Eine Herausforderung für die Kinder- und Jugendhilfe

Auszüge aus der Stellungnahme des Bundesjugendkuratoriums Inklusion: Eine Herausforderung auch für die Kinder- und Jugendhilfe:
“ … Mit dem Begriff »Inklusion« wurde in der UN-Behindertenrechtskonvention vom 03.05.2008 ein Markierungspunkt für einen Umgang der Gesellschaft mit den Teilhabe- und Förderungsrechten von Menschen mit einer Behinderung gesetzt. Die UN-Behindertenrechtskonvention bezieht sich dabei auf »Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können« (Artikel 1). Diese Betonung der Wechselwirkung zwischen individueller Beeinträchtigung und gesellschaftlichen Barrieren prägt die Inklusionsperspektive: Es geht um die bewusste Anerkennung spezifischer Merkmale und Bedingungen der institutionell als »behindert« gekennzeichneten Person – verbunden mit der Intention, ein gesellschaftliches System der Unterstützung zu schaffen, bei dem die vorhandenen individuellen Möglichkeiten und Potenziale genutzt und ausgebaut werden können. Die UN-Behindertenrechtskonvention stellt individuell vorhandene Kompetenzen in den Mittelpunkt und macht diese zum Ausgangspunkt politischer Bemühungen für bessere Teilhabemöglichkeiten. …

Der Auftrag der UN-Behindertenrechtskonvention: Chancengerechtigkeit und Teilhabe in einem inklusiven Fördersystem
Inklusion heißt Chancengerechtigkeit und Teilhabe
Zum Grundverständnis moderner demokratischer Gesellschaften gehört es, den gleichberechtigten Zugang der in ihnen lebenden Menschen zu allen Lebensbereichen zu ermöglichen. Das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes verpflichtet zu besonderen Unterstützungsmaßnahmen, sofern sich soziale Ungleichheit zu struktureller Benachteiligung verdichtet. Ziel dieser sozialstaatlichen Unterstützung ist die Schaffung von Chancengerechtigkeit. …

Eine auf Chancengerechtigkeit bedachte politische Strategie muss aber berücksichtigen, dass sich Formen struktureller Benachteiligung im Laufe der Zeit verändern können. …

Eine Politik der Chancengerechtigkeit richtet sich an der ganzen Person und an ihrer Lebenswelt aus. Sie ist insofern »ganzheitlich «, als sie den Menschen nicht vorwiegend unter einem einseitigen Blickwinkel bestimmter Merkmale oder Eigenheiten (z. B. Behinderung) betrachtet, die zum Gegenstand von Förderungen in bestimmten, für diese Merkmale »zuständigen« Institutionen werden. Im Mittelpunkt einer Politik der Chancengerechtigkeit in einer der Inklusion verpflichteten Gesellschaft steht die Betrachtung aller Menschen (auch derjenigen mit Behinderungen) in ihrer jeweiligen Lebenswelt. Somit darf eine solche Politik nicht nur bei den Individuen ansetzen, indem ihnen ein Zugang zu Schule, Ausbildung, Beruf etc. ermöglicht und deren Fähigkeit zur Teilnahme verbessert wird. So notwendig solche Integrationsaktivitäten auf dem Wege zur Inklusion auch sind, so wichtig ist eine Ergänzung dieser Bemühungen dadurch, dass die an die Individuen gestellten Anforderungen in den Institutionen dann auch »barrierefrei« bewältigt werden können; für die erforderlichen organisationsinternen Bedingungen haben die Institutionen Sorge zu tragen. Die Funktionsprinzipien und Leistungsmaßstäbe von Institutionen müssen also daraufhin überprüft und ggf. daraufhin verändert werden, dass alle Menschen in ihnen ihre Teilhabepotenziale entfalten können. …

Inklusion ist dabei zunächst unabhängig vom Merkmal der jeweiligen Beeinträchtigung zu verstehen. Menschen unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen körperlichen, psychischen und seelischen Ausgangsbedingungen sollen ihre spezifischen Fähigkeiten, Ressourcen und Einschränkungen gleichwertig in die Gesellschaft einbringen können. Die gesellschaftliche Heterogenität von individuellen Lernbedingungen, sozialen Herkunftsbedingungen und Lebenslagen ist künftig nicht als ein – möglichst abzuschaffender oder zumindest merklich zu reduzierender – Störfaktor, sondern als Voraussetzung kultureller und gesellschaftlicher Teilhabe zu beachten und anzuerkennen. …

Inklusion ist nicht nur Imperativ, sondern vor allem praktisches Handlungsfeld
Diese Erörterungen zum Inklusionskonzept sollen verdeutlichen, dass Inklusion eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, ## die Zeit braucht,
## die grundlegende Fragen der Gleichheit von Menschen in dieser Gesellschaft anspricht,
## die prozesshaft zu gestalten ist
## die veränderte Rahmenbedingungen (insbesondere bei der Qualifizierung der Fachkräfte und bei der Finanzierung der Angebote) benötigt und
## deren Umsetzung sich nicht einfach administrativ verordnen lässt, sondern einen tiefgreifenden kulturellen Wandel in unserer Gesellschaft und bei den beteiligten Fachkräften gleichermaßen voraussetzt wie als Folge nach sich zieht.
Diese Feststellung ist keineswegs trivial, verkürzt sich die aktuelle Inklusionsdebatte in Deutschland doch zuweilen entweder auf eine reine Schulstrukturdebatte um die Zukunft des Förderschulsystems oder aber auf die so genannte »Große Lösung«, verstanden zumeist als eine Integration der Hilfen für behinderte junge Menschen in das System der Kinder- und Jugendhilfe.
Doch auch mit solch großformatigen institutionellen Verschiebungen wird die eigentliche Inklusionsherausforderung nicht angemessen angesprochen. Diese entscheidet sich erst, wenn es um eine umfassende und reale Verwirklichung der Chancen auf volle gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe der Betroffenen und ihrer Familien geht.

Die Inklusionsdebatte verlangt ein verändertes Grundverständnis – weg von einem defizitorientierten Behinderungsmodell, hin zu einer Menschenrechts- und Teilhabeperspektive – sowie auf eine damit verbundene Anerkennung der »ganzen« Person in ihren lebensweltlichen Bezügen und ihren Mitbestimmungs- und Partizipationsrechten bei der Gestaltung von Unterstützungs- und Hilfesettings. …

Gerade weil Inklusion nur auf der Grundlage von entsprechenden Haltungen erfolgen kann, also ein Prinzip darstellt, das auf normative, ethische Überzeugungen bei den Individuen und in der Gesellschaft gründet, lässt sich die Umsetzung des Inklusionsprinzips nicht einfach politisch oder in Vorgaben für Organisationsgestaltungsprozesse anweisen. Die Arbeit an politischen, administrativen und finanziellen Rahmenbedingungen sowie an pädagogischen und organisationsbezogenen Konzepten und verstärkte Bemühungen zur Realisierung solcher Konzepte sind notwendig, jedoch sollte man sich bewusst sein, dass solche tiefgehenden Umorientierungen, wie sie mit dem Inklusionsprinzip verbunden sind, mit vielen Schwierigkeiten behaftet sind und nur in längeren, von Widersprüchen und Störungen begleiteten Prozessen vonstattengehen werden. Die dafür notwendigen Überzeugungen in der Gesellschaft müssen erzeugt werden, und es besteht gleichermaßen die berechtigte Hoffnung, dass die Praxis und die Effekte der Inklusion diese Haltungen verstärken werden. …

Was ist das Bundesjugendkuratorium?
Das Bundesjugendkuratorium (BJK) ist ein von der Bundesregierung eingesetztes Sachverständigengremium. Es berät die Bundesregierung in grundsätzlichen Fragen der Kinder- und Jugendhilfe und in Querschnittsfragen der Kinder- und Jugendpolitik. Dem BJK gehören bis zu 15 Sachverständige aus Politik, Verwaltung, Verbänden und Wissenschaft an. Die Mitglieder werden durch die Bundesministerin/den Bundesminister für Familien, Senioren, Frauen und Jugend für die Dauer der laufenden Legislaturperiode berufen. “

www.bundesjugendkuratorium.de
www.bundesjugendkuratorium.de/pdf/2010-2013/Stellungnahme_Inklusion_61212.pdf

Quelle: Bundesjugendkuratorium

Dokumente: Stellungnahme_Inklusion_61212.pdf

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