Straßenjugendliche als Zielgruppe der Jugendsozialarbeit

Auch wenn Sie in den öffentlichen Debatten derzeit keine Rollen spielen und gerne behauptet wird, das Problem sei nicht so groß, es gibt sie, die Straßenjugendlichen. Ihr Hauptsozialisationspunkt ist die Straße. Die genaue Anzahl ist unbekannt. Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) schätzt die Zahl der entkoppelten Jugendlichen zwischen 75.000 und 84.000. Die BAG Wohnungslosenhilfe schätzt den Anteil der Kinder und Jugendlichen an allen Wohnungslosen in Deutschland auf 32.000 (von insgesamt 252.000). Einige von ihnen haben bereits Erfahrungen mit Jugendhilfeeinrichtungen hinter sich, deren Angebote sie zum Teil als unflexibel und nicht auf ihren tatsächlichen Bedarf ausgerichtet empfunden haben. Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) rückt diese Jugendlichen in den Fokus der Aufmerksamkeit. Mit der Publikation FORUM Jugendhilfe greift die AGJ das Thema Straßenjugendliche in unterschiedlichen Facetten auf, bietet Einblick zum wissenschaftlichen Forschungsstand und informiert über die Arbeit verschiedener Organisationen mit den jungen Menschen.

Auszüge aus dem Beitrag „Einmal Straße, immer Straße? – Handlungsbedarfe und Unterstützungsstrukturen für Straßenjugendliche“ von Tatjana Mögling und Sarah Beierle (DJI) in Ausgabe 02/2015 von FORUM Jugendhilfe:

„Soziale Ursachen

Die Benachteiligungserfahrungen und sozialer Ausschluss haben bei den meisten jugendlichen bereits in der Kindheit eingesetzt. Nach empirischen Befunden des Deutschen Jugendinstituts sind drastische Erscheinungen sozialer Ausgrenzung bis hin zur Obdachlosigkeit sowohl auf individuelle als auch strukturelle Gefährdungspotenziale zurückzuführen. So wurden von Fachkräften der Sozialen Arbeit in einer Untersuchung zu ausgegrenzten Jugendlichen (Tillmann/Gehne 2012) als vorrangige individuelle Gefährdungsaspekte genannt: Bildungsbenachteiligung, Suchthintergrund, keine Aufenthaltsgenehmigung (insbesondere bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen), fehlende soziale Kompetenzen, ein problematisches Elternhaus, häufig auch häuslicher sexueller Missbrauch, teils nicht diagnostizierte psychische Erkrankungen. Als wichtigste strukturelle Ausgrenzungsrisiken gelten hingegen: Langzeitarbeitslosigkeit und Totalsanktionierung im SGB-II-Bezug, Abbrüche von Ausbildung und Maßnahmen sowie Exklusion im Anschluss an eine Haftentlassung.

Gemeinsames biografisches Merkmal und somit auch Auslöser für die „Entkoppelung“ sind letztlich Konflikte im Elternhaus. Diese Befunde bestätigen ebenso die Ergebnisse einer Expertise des DJI für die BAG Katholische Jugendsozialarbeit zu verlorenen Jugendlichen (…). Im Rahmen einer qualitativen Befragung weist ein Drittel von insgesamt 24 interviewten Jugendlichen typische Charakteristika prekärer Lebenssituationen auf. Zu besonderen Merkmalen individueller Benachteiligung gehören innerhalb des untersuchten Samples in erster Linie Jugendliche mit zeitweiligem Suchtverhalten, mit Status des Asylbewerbers sowie mit einer persönlichen Krankengeschichte. Solche Faktoren bilden erhebliche Handicaps bei der Überwindung ihrer aktuellen prekären Lebenssituation, die zumeist von fehlenden Berufs- und Lebensperspektiven sowie Exklusionserscheinungen geprägt ist. (…)

Situation auf der Straße

(…) Die Straßenszene übt auf die Jugendlichen eine starke Anziehung aus. Hier erleben sie oft erstmals Zusammenhalt und Anerkennung. Um ihre Szenenzugehörigkeit zu sichern, müssen sie aber dann auch die Bedingungen der Szene erfüllen und sich innerhalb einer Rangordnung positionieren. Darüber hinaus sind sie einem starken Druck hinsichtlich der für Drogenkonsum notwendigen Geldbeschaffung – sei es illegal oder auf legalem Wege – ausgesetzt. (…) Die von Armut geprägten Lebensbedingungen bewirken eine prekäre gesundheitliche Situation der Jugendlichen, da ihnen eine ärztliche Versorgung kaum zur Verfügung steht. Viele dieser Jugendlichen haben zudem nicht nur körperliche und gesundheitliche Beeinträchtigungen, sondern auch seelische und psychische Störungen.

Oftmals erleben die Jugendlichen im Verlauf ihrer Straßenkarrieren zahlreiche Frustrationserlebnisse. (…) Allerdings gestaltet sich die Loslösung von der Straßenszene nur sehr schwer, da die Einsicht über eine langfristig drohende Verelendung erst kommt, wenn die Jugendlichen sich solchen Institutionen wie z. B. der Schule bereits weit entfernt haben und ihnen somit die für eine erfolgreiche Reintegration notwendigen Zugangsvoraussetzungen wie etwa Schulabschlüsse fehlen. Zugleich erleben sie eine Ablehnung der Mehrheitsgesellschaft die ihre Situation als selbst verschuldet ansieht, und müssen ihre traumatischen Erlebnisse immer wieder im Zuge von Behördengängen erzählen, um ihre Glaubwürdigkeit und Hilfebedürftigkelt nachzuweisen. (…)

Ansätze bei der Arbeit mit Straßenjugendlichen

Eine Stelle, an die sich Kinder und Jugendliche in akuten familiären Problemlagen wenden können, ist der – meist beim Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) der Jugendämter angegliederte – Kinder- und Jugendnotdienst Die Jugendlichen haben das Recht, unabhängig von ihrem Aufenthaltsort beim angesprochenen Jugendamt in Obhut genommen zu werden. (…) Jugendliche, die auf der Straße landen, sind bislang entweder nicht mit den Notdiensten in Kontakt gekommen oder die Vermittlungsversuche sind oftmals (mehrfach) gescheitert.
Für Jugendliche auf der Straße werden mitunter niedrigschwellige Überlebenshilfen in Form einer Notversorgung mit Lebensmitteln, Kleidung, medizinischen Leistungen oder Notschlafstellen bereitgestellt. Das Angebotsspektrum ist von Stadt zu Stadt sehr unterschiedlich. Kritisch wird hieran gesehen, dass durch solche Angebote das Leben auf der Straße erleichtert und sich somit Straßenkarrieren verfestigen würden. Andererseits beugen diese Angebote etwa Kriminalität, Infektionskrankheiten etc. und einer schwerwiegenden Verelendung vor. Auch stehen die Überlebenshilfen in der Regel nicht alleine da, sondern sind an Hilfeeinrichtungen für Straßenkinder und -jugendliche gekoppelt. (…)

Hinsichtlich der schulischen und beruflichen Integration der Jugendlichen ist die Jugendberufshilfe in der Verantwortung. Über diese können die Jugendlichen in Maßnahmen vermittelt werden, die sie an einen strukturierten Tagesablauf heranführen und ihnen die Reintegration erleichtern sollen. Projekte, die ressourcenorientiert und mit den Jugendlichen perspektivisch arbeiten, sind mitunter auch schon bei den Trägern angesiedelt. Durch eine kreative oder musische Tätigkeit sollen die Jugendlichen ihre Fertigkeiten entdecken, weiter ausbauen und langfristige Zukunftsvorstellungen entwickeln. Die Erleichterung der bürokratischen Abwicklung könnte durch die nun sukzessiv aufgebauten Jugendberufsagenturen ein Schritt in die richtige Richtung sein. (…)

Herausforderungen für die Jugendsozialarbeit

(…) Jugendsozialarbeit ist gefordert, die Jugendlichen auf ihrem Weg in die Verselbstständigung zu unterstützen und zu begleiten. Oftmals steht sie hier vor der Herausforderung, rechtliche Ansprüche der Jugendlichen auf Hilfen zur Erziehung auch nach deren 18. Lebensjahr durchzusetzen. Zudem sollte von Behörden, aber auch von der Jugendhilfe stärker berücksichtigt werden, dass die Jugendlichen oftmals schon frühzeitig in der Herkunftsfamilie Kontakt zu Hilfemaßnahmen gehabt haben. Bei erneut einsetzenden Interventionen kommt es darauf an, bereits erfahrene Diskontinuitäten in der Herkunftsfamilie zu berücksichtigen und diese nicht weiter zu verstärken (…).

Zudem besteht ein Mangel an spezialisierten Angeboten für besonders Benachteiligte, welche Straßenkarrieren möglicherweise vorbeugen könnten. Gerade solche Jugendlichen mit geringeren individuellen Ressourcen müssen zuerst zu einer realistischen Wahrnehmung und besseren Entscheidungsfähigkeit geführt werden. Eine auf diese Weise stattfindende Begleitung können die Absolvierung unnötiger und mit Erfahrungen des Scheiterns verbundener Warteschleifen und berufsbiografische Sackgassen vermeiden helfen. Hilfreich wären neue Formate für integrierte Angebote mit therapeutischen Bestandteilen und berufsbildenden Inhalten. (…)

Um die Forderung der Jugendlichen nach einer stärkeren Berücksichtigung und Anerkennung ihrer Bedürfnisse zu unterstützen, sollte sich Jugendsozialarbeit insbesondere auch als Vermittlerin zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Entscheidungsträgern und den betroffenen Jugendlichen verstehen und als eine solche agieren.“

Quelle: Forum Jugendhilfe AGJ 02/2015

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