Armut, Diskriminierung, soziale Missstände: Bericht des UN-Ausschusses rügt Deutschland

„UN tief besorgt über soziale Missstände in Deutschland“. „UN rügt deutsches Sozialsystem“. „Regierung redet UN-Kritik schön“. „Jeder vierte Schüler ohne Frühstück“. „UN-Rüge nicht neu und ziemlich fragwürdig“. So oder ähnlich lauteten die Schlagzeilen in den Medien über einen Bericht des UN-Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Doch was ist dran an der Kritik? Einige Sozialverbände sehen sich in ihren Positionen und Forderungen bestärkt. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) weist die Kritik „als in weiten Teilen nicht nachvollziehbar und auch nicht durch wissenschaftliche Fakten belegt“ zurück. Der Bericht, der in den Medien für soviel Wirbel sorgte, ist eigentlich gar nicht neu. Er wurde bereits Ende Mai veröffentlicht und ist zudem ein vorläufiger Bericht. Vieles, was drin steht, klingt tatsächlich wie eine „schallende Ohrfeige“, doch warum der UN-Staatenbericht erst mit sechs Wochen Verzögerung Schlagzeilen machte, ist nicht nachvollziehbar. Worum geht es in dem Bericht? Kritisiert werden Ungerechtigkeiten auf dem deutschen Arbeitsmarkt sowei im Gesundheits- und Sozialwesen. Außerdem wird der Vorwurf formuliert, Migranten würden diskriminiert. Zudem wird das Fehlen eines wirksamen Armutsbekämpfungsprogamms bemängelt. Der Ausschuss der Vereinten Nationen hatte bereits vor vier Jahren ähnliche Kritik formuliert und äußert jetzt sein Unverständnis darüber, dass damalige Handlungsempfehlungen nicht umgesetzt wurden.

Kritik am UN-Staatenbericht

Das BMAS weist in seiner Stellungnahme gegenüber den „Jugendsozialarbeit News“ auf die positiven Entwicklungen im Sozialbereich hin: „Das Rentensystem ist demografiefest, Kinderbetreuung und Ganztagsschulen werden ausgebaut, das Bildungspaket entfaltet seine Wirkung, die Jugendarbeitslosigkeit ist eine der niedrigsten weltweit, die Beschäftigungszahlen in Deutschland erreichen immer neue Rekordwerte. Die Langzeitarbeitslosigkeit sinkt im Osten wie im Westen.“ Von Seiten des BMAS wird bedauert, dass der Ausschuss für seine Kritik keine validen Datengrundlagen benennt, noch Fakten aus der Stellungnahme der Bundesregierung zu dem Staatenbericht berücksichtigt. Auf der Homepage des BMAS sucht man jedoch vergeblich nach Informationen. Diese erhält man erst auf konkrete Nachfrage. Weder eine Stellungnahme des BMAS ist veröffentlicht, noch die Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht, auch nicht der Staatenbericht in seiner Vorabfassung.

tagesschau.de bemängelt ebenfalls die Datengrundlage des UN-Berichts und führt aus, die zur Armut zu Grunde gelegten Zahlen, seien überaltetes Datenmaterial. Regelmäßig untersucht der UN-Ausschuss die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Lage der UN-Migliedsländer. An dem Bericht, der die „Ohrfreige für die Bundesregierung“ sein soll, haben Gutachter aus 18 Staaten mitgewirkt. U.a. aus Ägypten, Weißrussland, Kamerun, Costa Rica, China, Indien, Algerien, Ecuador, Jordanien, Kolumbien und Russland. Grundlage für deren Berichterstattung sind Anhörungen und Beteiligungen von Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) und Interessensgruppen. Verbindliche Standards oder vergleichbare Maßstäbe für solche Prozesse und anschliedende Berichterstattung sind nicht bekannt. Zu den NGOs, die mitgearbeitet haben, zählen u.a. Amnesty International, Attac, der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener, der Verein „Intersexuelle Menschen“ oder das „Sex Worker Forum Vienna“. tagesschau.de hat Textpasagen des UN-Berichts in einem Bericht der NGO Attac wieder gefunden. Wortgleich scheinen die Ausführungen über die angeblich schlechte Ernährung von Schülern und Schülerinnen. Auch was die Armutszahlen angeht, wurde sich bei Attac bedient. In einem bericht über Deutschland legte Attac veraltete Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zu Grunde.

Jugendsozialarbeit sieht jede Menge Handlungsbedarf

Sicherlich ist die Lebenssituation in Deutschland für viele Menschen schwierig. Zu viele junge Menschen erfahren alltäglich Einschränkungen und Teilhabemöglichkeiten werden ihnen versagt. Erfahrungen von Armut, Ausbildungslosigkeit und Arbeitslosigkeit und ein „an den Rand der Gesellschaft gedrängt sein“, lässt viele Jugendlichen hoffnungslos werden. Der Blick auf die eigenen Kompetenzen und sich daraus schöpfenden Perspektiven ist ihnen verstellt. Aus Sicht der Jugendsozialarbeit gibt es noch jede Menge Handlungsbedarf um die Lebenssituation benachteiligter und beeinträchtigter junger Menschen zu verbessern, auch wenn das BMAS zum Teil berechtigte Erfolge feiert. Ein UN-Staatenbericht, der die Nöte der Menschen aufgreift und zum Handeln aufruft, ist hilfreich und unterstützend für das anwaltschaftliche Agieren der Jugendsozialarbeit, insbesondere im Kampf gegen Jugendarmut. Dessen Basis sollte allerdings seriöses und valides Datenmaterial sein. Eine Ergänzung durch Anhörungen von NGOs wäre sinnvoll und vorteilhaft, dürfte aber nicht alleinige Grundlage der Berichterstattung sein.

Auszüge aus der deutschen Übersetzung der Zusammenfassung in der Vorabversion:

„(…) Positive Aspekte

Der Ausschuss nimmt mit Genugtuung Kenntnis von der Ratifizierung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und des dazugehörigen Fakultativprotokolls (24. Februar 2009) sowie des Internationalen Übereinkommens zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen (24.September 2009). Darüber hinaus begrüßt der Ausschuss die Ratifizierung des Fakultativprotokolls zu dem Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (4. Dezember 2008) sowie der beiden Fakultativprotokolle zu dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes, d.h. betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten (13.Dezember 2004) und betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornografie (15. Juli 2009). (…)

Der Ausschuss ist erfreut über eine Reihe von Maßnahmen, die der Vertragsstaat getroffen hat, um die Wahrnehmung sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Rechte zu verbessern,

  • namentlich die Arbeitsmarktreformen, die den niedrigsten Stand der Arbeitslosigkeit in den letzten zwanzig Jahren ermöglicht haben;
  • die Setzung von Zielen, um die wirksame Durchführung des Nationalen Integrationsplans sicherzustellen;
  • die Einführung des allgemeinen Krankenversicherungsschutzes im Rahmen der Gesundheitsreform von 2007;
  • die Durchführung des Nationalen Aktionsplans von 2007 zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen;
  • die Maßnahmen zum Schutz von Kindern vor Missbrauch und Gewalt, beispielsweise das Netz von Hotlines, das Dienstleistungsangebot von Kinderschutzzentren und die kostenlosen Beratungsdienste für Kinder und Heranwachsende sowie
  • die Politik der Förderung und Unterstützung der häuslichen Langzeitpflege. (…)

Hauptproblembereiche und Empfehlungen

(…) Der Ausschuss fordert den Vertragsstaat nachdrücklich auf, alle gebotenen Maßnahmen zu ergreifen, um auf seine früheren, in den vorliegenden Abschließenden Bemerkungen erneut abgegebenen Empfehlungen einzugehen. (…)

  • Der Ausschuss nimmt mit tiefer Besorgnis Kenntnis von der Situation der Asylsuchenden, die keine ausreichenden Sozialleistungen erhalten, in unzulänglichem und überbelegtem Wohnraum leben, begrenzten Zugang zum Arbeitsmarkt haben und lediglich im Notfall Zugang zu gesundheitlicher Versorgung besitzen. (…) Der Ausschuss fordert den Vertragsstaat nachdrücklich auf, im Einklang mit internationalen Normen sicherzustellen, dass Asylsuchende in Bezug auf den Zugang zu beitragsunabhängigen sozialen Sicherungssystemen, zur Gesundheitsversorgung und zum Arbeitsmarkt Gleichbehandlung genießen. Der Ausschuss fordert den Vertragsstaat darüber hinaus auf, dafür zu sorgen, dass nationale Vorschriften betreffend Wohnbedingungen, insbesondere betreffend Überbelegung, auch auf Aufnahmezentren Anwendung finden.
  • Der Ausschuss ist nach wie vor besorgt darüber, dass die Arbeitslosenquote in den östlichen Bundesländern noch immer doppelt so hoch ist wie in den westlichen Bundesländern – ungeachtet der Maßnahmen zur Verringerung dieser Kluft. (…) Der Ausschuss fordert den Vertragsstaat auf, alle gebotenen Maßnahmen zu treffen, um regionale Unterschiede zwischen den westlichen und den östlichen Bundesländern bei der Beschäftigung zu beseitigen, unter anderem durch die Annahme von Beschäftigungsstrategien und -aktionsplänen, die spezifisch auf die
    Regionen mit der höchsten Arbeitslosigkeit ausgerichtet sind. (…)
  • Der Ausschuss ist besorgt darüber, dass die Arbeitslosigkeit bei Menschen mit Behinderungen trotz der getroffenen Maßnahmen hoch ist und das Problem durch die Arbeitsagenturen des Vertragsstaates nicht wirksam beseitigt wurde. Der Ausschuss ist ferner besorgt über den Mangel an zuverlässigen Daten über die Beschäftigungssituation von Menschen mit Behinderungen. (…) Der Ausschuss fordert den Vertragsstaat nachdrücklich auf, dafür Sorge zu tragen, dass die Bundesagentur für Arbeit Dienstleistungen anbietet, umMenschen mit Behinderungen zu befähigen, einen geeigneten Arbeitsplatz zu erwerben und zu behalten und in ihrer beruflichen Tätigkeit aufzusteigen. In diesem Zusammenhang verweist der Ausschuss den Vertragsstaat auf seine Empfehlungen über die arbeitsbezogenen Rechte von Menschen mit Behinderungen, die in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 5 (1994) über Menschen mit Behinderungen enthalten sind. Der Ausschuss ersucht ferner den Vertragsstaat, in seinem nächsten periodischen Bericht nach Jahr aufgeschlüsselte Angaben zur Arbeitslosigkeit bei Menschen mit
    Behinderungen bereitzustellen. (…)
  • Der Ausschuss stellt mit Besorgnis fest, dass Regelungen des Vertragsstaates im Rahmen der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe, einschließlich der Auflage für Empfänger von Arbeitslosengeld, ‚jede zumutbare Arbeit‘ anzunehmen, was in der Praxis als nahezu ‚jede Arbeit‘ ausgelegt werden kann, und der Einsatz von Langzeitarbeitslosen für unbezahlte gemeinnützige Arbeit zu Verstößen gegen die Artikel 6 und 7 des Pakts führen kann. (…) Der Ausschuss fordert den Vertragsstaat nachdrücklich auf, dafür zu sorgen, dass seine Arbeitslosenunterstützungssysteme das Recht des Einzelnen, frei eine Beschäftigung seiner Wahl anzunehmen, sowie das Recht auf gerechtes Entgelt achten. (…)
  • Der Ausschuss nimmt zur Kenntnis, dass das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit des Verfahrens zur Berechnung der Grundsicherung bestätigt hat, ist jedoch nach wie vor besorgt darüber, dass dieses Verfahren den Leistungsempfängern keinen angemessenen Lebensstandard gewährleistet. Weiterhin ist der Ausschuss besorgt darüber, dass infolge der sehr geringen Höhe der Regelleistungen für Kinder annähernd 2,5 Millionen Kinder in dem Vertragsstaat unterhalb der Armutsgrenze bleiben. Ferner ist der Ausschuss besorgt darüber, dass der steuerpflichtige Anteil der Renten 2005 auf 80 % angehoben wurde. (…) Der Ausschuss fordert den Vertragsstaat nachdrücklich auf, die Methoden und Kriterien zur Bestimmung der Regelsätze zu überprüfen und die Tauglichkeit der Kriterien regelmäßig zu überwachen, um sicherzustellen, dass die Regelsätze Leistungsempfängern einen angemessenen Lebensstandard ermöglichen. Weiterhin fordert der Ausschuss den Vertragsstaat nachdrücklich auf, die Auswirkungen seiner verschiedenen Pläne der sozialen Sicherheit, einschließlich des Kinderbildungspakets von 2011, auf die Kinderarmut fortlaufend zu prüfen. Der Ausschuss empfiehlt außerdem dem Vertragsstaat, seinen Beschluss zur Anhebung des steuerpflichtigen Anteils der Renten zu überdenken. In diesem Zusammenhang wiederholt der Ausschuss seine 2001 abgegebene Empfehlung, dafür Sorge zu tragen, dass die von dem Vertragsstaat durchgeführte Sozialreform nicht rückschrittlich die paktgestützten Rechte der Niedriglohngruppen und der benachteiligten und randständigen Bevölkerungsgruppen beeinträchtigt, und verweist den
    Vertragsstaat auf seine Allgemeine Bemerkung Nr. 19 (2007) über das
    Recht auf soziale Sicherheit. (…)
  • Der Ausschuss verleiht erneut seiner Besorgnis darüber Ausdruck, dass der Vertragsstaat auf seine Empfehlung von 2001, über den Umfang und die Ursachen der Wohnungslosigkeit in dem Vertragsstaat Bericht zu erstatten und Programme und Maßnahmen zur Lösung dieses Problems zu entwickeln, nicht eingegangen ist. (…) Der Ausschuss wiederholt seine Empfehlung und fordert den Vertragsstaat auf, über den Umfang und die Ursachen der Wohnungslosigkeit Bericht zu erstatten und konkrete Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung zu ergreifen. In diesem Zusammenhang ersucht der Ausschuss den Vertragsstaat, in seinen nächsten periodischen Bericht Angaben über Wohnungslosigkeit aufzunehmen – einschließlich nach Jahr, Geschlecht und Bundesland aufgeschlüsselte Daten. (…)
  • Der Ausschuss ist besorgt darüber, dass die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die ohne Abschluss die Schule verlassen, insbesondere unter den sozial benachteiligten Schülern, trotz der verschiedenen von dem Vertragsstaat getroffenen Maßnahmen, z.B. Einzelberatung und Überwachungsdienste, sowie der gezielten Unterstützung für Schüler mit besonderen Bedürfnissen nach wie vor hoch ist. (…) Der Ausschuss fordert den Vertragsstaat nachdrücklich auf, bei der Umsetzung von Plänen zur Unterstützung schulabbruchgefährdeter Schülerinnen und Schüler auf die sozialen Aspekte des Problems einzugehen. Der Ausschuss fordert außerdem den Vertragsstaat auf, Teilnehmer an berufsbildenden Ausbildungsprogrammen verstärkt auf die Möglichkeit zum Erwerb des Sekundarschulabschlusses hinzuweisen und dabei zu unterstützen. (…)“

Quelle: BMAS; tagesschau.de; Hochkommissariat für Menschenrechte; Tagesspiegel; Die Zeit online; suedetusche.de; VdK, Deutsches Kinderhilfswerk

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