Schwacher Schulabschluss und trotzdem schnell in die Berufsausbildung?

Auszüge aus dem wissenschaftlichen Diskussionspapier „Schwacher Schulabschluss und dennoch rascher Übergang in Berufsausbildung“ des BIBB von Ruth Enggruber und Joachim Gerd Ulrich:
“ (…) Deskriptive Ergebnisse: Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Zwillingsgruppen
Bei (…) den durchgeführten Vergleichen wollten die Forscher erkunden, wie die beiden Zwillingsgruppen ihre Schulzeit erlebt haben, welchen Freizeitaktivitäten sie in ihrer Schulzeit nachgingen, wie sie von ihrer Schule, aber auch von Freunden, Bekannten und ihren Eltern auf ihre Berufswahl und Lehrstellensuche vorbereitet wurden, welche Ausbildungsmarktverhältnisse gegen Ende ihrer Schulzeit in ihrer Region vorherrschten, wie sie sich während ihrer Bewerbungsphase verhielten und zu guter Letzt, durch welche allgemeinen Werthaltungen und Lebensziele sie sich auszeichnen. (…) ## Erleben der Schulzeit (…) Es zeigte sich, dass sich in der Gruppe der Schulabgänger/-innen mit verzögertem Übergang etwas häufiger (28% vs. 13%) Personen finden, die gerne zur Schule gingen und denen das Lernen für die Schule uneingeschränkt Spaß machte (18% vs. 9%). (…)
## Freizeitaktivitäten während der Schulzeit (…) Ein Unterschied zwischen den Zwillingsgruppen lässt sich allenfalls in Hinblick auf das Engagement bei der Feuerwehr, dem Rettungsdienst bzw. dem Technischen Hilfswerk (THW) ausmachen. Dieser Unterschied ist insofern interessant, als sich ein Engagement bei der Feuerwehr bzw. dem THW bereits in der Vorgängeruntersuchung der BIBB-Übergangsstudie 2011 als erklärungsträchtige Einflussgröße auf die Übergangsdauer in eine Berufsausbildungsstelle erwiesen hatte. Wer sich dort engagierte, fand rascher einen Ausbildungsplatz. Dies kann damit erklärt, dass sich diese Jugendlichen damit außerschulische Qualifikationen verschaffen, auf die im Rahmen von Bewerbungen vorteilhaft hingewiesen werden kann, und zum anderen damit, dass sich im Zuge des Engagements Kontakte zu Inhabern und Mitarbeitern von Ausbildungsbetrieben ergeben könnten, die zum Beispiel die Feuerwehr bei ihren Vereinsaktivitäten unterstützen oder gar selbst ehrenamtliches Mitglied dieser Organisationen sind. (…)
## Institutionalisierte Unterstützung bei der Berufswahl und Lehrstellensuche (…) Die meisten Probanden und Probandinnen (…) waren (…) relativ intensiv auf die Berufswahl und Lehrstellensuche vorbereitet worden. Zudem zeigte sich nirgendwo ein bedeutender Unterschied zwischen den beiden Zwillingsgruppen, der für eine Erklärung ihrer unterschiedlichen Übergangsdauer in Berufsausbildung von Relevanz sein könnte. (…)
## Informelle Unterstützung bei der Berufswahl und Lehrstellensuche (…) Jugendliche, die unmittelbar in eine Berufsausbildung einmündeten tauschten sich häufiger mit ihren Eltern über ihre Berufswahl und berufliche Zukunft aus. Der Unterschied (84% vs. 76%) ist jedoch nicht statistisch signifikant, auch wenn er bei einseitigem Hypothesentest zumindest die Schwelle von alpha=,100 überwindet (p=,093). Der geringe Abstand zwischen den Zwillingsgruppen könnte unter anderem darauf zurückzuführen sein, dass sich die Eltern der Jugendlichen mit verzögertem Übergang gleichermaßen engagiert mit der Berufswahl und der beruflichen Zukunft ihrer Kinder auseinandersetzen. (…)
## Ausbildungsmarktverhältnisse Der Vergleich der beiden Zwillingsgruppen hinsichtlich des Bundeslandes, in dem die Schule abgeschlossen wurde, deutete darauf hin, dass möglicherweise unterschiedliche Marktlagen für die unterschiedliche Übergangsdauer in Berufsausbildung verantwortlich gewesen sein könnten. Die Personen mit zügigem Übergang kamen besonders häufig aus Bayern, relativ selten dagegen aus den ostdeutschen Ländern. Tatsächlich zeigt sich, dass die regionalen Marktlagen zwischen den beiden Gruppen zum jeweiligen Zeitpunkt des Endes ihres Schulbesuchs deutlich differierten. (…)
## Faktisches Bewerbungsverhalten (…) Die Jugendlichen mit verzögertem Übergangsverlauf hatten sich deutlich häufiger bei der Arbeitsagentur bzw. den zugelassenen kommunalen Trägern als Ausbildungsstellenbewerber/-innen registrieren lassen. (…) Es ist anzunehmen, dass sich unterschiedliche Opportunitäten und Restriktionen der regional und beruflich stark segmentierten Ausbildungsmärkte auswirken, die zu unterschiedlichen Notwendigkeiten einer Unterstützung der Lehrstellensuche führen. Dagegen ähneln sich die Antworten auf die Frage, ob sich die Jugendlichen aktiv bei Betrieben beworben hatten. Dies trifft in beiden Gruppen auf mindestens 95 Prozent der Befragten zu. Es deutet sich aber an, dass sich die zweite Gruppe im Schnitt in mehr Berufen beworben hatte, auch wenn der Effekt nicht signifikant ist. Statistisch überzufällig erscheint jedoch die Beobachtung, dass sich die zweite Gruppe häufiger auch nach einer schulischen Berufsausbildungsstelle umgeschaut hatte. Dies könnte zum einen als ein Resultat individueller Unentschlossenheit und fehlender Berufswahlkompetenz interpretiert werden, die letztlich auch einen raschen Übergang hemmt. Zum anderen könnte diese Bewerbungsstrategie auch den Befürchtungen der Jugendlichen geschuldet sein, gar keinen Ausbildungsplatz zu finden, so dass sie „irgendeine“ Ausbildung einer drohenden Ausbildungslosigkeit vorziehen. (…)
Untersuchungsergebnisse aus dem Bundesinstitut für Berufsbildung zeigen, dass vor allem die Bedingungen auf den regionalen Ausbildungs- und Arbeitsmärkten entscheidend dafür sind, dass so viele ausbildungsinteressierte Jugendliche keinen Ausbildungsplatz bekommen. In vielen Regionen bleibt das Ausbildungsplatzangebot der Betriebe deutlich hinter der Ausbildungsplatznachfrage der Jugendlichen zurück. Da es in Deutschland kein flächenweites flexibles Kompensationssystem für fehlende betriebliche Ausbildungsangebote gibt, lässt sich der Versorgungsbedarf der Jugendlichen mit Ausbildungsplätzen im Großen und Ganzen nur soweit abdecken, wie es dem aktuellen Personalbedarf der Betriebe entspricht. Die enge Anlehnung der Ausbildungsleistung an die Bedürfnisse der Wirtschaft sichert somit zwar einen relativ geschmeidigen Übergang der Ausbildungsabsolventen/-absolventinnen in Erwerbstätigkeit, macht die Integrationsleistung des dualen Berufsausbildungssystems aber stark anfällig für wirtschaftlich-konjunkturelle und -strukturelle Entwicklungen. (…)

Die Analyse bestätigt, dass die Dauer des Übergangsprozesses, die Jugendliche mit maximal einem Hauptschulabschluss zur Aufnahme einer Berufsausbildung benötigen, vor allem von der Höhe des regionalen Ausbildungsplatzangebots beeinflusst wird. (…) Auch das Ergebnis, dass es Jugendliche mit Migrationshintergrund besonders schwer haben, einen betrieblichen Ausbildungsplatz zu bekommen, verweist darauf, dass die marktwirtschaftliche Steuerung des Zugangs zu einer Berufsausbildung sozial selektiv wirkt und soziale bzw. Bildungsungleichheit in erheblichem Maße verstärkt. Neben dem betrieblichen Ausbildungsplatzangebot ist als weitere organisationale Determinante für den Verbleib der Jugendlichen die Anzahl der jeweils in der Region vorhandenen Angebote im Übergangsbereich bedeutsam. (…) In der Gesamtschau haben sich somit auch in unseren Ergebnissen vor allem der regionale Ausbildungsmarkt und das vorhandene institutionelle Angebot im Übergangsbereich als die zentralen Determinanten dafür erwiesen, wie lange Jugendliche für die Aufnahme einer Berufsausbildung benötigen. (…)

Wenn jungen Menschen mit maximal einem mittelmäßigem Hauptschulabschluss bei entsprechenden Ausbildungsmarktbedingungen ohne Verzögerung die Aufnahme einer Ausbildung gelingt, ist das Argument, dass vor allem individuelle Defizite oder fehlende Ausbildungsreife für die Ausbildungslosigkeit Jugendlicher die entscheidenden Determinanten seien, kaum noch tragfähig. (…) Die institutionelle Regelung, den Zugang zu einer dualen Berufsausbildung ausschließlich über das Marktprinzip zu steuern, ist deshalb diskussionswürdig, zumal mit den Defizitzuschreibungen und Überweisungen der Jugendlichen in das Übergangssystem erhebliche Identitätszumutungen verbunden sein können. (…)

Die Ergebnisse der Analyse der BIBB-Übergangsstudie 2011 verweisen darauf, dass die Bildungswege der Probanden und Probandinnen mit raschem Ausbildungsbeginn deutlich günstiger verlaufen als jene mit verzögertem Start – gemessen an weniger Ausbildungsabbrüchen, dem erfolgreichen Abschluss einer Berufsausbildung, der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und geringerer Arbeitslosigkeit. So gesehen kann auch von einer „doppelten Benachteiligung“ der verzögert einmündenden Jugendlichen gesprochen werden: Zunächst sind sie vor allem durch die regionalen Ausbildungsmarktbedingungen und die dort herrschenden Einstellungspraxen der Betriebe benachteiligt. Des Weiteren verbessern sich ihre Zugangsvoraussetzungen für eine Berufsausbildung nicht grundlegend durch den Besuch im Übergangsbereich, vielmehr verlaufen ihre Bildungswege danach sogar weniger günstig als bei den Jugendlichen, die direkt eine Berufsausbildung begonnen haben. (…)

Im Interesse der betroffenen jungen Menschen sind diese Befunde als Begründung dafür zu lesen, dass die relevanten bildungspolitischen Akteure – also die staatlichen sowie die Arbeitgeberorganisationen und Gewerkschaften – dem historisch gewachsenen „Konsensprinzip“ entsprechend gefordert sind, gemeinsame Lösungen zu erarbeiten, mit denen für alle ausbildungsinteressierten Jugendlichen die unmittelbare Aufnahme einer Berufsausbildung gewährleistet werden kann. (…) Würde man es schaffen, das Durchschnittsalter nichtstudienberechtigter Jugendlicher mit neuem Ausbildungsvertrag von gegenwärtig 19,6 Jahren nur um ein Jahr zu senken, stünden dauerhaft mehrere hunderttausend Fachkräfte mehr zur Verfügung. Somit könnte sich auch außerbetriebliche Ausbildung rechnen, selbst wenn sie auf den ersten Blick teurer erscheint als die diversen Bildungsgänge im Übergangsbereich. “

www.bibb.de/veroeffentlichungen/de/publication/show/id/7412

Quelle: BIBB Wissenschaftliche Diskussionspapiere

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