Die Friedrich-Ebert-Stiftung legt eine Expertise zur Vermeidung prekärer Übergänge Jugendlicher mit Migrationshintergrund an der Schwelle von der Schule zur Ausbildung vor: Jugendliche mit Migrationshintergrund wachsen in Deutschland in sehr unterschiedlichen Milieus auf. Häufiger als Jugendliche ohne Migrationshintergrund in Familien mit einer ungünstigeren sozioökonomischen Positionierung. Junge Menschen mit Migrationshintergrund laufen Gefahr, bei der Vergabe von Ausbildungsplätze benachteiligt zu werden. Im Übergangsprozess Schule–Ausbildung mündet ca. jede/-r dritte nichtstudienberechtigte Schulabgänger/-in in einen Bildungsgang des Übergangssystems. Auf Jugendliche mit Migrationshintergrund trifft dies mit 38 Prozent häufiger zu. Nur die weniger günstigen sozialen Verhältnisse bieten hierfür keine hinreichende Erklärung. Aktuelle Erkenntnisse sprechen „für eine strukturelle Benachteiligung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Übergang von der Schule in eine Berufsausbildung“. Angesichts des bevorstehenden demografischen Umbruchs gilt es, alle Qualifikationsreserven in Deutschland nutzbar zu machen: Dazu zählt auch die Vielfalt der Potenziale junger Frauen und Männer mit Migrationshintergrund. Allen jungen Frauen und Männern, möglichst direkt im Anschluss an die Schule, sollten vollqualifizierende Ausbildungen angeboten werden. Zudem gilt es, die beruflichen Erfahrungen und Kompetenzen junger Erwachsener ohne Berufsabschluss durch eine anerkannte Nachqualifizierung zu erschließen.
Auszüge aus der Expertise „Prekäre Übergänge vermeiden – Potenziale nutzen“ von Ursula Beicht und Mona Granato im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung:
„(…) Bildungspolitische Herausforderungen und Handlungsempfehlungen
Die Prognosen zum zukünftigen Fachkräftebedarf in Deutschland (…) gehen von einem wachsenden Bedarf aus, insbesondere für den Zeitraum nach 2020. Dabei bestehen erhebliche sektorale wie regionale Unterschiede. Nach Qualifikationsniveau differenziert wird für die mittlere Qualifikationsebene ein massiver Fachkräftemangel ab ca. 2025
prognostiziert. Das heißt, für Fachkräfte mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung besteht spätestens zu diesem Zeitpunkt ein erheblicher nichtgedeckter Bedarf. (…)
Vor dem Hintergrund der anstehenden demografischen Herausforderungen ist es daher eine vordringliche bildungs- und arbeitsmarktpolitische Aufgabe, insbesondere das betriebliche Ausbildungsangebot in Westdeutschland mittelfristig zu steigern und an die zur Zeit immer noch höhere Nachfrage anzupassen, um kein Potenzial an qualifiziertem Fachkräftenachwuchs ungenutzt zu lassen. Zudem gilt es, das Angebot an beruflichen Nachqualifizierungsmöglichkeiten für (junge) Erwachsene erheblich zu erhöhen.
Als Folge des demografischen Umbruchs werden Auszubildende und junge Fachkräfte in Westdeutschland in 10 bis 15 Jahren Mangelware sein. Will Deutschland nicht aufgrund fehlender Fachkräfte auf einen großen Teil seines gesellschaftlichen Wohlstandes verzichten, ist die Qualifizierung aller Menschen und aller Generationen in Deutschland unerlässlich. Das vorhandene Qualifizierungs- und Nachwuchspotenzial gilt es bereits jetzt zu nutzen: Junge Frauen und Männer mit Migrationshintergrund bilden in der Mehrzahl eine schulisch gut vorgebildete Ressource, deren Kompetenzen und Profile es in Ausbildung und Beruf erheblich stärker auszuschöpfen gilt. Bereits heute stammen 27 Prozent der Jugendlichen in Deutschland aus Familien mit Migrationshintergrund, in vielen Ballungsgebieten sogar über 40 Prozent. (…)
Differenzierung der Lebenslagen und Pluralisierung der Lebenswelten junger Menschen in Deutschland gehen einher mit einer Vielfalt an unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und -potenzialen. Sollen die Potenziale stärker ausgeschöpft werden, so gilt es, diese Heterogenität von Lernern zu berücksichtigen:
- Eine Mehrheit der Jugendlichen mit Migrationshintergrund hat erfolgreich eine schulische Entwicklung durchlaufen, einen Schulabschluss erreicht und kann eine Ausbildung erfolgreich abschließen, sofern sie einen Ausbildungsplatz sowie adäquate Ausbildungsbedingungen (vor)findet.
- Ein Teil der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland die Schule besucht haben, benötigt zusätzliche Unterstützung im Verlauf der Ausbildung. Dies gilt im Übrigen
auch für Jugendliche ohne Migrationshintergrund, insbesondere für Schulabgängerinnen und Schulabgänger mit und ohne Hauptschulabschluss. Erhalten sie im Verlauf der Ausbildung eine kontinuierliche Unterstützung (…) so sind sie in der Lage, die Ausbildung erfolgreich abzuschließen. Unterstützung benötigen sie insbesondere bei den fachtheoretischen Lerninhalten. - Späteingereiste Jugendliche und nachziehende junge Erwachsene haben vielfältige Qualifi kationspotenziale, die noch immer unterschätzt und zu wenig für eine Ausbildung genutzt werden. Modellversuche zeigen: Junge Ausländerinnen, Ausländer, Aussiedlerinnen und Aussiedler, die erst als Jugendliche oder junge Erwachsene einreisen, können bei entsprechender Förderung eine berufliche Ausbildung erfolgreich durchlaufen und abschließen. (…)
Diese und andere Unterschiede in den Lernvoraussetzungen zwischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu erkennen ist zentral, um ihre Potenziale nutzen und ihnen adäquate Ausbildungsmöglichkeiten anbieten zu können. Die Vielfalt an Potenzialen ist Herausforderung und Chance zugleich – ein Prinzip, das sich im Cultural Mainstreaming manifestiert, um sicherzustellen, dass Menschen unterschiedlicher nationaler, kultureller oder geographischer Herkunft eine gleichberechtigte Teilhabe an zentralen gesellschaftlichen Gütern erhalten. (…)
Jedem Jugendlichen eine Ausbildung
- Jedem ausbildungsinteressierten Jugendlichen einen Ausbildungsvertrag
Jeder Schulabgängerin und jedem Schulabgänger ist bei Interesse an einer Berufsausbildung im Anschluss an die allgemeinbildende Schulzeit ein vollqualifizierender Ausbildungsplatz anzubieten. Hierbei hat die betriebliche Ausbildung eine hohe Priorität. Reichen die betrieblichen Ausbildungsplätze in der Region für eine Versorgung nicht aus, so sollte die öffentliche Hand mit Unterstützung der Arbeitsagenturen vor Ort (und der ARGEN und Jobcenter), außerbetriebliche Ausbildungsplätze in der betriebsnahen Variante fördern, insbesondere für die Zielgruppe junge Menschen mit Migrationshintergrund. (…) - „Smart Selection“ – eine faire Chance für alle
Rekrutierungsverfahren von Betrieben können von Annahmen über bestimmte Personengruppen geprägt sein, die den Zugang junger Menschen mit Migrationshintergrund zu einer betrieblichen Ausbildung erschweren. Von besonderer Bedeutung ist daher eine Überprüfung der Personalprozesse in Unternehmen auf Chancengleichheit für alle Bewerberinnen und Bewerber; dies gilt für alle Einzelschritte der Rekrutierung. Hierzu ist ein chancengleiches Auswahlverfahren notwendig.
Die Anonymisierung der Bewerbungsunterlagen (ohne Namen und Fotos) für die Vorauswahl von Bewerberinnen und Bewerber hat sich als effiziente Möglichkeit bewährt, die Beteiligung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund an betrieblicher Ausbildung zu steigern: So praktiziert beispielsweise der kaufmännische Verband in der Schweiz erfolgreich die Anonymisierung der Bewerberdaten in seinem Projekt „smart selection“. Dabei zeigt die Auswertung der Kontakte zwischen Lehrbetrieben und Jugendlichen deutlich: „Sind Bewerberdaten anonym, hat die Herkunft keinen Einfl uss mehr auf die Erfolgschancen“. Die Initiative der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2010), anonymisierte Bewerbungsverfahren in großen Unternehmen in Deutschland einzuführen, sollte zeitnah auf die betriebliche Ausbildung – auch in kleineren Betrieben – ausgedehnt
werden. - Übergangsprozesse kontinuierlich begleiten bis über die 2. Schwelle hinaus
Punktuelle Beratung und Unterstützungsleistungen genügen gerade bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund oft nicht, da ihnen seltener familiäre Unterstützungsnetzwerke im Übergangs- und Qualifizierungsprozess offenstehen. Notwendig ist daher eine aktive und kontinuierliche Begleitung junger Menschen, die einer Unterstützung bedürfen, in dieser Phase von der Schule über die Ausbildung in den Beruf. (…)
Neuere Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass selbst 27-Jährige mit Berufsabschluss sich für ihre jetzige Phase der Berufsentwicklung sowie rückwirkend für den Übergang Schule – Ausbildung – Beruf eine solche kontinuierliche Begleitung wünschen. Aktuelle Programme hingegen, die lediglich den Übergangsprozess bis zur Einmündung in Ausbildung in den Blick nehmen, greifen hier erheblich zu kurz. Dies gilt auch für die 2010 vom Bundesministerium für Bildung gestartete Initiative „Bildungsketten“, deren grundlegende Zielsetzung dahingehend erweitert werden sollte, dass alle Jugendliche nicht nur bis ein Jahr nach der erfolgreichen Einmündung in eine vollqualifizierende Ausbildung durch eine/n „Patin/Paten“ begleitet werden können, sondern auch noch im gesamten Verlauf der Ausbildung und über die erfolgreiche Einmündung in den Beruf hinaus. (…)
- Übergangssystem – Vom Übergang zur Ausbildungsbegleitung
Vorrang hat die Versorgung von Jugendlichen mit Ausbildungsstellen. (…) Es besteht daher dringender Handlungsbedarf für eine Kurskorrektur bei der Steuerung des sogenannten Übergangssystems. Priorität sollten Maßnahmen erhalten, die tatsächlich dazu beitragen, jeder bzw. jedem ausbildungsinteressierten Schulabgängerin und Schulabgänger unmittelbar nach Schulabschluss einen Ausbildungsvertrag anzubieten. (…)Eine weiteres Umlenken ist auch dahingehend erforderlich, dass Jugendliche bei Bedarf während der Ausbildung mehr Lernbegleitung,sozialpädagogische Betreuung und Unterstützung bei Schwierigkeiten in der Ausbildung erhalten. (…) Bereits existierende Ansätze im Bereichvon Mentoring im Verlauf der Ausbildung, wie die Initiative „VerA Verhinderung von Ausbildungsabbrüchen“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, die in Zusammenarbeit mit dem Senior Experten Service durchgeführt wird, sind insbesondere für Auszubildende mit Migrationshintergrund flächendeckend auszubauen, um Ausbildungsabbrüche zu vermeiden: Über die Lernunterstützung, die zum Teil bereits in abH’s erfolgt, besteht hier ein hoher Bedarf an Austausch mit berufserfahrenen Experten über die Ausbildungssituation selbst und mögliche Schwierigkeiten oder Konflikte in der Ausbildung. (…)
Eine „zweite“ Chance für Jede/Jeden – niemand ohne Abschluss einer Berufsqualifizierung
Die Barrieren, denen junge Menschen mit Migrationshintergrund auf dem Weg in eine Ausbildung begegnen, sowie ihre geringeren Chancen, in eine vollqualifizierende Ausbildung einzumünden, bleiben nicht ohne Auswirkungen. Erheblich häufiger als junge Erwachsene ohne Migrationshintergrund bleiben sie ohne abgeschlossene Berufsausbildung
und somit ohne Aussichten auf eine tragfähige berufliche Integration. (…)
Erheblich stärker als bisher sind daher die in Pilotprojekten erfolgreich erprobten Strategien und Verfahren der „zweiten Chance“ zur Nachqualifizierung in einem anerkannten Beruf für junge Erwachsene mit und ohne Migrationshintergrund zu nutzen. Die berufsbegleitende modulare Nachqualifizierung, die an den bisherigen beruflichen Erfahrungen und Kompetenzen junger Erwachsener anknüpft, gilt es flächendeckend auszubauen.
Hierfür ist ein integriertes „Förderprogramm zweite Chance“ mit längerer Laufzeit erforderlich, das diese „zweite Chance“ konsequent fördert, mit dem Ziel, den rund 1,09 Millionen jungen Ungelernten mit Migrationshintergrund und den rund eine Millionen jungen Ungelernten ohne Migrationshintergrund in Deutschland im Alter von 25 – 30 Jahren ein Angebot zur beruflichen Nachqualifizierung in einem anerkannten Beruf zu unterbreiten. Nur mit einer soliden Finanzierungsbasis sowie einer nachhaltigen Verstetigung der Förderstrukturen ist es möglich, die bildungspolitische Herausforderung einer „zweiten“ Chance für junge Erwachsene ohne Ausbildungsabschluss zu meistern. (…)
Die konkrete Zielsetzung sollte dabei sein, wie es die Enquete Kommission „Migration und Integration“ des Landtags für Rheinland-Pfalz formuliert hat, die Zahl und den Anteil junger Menschen (25 bis 35 Jahre) mit und ohne Migrationshintergrund, die keinen beruflichen Abschluss haben, in den nächsten fünf Jahren zu halbieren. (…)
Vielfalt als Chance für alle
- Vielfalt als Chance – aus Sicht der Betriebe und der Jugendlichen
Betriebe verstehen zunehmend: Ein modernes zukunftsfähiges Unternehmen kann es sich nicht leisten, auf die Potenziale junger Menschen mit Migrationshintergrund als Nachwuchskräfte in Ausbildung und Beruf zu verzichten. Denn in den nächsten Jahren werden Betriebe mehr und mehr in den Wettbewerb um Nachwuchskräfte für eine Ausbildung eintreten. (…) Es dient dem unternehmerischen Eigeninteresse, die Vielfalt der Kompetenzen und Fähigkeiten aller jungen Menschen zu nutzen. „Vielfalt als Chance“ zu begreifen – hierfür haben sich bislang über 800 namhafte Unternehmen wie Institutionen des öffentlichen Dienstes in der „Charta der Vielfalt“ zusammengeschlossen und sich u.a. dazu verpflichtet, eine Unternehmenskultur zu pflegen, die von gegenseitigem Respekt und Wertschätzung jedes Einzelnen, bei besonderer Verantwortung der Führungskräfte geprägt ist. Eines der zentralen Ziele dieser Initiative ist die Überprüfung der Personalprozesse im Unternehmen auf Chancengleichheit und die Berücksichtigung individueller Kompetenzen. (…)
Junge Menschen haben den Vorteil, der in der Vielfalt liegt, bereits seit längerem erkannt. Sie bevorzugen in der Ausbildung herkunftsgemischte Teams. Demnach empfinden fast alle Auszubildende „die interkulturelle Zusammensetzung und Zusammenarbeit als angenehm und positiv“. Die große Mehrheit (83 Prozent) bevorzugt „eine Ausbildung in interkultureller Gruppenzusammensetzung“ – Auszubildende mit Migrationshintergrund besonders häufig. Gerade in der eigenen Auszubildenden-Gruppe verstehen sich die meisten Jugendlichen (86 Prozent) (sehr) gut mit ihren Mit-Auszubildenden aus einer anderen Herkunftskultur, Auszubildende mit Migrationshintergrund besonders häufig. Die gemeinsame Ausbildung von Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft bewerten junge Menschen als „interessanter und vielfältiger“. Dementsprechend sind sie deutlich häufi ger mit ihrer Ausbildung zufrieden als diejenigen aus eigenkulturellen Gruppen.
- Vielfalt als Chance – interkulturelle Öffnung und Cultural Mainstreaming
Die interkulturelle Öffnung aller Institutionen in der Einwanderungsgesellschaft ist eine wesentliche Voraussetzung für eine gelingende Integration. Um ein ausreichendes, differenziertes Angebot an öffentlichen Dienstleistungen für alle Bevölkerungsgruppen, d.h. auch für diejenigen mit Migrationshintergrund, zur Verfügung stellen zu können, sind Strategien der interkulturellen Öffnung von öffentlich finanzierten Institutionen unabdingbar. Dieses bedingt zugleich eine veränderte Personalpolitik. Angehörige von Minderheiten sind bisher zu selten im Personal öffentlicher Einrichtungen vertreten und selbst als Honorarkräfte unterrepräsentiert. Ihr Anteil an allen Beschäftigten muss hier deutlich erhöht werden. Im Hinblick auf die berufliche Ausbildung bedeutet dies, den Anteil an Auszubildenden mit Migrationshintergrund (…) in den öffentlichen Diensten und Institutionen in den kommenden Jahren über den im Nationalen Integrationsplan vorgesehenen Anteil hinaus deutlich zu steigern. (…)
- Vielfalt als Chance – Potenziale auch nach der Ausbildung nutzen
Bisher steigert eine abgeschlossene Berufsausbildung zwar die Arbeitsmarktchancen junger Menschen, bei denjenigen mit Migrationshintergrund aber in geringerem Ausmaß. Neueren Studien zufolge werden Absolventinnen und Absolventen berufl icher wie akademischer Bildung mit einem Migrationshintergrund bei gleicher Qualifikation seltener zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. (…) Deutlich stärker als bisher sollten Arbeitgeber im eigenen Interesse die Potenziale junger Menschen mit Migrationshintergrund als qualifizierte Nachwuchskräfte nutzen, insbesondere wenn sie sie selbst ausgebildet haben. (…)“
Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung Gesprächskreis Migration und Integration; WISO Diskurs