Neue elektronische Medien und Suchtverhalten

Das Thema »Neue elektronische Medien und Suchtverhalten« rückt vor dem Hintergrund einer weiterhin zunehmenden zeitlichen, räumlichen und sozialen Verbreitung neuer elektronischer Medien sowie immer jüngerer Nutzer in den Blickpunkt gesellschaftspolitischer Diskussionen. Die Nutzung verschiedener Medien findet zunehmend mobil in immer mehr Lebensbereichen statt. Je umfassender elektronische Medien im gesellschaftlichen Lebensalltag genutzt werden, desto größere gesellschaftliche Chancen, aber auch Risiken entstehen im Umgang mit ihnen. Insbesondere für Kinder und Jugendliche, die nach neuen Erlebnissen und Herausforderungen suchen, können mediale Welten zum zentralen Lebensraum mit Sogwirkung werden.

Vor diesem Hintergrund hat der Deutsche Bundestag das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) mit einer Untersuchung zum Thema »Neue elektronische Medien und Suchtverhalten – Risiken, Bewältigungsstrategien und Präventionsmöglichkeiten« beauftragt. Ein Bericht fasst als Ergebnis dieses Auftrags die wissenschaftlichen Befunde zu Umfang und Folgen suchtartiger Mediennutzung zusammen und stellt gesellschaftspolitische Handlungsfelder zur Diskussion.

Auszüge aus dem dem Bericht Neue elektronische Medien und Suchtverhalten von Michaela Evers-Wölk und Michael Opielka, unter Mitarbeit von Matthias Sonk :
„(…) Das Thema »Neue elektronische Medien und Suchtverhalten« ist nicht klar konturiert. So befinden sich die Medien selbst und auch die Mediennutzungsmuster der Menschen in einem ständigen Veränderungsprozess. Zudem herrscht kein Einvernehmen darüber, was im Zuge der fortgeschrittenen Mediatisierung der Gesellschaft als »normales Mediennutzungsverhalten« verstanden wird. Bislang existiert keine genaue Definition von Mediensucht. (…)

## Allgemeine Internetsucht
Die allgemeine Internetsucht rückt eine Internetnutzung mit großem Zeitkontingent und ohne Präferenz
für eine spezielle Internetanwendung in den Mittelpunkt. Zu den Risikofaktoren für die Ausbildung einer allgemeinen Internetsucht zählen eine starke soziale Isolation sowie Persönlichkeitsmerkmale wie Schüchternheit, Stressanfälligkeit, ein schwaches Selbstwertgefühl oder eine gering wahrgenommene soziale Unterstützung – z. B. durch Freunde oder Eltern. Als weiterer Risikofaktor wird das Fehlen von Bewältigungsstrategien für persönliche Probleme diskutiert. Zu den Folgen allgemeiner Internetsucht zählt die Vernachlässigung von privaten und gesellschaftlichen Aufgaben. Es kann zu negativen Konsequenzen in privaten Beziehungen oder zu Leistungsabfällen in Schule oder Beruf kommen.
Das Attraktivitätspotenzial des Internets wird im Zusammenhang mit der allgemeinen Internetsucht durch Eigenschaften der »Triple-A-Engine« beschrieben: Das Internet zeichnet sich aus durch einen ständigen und leichten Zugang (»accessibility«), der theoretisch weltweit, jederzeit und von überall her möglich ist, durch preiswerte und zeitsparende Nutzungsmöglichkeiten, die mit geringem Aufwand (»affordability«) in Anspruch genommen werden können und durch anonyme Nutzungsmöglichkeiten (»anonymity«). Weitere Attraktivitäts- und Bindungspotenziale liegen in der Möglichkeit der Gestaltung eigener Onlinewelten, sowohl in Bezug auf die Umgebung als auch auf die Person. Hinzu kommt, dass die Onlinewelten persistent sind: Sie bestehen auch außerhalb der eigenen Nutzungszeiten fort, sind zugänglich und werden weiterentwickelt. Aber auch dem Streben nach hedonistisch belohnenden Erlebnissen kommen internetbasierte Angebote in Form von attraktiver Grafikgestaltung sowie umfassender Einbindung von (Bewegt-)Bildern und interaktiven Elementen zunehmend entgegen. Mit der Verbreitung von 3-D- bzw. Augmented-Reality-Anwendungen werden neue Attraktivitäts- und Bindungspotenziale der Onlinewelten generiert. (…)
##Social–Network–Sucht
Die Sucht nach sozialen Netzen (Social-Network-Sucht) ist bislang wenig erforscht. (…) Wie im ganzen Spektrum der Mediensucht werden im Zusammenhang mit Social-Network-
Sucht verschiedene Begriffe genutzt: Hierzu zählen Onlinekommunikationssucht, Social-Media-Sucht, Chatsucht oder auch angebotsspezifische Begriffe wie Twitter-Tweet-Sucht, WhatsApp-Sucht oder Facebooksucht. (…)
In einigen Studien finden sich Hinweise darauf, dass Jugendliche und darunter insbesondere Mädchen besonders gefährdete Nutzergruppen repräsentieren. Zudem werden Persönlichkeitsvariablen wie Neurotizismus und – insbesondere bei jüngeren Nutzern – Extraversion, soziale Isolation, Einsamkeit und soziale Ängstlichkeit als Risikofaktoren diskutiert. Im Vordergrund der negativen Effekte steht die Abnahme von lebensweltlicher, sozialgesellschaftlicher Kommunikation und Teilhabe. Vereinzelt wird erläutert, dass Nutzer von sozialen Netzen schlechtere Noten haben und ein negativer Einfluss auf das Zeitmanagement vorliegt (…) Aber auch auf zwischenmenschliche Beziehungen kann die Social-Network-Sucht negativen Einfluss ausüben. (…)
Als wichtiges Attraktivitätspotenzial sozialer Netze gelten die Befriedigung sozialer Bedürfnisse und die Möglichkeit (und Notwendigkeit) der Selbstoffenbarung. Die zunehmend verfügbaren Ortungsfunktionen in den sozialen Netzen vergrößern das Potenzial zur Bildung von Interessengemeinschaften und anderen sozialen Gruppen noch dadurch, dass sie das virtuelle Umfeld mit dem geografischen zur Deckung bringen können. Die eigene Selbstdarstellung in sozialen Netzen ist dabei immer auch eine Suche nach Bestätigung der Identität durch andere. (…)
Bedeutung der Mediensucht für Kinder und Jugendliche
(…) Unterschiedliche (Medien-)Sozialisationserfahrungen von Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen führen oft zu emotional geprägten Spannungsfeldern in Familie oder Schule. Es mangelt häufig an gemeinsamen medienbezogenen Selbst-, Sozial- und Sacherfahrungen der Beteiligten. Auch besteht keine gesellschaftliche Werteklarheit, welches Mediennutzungsverhalten in welchem Alter »normal« und »gesund« bzw. für Medienerziehung und Medienpädagogik »ratsam« ist. Der dynamische, permanente Medienwandel verunsichert mitunter insbesondere diejenigen Erziehenden und Fach- bzw. Lehrkräfte, die nicht mit digitalen Medien groß geworden sind und stellt gleichzeitig für die Bereitstellung von adäquatem Orientierungswissen eine große Herausforderung dar. (…)

Als Gefährdungspotenziale der zunehmenden Durchdringung des alltäglichen Lebens mit elektronischen Medien und des individuellen Medienkonsums gelten in der frühkindlichen Entwicklung ein erhöhtes Risiko für Entwicklungsverzögerung, sprachliche Defizite und die Verschlechterung der Exekutivfunktionen sowie Aufmerksamkeitsstörungen, verminderte Gedächtnis- und Schulleistungen, Schlafprobleme und eine niedrige emotionale Reaktivität. Darüber hinaus werden in Bezug auf die Adoleszenz auch die Gefahr vermehrter impulsiver und aggressiver Handlungen sowie risikoreiches Verhaltens diskutiert. (… )

Hinsichtlich des Auftretens von exzessivem, problematischem bzw. pathologischem Mediengebrauch bei Jugendlichen bestehen Kontroversen zur Frage, ob es sich bei diesem Verhalten um eine individuelle zeitbezogene Phase stärkerer Mediennutzung handelt oder ob es ein zeitstabiles Suchtphänomen ist. Vereinzelt erhobene wissenschaftliche und klinische Erfahrungen liefern Hinweise für beide Thesen. (…)“

Aus der Untersuchung lassen sich Handlungsoptionen ableiten, die unterschiedliche gesellschaftliche, politische und wissenschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten, -notwendigkeiten und -ziele haben: ## „Verbesserung der wissenschaftlichen Erkenntnislage Die Erkenntnislage im Themenfeld »Neue elektronische Medien und Suchtverhalten« ist unbefriedigend. Die verfügbaren Studien sind in der Regel explorativ und zeitpunktbezogen bzw. wenig auf eine langfristige und zeitraumbezogene Analyse der Wandlungsprozesse und Veränderungen ausgerichtet. (…) Es fehlt eine langfristige, prospektive und möglichst umfassend ausgerichtete Forschungsstrategie im Sinne der Betrachtung technischer, gesellschaftlicher, politischer, ethischer und anthropogener Dimensionen der Mediennutzung einschließlich ihrer diskursiven und prozesshaften Gestaltung. (…)
##Stärkung des gesellschaftlichen Diskurses Das Verständnis darüber, was Mediensucht genau meint, ist werteabhängig. Derzeit wird sozial unerwünschtes Verhalten häufig als Sucht deklariert, ohne über eine ausreichende gesamtgesellschaftliche und wissenschaftliche Reflexion des zugrundeliegenden Begriffsverständnisses sowie der zugrundegelegten Werte zu verfügen. Es bietet sich an, einen Diskurs zur Entwicklung einer gesellschaftlich und wissenschaftlich getragenen Wertebasis zu initiieren und zu klären, wo in etwa die Schwellenwerte zwischen Normalität und Sucht liegen. (…)
##Mediensucht als eigenständiges Krankheitsbild diskutieren Vor allem Experten aus den psychiatrienahen Disziplinen votieren für eine Aufnahme der Mediensucht sowie einzelner typologischer Ausprägungen als eigenständige Krankheit(en) in die diagnostischen Klassifizierungssysteme. Einwände erfolgen insbesondere von Jugendforschern, Pädiatern und Entwicklungspsychologen – hier wird zunächst mehr wissenschaftliches Wissen für die notwendige Beurteilung gefordert, inwieweit suchtartiger Medienkonsum insbesondere in Pubertät und Adoleszenz auch ein pädagogisch zu bewältigendes Entwicklungsthema bildet und durch eine möglicherweise ausufernde psychiatrische Diagnostik zu früh medikalisiert und stigmatisiert wird. (…)
##Gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen stärken Unternehmen sollten verstärkt gesellschaftliche Verantwortung übernehmen und neben einer angepassten, nicht suchtfördernden Gestaltung medialer Angebote den Verbraucherschutz sowie insbesondere auch den Kinder- und Jugendmedienschutz konsequent anwenden. Medienangebote sollten auf ihre (Langzeit-) Bindungswirkung wissenschaftlich untersucht und ihr jeweiliges Gefährdungspotenzial für die Entstehung und Aufrechterhaltung süchtigen Verhaltens bewertet werden. (…)
##Prioritäre Verbesserung der Prävention Zur Verbesserung der Prävention sollten sowohl Maßnahmen der breitenspezifischen Primärprävention zur Verhinderung der Entstehung von Mediensucht, als auch der risikogruppenfokussierten Sekundärprävention zur frühzeitigen Erkennung sowie der Tertiärprävention zur Bewältigung von Mediensucht gestärkt werden. Hierfür sind zum einen klare, standardisierte Bewertungs- und Diagnoseinstrumente erforderlich und zum anderen die Einbindung relevanter Akteure in die Präventionsprozesse (z. B. pädagogische Fachkräfte und Sozialarbeiter in Bildungs- und Freizeiteinrichtungen, Haus- sowie Kinderärzte). (…)
##Verbesserung der psychosozialen Versorgungsstruktur Die Versorgungsstruktur ist in Hinsicht auf den Zugang zu den verfügbaren Beratungs- und Behandlungsangeboten zu wenig niedrigschwellig ausgerichtet. Die vorhandenen Angebote werden nicht von allen relevanten (gefährdeten) Ziel- und Risikogruppen gut erreicht und in Anspruch genommen. Dies trifft z. B. auf die Zielgruppe der Mädchen zu. Angebotsstruktur und Angebote sollten entsprechend niedrigschwelliger gestaltet werden. Die derzeitigen Forschungslücken führen auch zu mangelnden Standards und fehlenden einheitlichen Leitlinien für die Diagnostik der, die Beratung über und die Behandlung/Therapie von Mediensucht im Kontext elektronischer Medien. (…)“

Den Bericht in vollem Textumfang entnehmen Sie dem Anhang.

Quelle: Pressedienst des Deutschen Bundestages

Dokumente: Bericht_neue_elektronische_Medien_und_Suchtverhalten_1808604.pdf

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