur Verbesserung der Situation von Leistungsberechtigten nach dem SGB II gemacht, die aber in der politischen Diskussion wenig Resonanz gefunden haben. So wurden zur Überwindung von Armut mehr Hilfen und Dienstleistungen zur sozialen Teilhabe gefordert und die arbeitsmarktzentrierte Ausrichtung bei der Umsetzung des SGB II kritisiert. Die Begründung der Nationalen Armutskonferenz, dass es dabei für die Leistungsberechtigten um ihr Recht auf Selbstbestimmung, Autonomie und Unterstützung bei der Verbesserung der sozialen Teilhabe geht, deckt sich mit verfassungsrechtlichen Vorgaben im SGB II. Denn Ziel der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist nach § 1 Abs. 1 SGB II, „es Leistungsberechtigten zu ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht“. Und unter dieser Zielsetzung ist nicht eine Aktivierung zur unmittelbaren Integration in den Arbeitsmarkt zu verstehen, sondern ganz in der Tradition des Sozialhilferechts eine Hilfe zur Selbsthilfe, um eine Autonomie und Entwicklung der Persönlichkeit zur Sicherstellung sozialer Teilhabe zu ermöglichen.

Angesichts des Scheiterns des Aktivierungsparadigmas im Hinblick auf die Vermeidung von Langzeitbezug ist es an der Zeit, eine konzeptionelle Neuorientierung einzuleiten und nicht immer wieder die gleichen erfolglosen Medikamente einzusetzen.

Einen Ansatzpunkt hierzu liefert eine Diskussion, die in der internationalen Sozialpolitikforschung vor einigen Jahren angestoßen wurde – auf der Basis der Rezeption des „Capability Approach“ wurde die Überwindung des Aktivierungs-Paradigmas in Richtung auf eine „Politik der Befähigung“ angeregt, um soziale Teilhabe zu sichern und die „Verwirklichungschancen“ der Menschen zu verbessern, die nicht nur auf dem Arbeitsmarkt von Prekarisierung bedroht sind. Befreit man das SGB II von der fragwürdigen einseitigen Ausrichtung an nur bedingt geeigneten Erfolgsdimensionen, ergibt sich eine Agenda, die mit hohen professionellen Anforderungen an das Fallmanagement verknüpft ist: ## Die Stärkung individueller Autonomie erfordert explizit die Auseinandersetzung mit Personen und deren „Fortschritten“ an Zugewinn von Teilhabemöglichkeiten.
## Die Arbeitsbeziehung sollte „symmetrisch“ gestaltet sein, da es ja gerade darauf ankommt, die Klienten als Ko-Produzierende ernst zu nehmen.
## Durch die Ausweitung des Blickes von der Arbeitsmarktintegration auf die gesamten Lebensumstände der Leistungsberechtigten erhöht sich die Komplexität und Intensität von Kooperationsbeziehungen.
Eine Neuorientierung impliziert einen erheblichen gesetzlichen Reformbedarf: ## Aufgabenstellung und Zielsetzung des SGB II sind unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen gesetzlich so auszurichten, dass die bisherigen Beschränkung auf Aktivierung und unmittelbare
Arbeitsmarktintegration überwunden werden, soziale Teilhabe als Zielsetzung gesetzlich verankert wird und so im Einzelfall die Stärkung von Autonomie (…) Zielsetzung für die Eingliederung ist.
## Konsequenz daraus ist die Schaffung neuer rechtlicher Rahmenbedingungen (…) für die Umsetzung des Befähigungsansatzes. Die zur Befähigung zur Selbsthilfe und Autonomie und damit zur Eingliederung erforderliche Hilfe ist durch adäquate Dienstleistungen sicherzustellen. (…)
## Gesetzliche Regelungen zur Ausgestaltung eines qualifizierten Fallmanagements sind unverzichtbar. Da das Fallmanagement zur Umsetzung der Dienstleistungen nach dem Willen des Gesetzgebers ein Kernelement der Reform war, bedarf es auch aus rechtsstaatlichen Gründen rechtlicher Rahmenbedingungen zu Inhalt, Aufgabe, Funktion und Qualität des Fallmanagements sowie zur Sicherstellung von ausreichenden und qualifizierten personellen Ressourcen.
Ohne öffentlich geförderte Beschäftigung wird es nicht gehen
Die Nationale Armutskonferenz formuliert Anforderungen an einen sozialen Arbeitsmarkt. Denn menschliches Leben ist mehr, als eine Wohnung zu haben und genug Geld für Kleidung und Essen.

Arbeitslosigkeit abbauen: das ist das Glaubensbekenntnis deutscher Sozialpolitik. Aber was ist eigentlich gemeint? Empirische Studien zeigen: Nichts wünschen sich Erwerbslose sehnlicher, als „dabei“ zu sein, „mitmachen“ zu können. Nicht nur Prof. Klaus Dörre (Jena) weist mit seiner kritischen Studie „Bewährungsproben für die Unterschicht“ nach: Erwerbslose machen fast alles, um mit-arbeiten zu können. Auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit bestätigt dies. Warum also Aktivierung? Das Zauberwort der Hartz-Reformen suggeriert, da lägen welche auf der faulen Haut. Die frühen 2000er Jahre lebten politisch von solchen Anspielungen. (…) Wird da jemand endlich aus Starre erlöst und von den Jobcentern zum Jagen getragen? Pustekuchen. Dass „Fördern und Fordern“ kein Versprechen an die Erwerbslosen ist, haben wir spätestens nach 2010 gemerkt. Da wurde der Eingliederungstitel für arbeitsmarktpolitische Leistungen – also der finanzielle Inhalt des „Fördern“-Versprechens im Bundeshaushalt – auf die Hälfte zurückgekürzt. Heute sind die Verwaltungskosten in den Jobcentern höher.

Und die Arbeitslosenstatistik? Ein Drittel der Leistungsbeziehenden in der Grundsicherung (Hartz IV) war schon 2005 dabei (…) Und nur ein Drittel der Hartz-IV-Empfänger ist arbeitslos gemeldet. Als erwerbsfähig gilt zwar insgesamt die Hälfte aller Leistungsbeziehenden. Ein großer Teil fällt aber aus der Arbeitslosenstatistik heraus: geparkt in Minijobs, 1-Euro-Jobs, Trainingsmaßnahmen und prekären Jobs mit ergänzendem Leistungsbezug. Und dann gibt es noch die Nicht-Erwerbsfähigen, die andere Hälfte. Was heißt Aktivierung bei leistungsbeziehenden Kindern oder Alleinerziehenden ohne hinreichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten?

Da wären doch zielgenaue Hilfen angesagt (…). Doch woran misst sich der Erfolg des Sozialgesetzbuch II? Eben. Arbeitsvermittlung. Was heißt das? Schnell in einen Job, irgendeinen. Ein Viertel der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die den Leistungsbezug verlassen, sind nach drei Monaten wieder da. Ein Fünftel der Bevölkerung Deutschlands pendelt zwischen Hartz IV, prekärer Beschäftigung und prekärer Selbstständigkeit. Die Armutsrisikoquote steigt oder stagniert, nimmt aber auch im Konjunkturaufschwung nie ab – aber die Zahl der Sozialleistungsbeziehenden. Die Arbeitslosigkeit auch. Prekäre Beschäftigung ist das Arbeitsmarktwunder. Mit Armutsbekämpfung hat das nichts zu tun. Trotzdem wollen wir das Ziel „gute Arbeit“ nicht aufgeben. Es geht um Arbeit, von der Menschen leben können. Es geht um die Anerkennung von Arbeit, die nicht immer und unbedingt Erwerbsarbeit sein muss. Wir sprechen über die Möglichkeit von Menschen, sich mit dem, was sie tun, einzubringen. Ohne öffentlich geförderte Beschäftigung wird es nicht gehen. Aber ist das ein Sonderfall? Arbeitgebern wird viel und gern geholfen: In Brandenburg wird die Landschaft umgepflügt, um Braunkohle abzubauen und zu verfeuern. Das Argument: Arbeitsplätze. Gerät ein Automobilbauer in Finanznöte, gibt es schnell staatliche Hilfe. Wenn der Kulturbetrieb laufen soll, wird er bezuschusst. Wenn ein Wellnessbad gebaut wird, lockt die Standortförderung für Investoren. Aber wenn es einfach darum geht, dass Menschen zu fairen Bedingungen mitmachen können? Da wird sich gedreht und gewunden. Als wenn soziale Teilhabe durch Arbeit nicht ein soziales Recht ist. Die UNO zählt das zu den Menschenrechten.

Welche Ziele soll Arbeitsmarktpolitik verfolgen? Es kann nur um soziale Teilhabe gehen. Wenn Menschen soziale Probleme haben – dann geht es eben um Hilfe. Das lässt sich nicht an Vermittlungszahlen messen. Warum muss jede Schuldnerberatung nachweisen, dass die Vermittlungsfähigkeit dadurch besser wird? Es muss um langfristige Perspektiven gehen. Raus aus der Drehtür zwischen mieser Arbeit, Hartz IV und Besuch bei den „Tafeln“. Nicht mal eben schnell vermitteln. Sondern: so fördern, dass sich die Arbeits- und Lebensmöglichkeiten langfristig bessern. Von eigener Arbeit leben, mitbestimmen und selber Gesellschaft mitgestalten.

Hört sich utopisch an: Die Menschen sind nicht einfach für Arbeit dar. Arbeit ist für die Menschen da. Gute Arbeit kann ein Teil der Möglichkeiten sein, sich selbst auszudrücken und mitzugestalten. Menschliches Leben ist schließlich mehr, als eine Wohnung zu haben und genug Geld für Kleidung und Essen. Niemand darf mit Sanktionen bezwungen werden. Der Willen der Einzelnen ist zu achten. Und die Forderung nach einer gerechteren Gestaltung des Arbeitslebens.“

Der Schattenbericht ist als Sonderausgabe der sozialen Straßenzeitung strassenfeger erschienen. Über aufgeführten Link können Sie den Bericht runterladen.

Die Nationale Armutskonferenz ist ein Zusammenschluss von Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege, der Kirchen, des DGB, bundesweit organisierter Initiativen mit professionell und oder ehrenamtlich Tätigen. Diese verfügen über unterschiedlichste
Armutserfahrungen und kennen die Auswirkungen von Armut und sozialer Ausgrenzung sehr genau.

Link: www.nationalearmutskonferenz.de

Link: www.caritasnet.de

Link: http://nationalearmutskonferenz.de/data/Schattenbericht_2015_web.pdf

Quelle: Nationale Armutskonferenz

Dokumente: Schattenbericht_2015_web.pdf

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