435.000 Menschen nahezu chancenlos auf dem Arbeitsmarkt

Messkonzept zur Bestimmung der Zielgruppe für eine öffentlich geförderte Beschäftigung
Maßnahmen der öffentlich geförderten Beschäftigung gelten seit der „Instrumentenreform“ 2012 mit dem Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt als „ultima ratio“ der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik. Öffentlich geförderte Beschäftigung soll sich von einer „Dauerförderung künstlich geschaffener Arbeitsplätze“ verabschieden und nachrangig gegenüber Instrumenten sein, die auf eine unmittelbare Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt zielen. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung heißt es, dass die „Ausrichtung der öffentlich geförderten Beschäftigung auf einen „arbeitsmarktfernen“ Personenkreis zur Aufrechterhaltung und (Wieder-)Herstellung der Beschäftigungsfähigkeit geschärft“ wird. Über die Größe und Struktur dieses Personenkreises besteht jedoch keine Klarheit. Zudem ist unklar, was arbeitsmarktferne Personen auszeichnet und wer diese Personen sind. Wie viele Personen sind als arbeitsmarktfern zu betrachten und kommen deswegen für Maßnahmen der öffentlich geförderten Beschäftigung in Frage? Die Expertise von Obermeier, Sell und Tiedemann geht dieser Frage nach.

Die Expertise stuft als „arbeitsmarktfern“ Menschen ein, die 2011 beschäftigungslos und in den letzten 36 Monaten mehr als 90 Prozent der Zeit ohne Beschäftigung waren und zudem mindestens vier „Vermittlungshemmnisse“ aufweisen.
Nach diesem Messkonzept zählen die Experten 435.178 Menschen zu den arbeitsmarktfernen Personen, die für Maßnahmen der öffentlich geförderten Beschäftigung in Frage kommen. In den Haushalten mit diesen 435.178 Personen leben über 305.000 Kinder unter 15 Jahren, die besonders von der Situation ihrer Eltern betroffen sind und die von einer teilhabeorientierten öffentlich geförderten Beschäftigung ihrer Eltern unmittelbar und mittelbar profitieren würden.

Obwohl mit zunehmender Dauer der Beschäftigungslosigkeit das gesellschaftliche Zugehörigkeitsgefühl sinkt, haben diese Personen eine große Arbeitsmotivation. Diese Arbeitsmotivation liegt sogar über der von Erwerbstätigen. Allerdings ist das bestehende Instrumentarium der öffentlich geförderten Beschäftigung aufgrund der immer restriktiveren förderrechtlichen Ausgestaltung nicht geeignet, eine teilhabeorientierte Ausgestaltung zu ermöglichen. Deshalb müssen von Seiten des Gesetzgebers zielorientierte Reformen vorgenommen werden.

Auszüge aus dem Fazit und einer Einordnung der Ergebnisse in die arbeitsmarktpolitische Diskussion:
“ … Immer offensichtlicher wird die Tatsache, dass die Politik diese Personengruppe in den vergangenen Jahren schlichtweg „vergessen“ bzw. bewusst in Kauf genommen hat, dass es zu einer dauerhaften Exklusion dieser Menschen aus dem Erwerbsleben kommt. Die Mittel für Eingliederungsmaßnahmen im SGB II-Bereich sind erheblich reduziert worden und gleichzeitig hat der Gesetzgeber förderrechtlich die bestehende „Lebenslüge der öffentlich geförderten Beschäftigung“ sogar noch verschärft und damit die Möglichkeit für angemessene Angebote weiter eingeengt. Im Ergebnis sehen wir eine massive „Verhärtung“ der Langzeitarbeitslosigkeit im Grundsicherungssystem – und das in Jahren, in denen wir mit positiven Rahmenbedingungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt konfrontiert waren. … Nun gibt es schon seit längerem … zahlreiche Reformvorschläge für eine sinnvollere öffentlich geförderte Beschäftigung, die aus dem Fachdiskurs stammen und die mittlerweile auch in die politischen Konzeptionen der (bisherigen) Oppositionsparteien eingeflossen sind und dort vor allem unter dem Begriff „Sozialer Arbeitsmarkt“ thematisiert werden. Den meisten Reformvorschlägen zentral ist die Infragestellung der „Lebenslüge“ der öffentlich geförderten Beschäftigung, also der Vorgabe des „magischen Dreiecks“ aus Zusätzlichkeit, öffentlichem Interesse und – seit der „Instrumentenreform“ 2012 leider sogar im Gesetz verankert – „Wettbewerbsneutralität“. Letztendlich basieren die meisten Reformvorschläge auf dem Vorschlag eines Systemwechsels hin zu einer Modellierung der öffentlich geförderten Beschäftigung auf der Grundlage des Lohnkostenzuschusses. Dieser soll dann im Prinzip für alle Unternehmen offen stehen, also auch für privatwirtschaftliche Anbieter – wohl wissend, dass wir bei der Gruppe der auch in dieser Studie im Mittelpunkt stehenden „arbeitsmarktfernen“ Menschen über Personen reden, die auch bei einer 100%-Lohnkostensubventionierung von den meisten privatwirtschaftlichen Betrieben nicht eingestellt werden. … Allerdings ist die prinzipielle Offenheit für alle Akteure auf dem Arbeitsmarkt wettbewerbs- und damit ordnungspolitisch ein wichtiger Baustein für eine zukunftsträchtige Ausgestaltung der öffentlich geförderten Beschäftigung. Wenn man aber gut begründet davon ausgehen kann, dass es in vielen Fällen nicht gelingen wird, in der Praxis die betroffenen Menschen in nennenswertem Umfang sofort (oder überhaupt) in Unternehmen des ersten Arbeitsmarktes direkt zu integrieren, dann brauchen wir professionelle Beschäftigungsunternehmen, die diese Aufgabe übernehmen – und dies in enger Zusammenarbeit mit Unternehmen des ersten Arbeitsmarktes und auf dem ersten Arbeitsmarkt. Genau deswegen ist auch die Forderung nach einem Wegfall der bestehenden förderrechtlichen Restriktionen so wichtig. …

Nun leben wir (noch) nicht in dieser Welt einer besseren Ausgestaltung der öffentlich geförderten Beschäftigung. Sondern wir leben in einer Welt, die bislang dadurch gekennzeichnet war, dass es mit wenigen schnappatmigen Unterbrechungen zu einem klar erkennbaren Downgrading der Möglichkeiten öffentlich geförderter Beschäftigung gekommen ist. Was man leider konstatieren muss ist eine „Entleerung“ der Instrumente öffentlich geförderter Beschäftigung in dem Sinne, dass es immer weniger bis gar nicht mehr möglich ist, höherwertige Formen der Beschäftigung realisieren zu können, also in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis zu arbeiten. Zugespitzt formuliert: Die Optionen öffentlich geförderter Beschäftigung wurden eingedampft auf die Arbeitsgelegenheit nach der Mehraufwandsentschädigungsvariante, also dem, was umgangssprachlich als „Ein-Euro-Jobs“ bekannt ist. …

Angesichts der erheblichen Heterogenität der Menschen im Grundsicherungssystem brauchen wir nicht ein Förderinstrument, sondern ein Spektrum an ineinander greifenden Förderoptionen, bei denen die AGH mit Mehraufwandsentschädigung durchaus ihren Platz hätten. Aber wir brauchen dann auch innerhalb eines professionellen Settings an Beschäftigungsangeboten die Möglichkeit, die Betroffenen „aufsteigen“ zu lassen in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Und auch für die Menschen, die über einen sehr langen Zeitraum in einer öffentlich geförderten Beschäftigung untergebracht werden (müssen), weil sie aus welchen einzelnen Gründen auch immer keinen Zugang zum ersten Arbeitsmarkt finden (können), brauchen wir Beschäftigungsangebote, die sich in dem Normalitätsrahmen unseres Arbeitsmarktes bewegen. Aber um dahin zu kommen, muss eine Grundsatzentscheidung getroffen werden: Wollen wir eine teilhabeorientierte Ausgestaltung der Arbeitsmarktpolitik oder wollen wir den „harten Kern“ der Langzeitarbeitslosen im passiven Transferleistungsbezug auf Dauer „stilllegen“. Denn genau das wäre die „Alternative“, die man offen aussprechen sollte. „

Die Expertise von Tim Obermeier, Stefan Sell und Birte Tiedemann ist in den Remagener Beiträgen zur Sozialpolitik 14-2013 erschienen. Im Anhang steht Ihnen der Volltext der Publikation „Messkonzept zur Bestimmung der Zielgruppe für eine öffentlich geförderte Beschäftigung“ zum Download zur Verfügung.

www.o-ton-arbeitsmarkt.de/o-ton-original/forscher-der-hochschule-koblenz-berechnen-435-000-menschen-in-deutschland-nahezu-chancenlos-am-arbeitsmarkt
www.hs-koblenz.de/ibus

Quelle: o-ton-arbeitsmarkt.de

Dokumente: Messkonzept_zur_Bestimmung_der_Zielgruppe_fuer_eine_oeffentlich_gefoerderte_Beschaeftigung.pdf

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