Leserbrief zum Beitrag „Schulabsentismus als vernachlässigtes Phänomen“

Mit großem Interesse haben wir den Artikel im Newsletter der jugendsozialarbeit.news gelesen und er trifft genau den Impuls der Zeit – zumal die Corona-Pandemie die Situation an den Schulen nicht unbedingt verbessert hat. Auch wenn wir beim Internationalen Bund in Koblenz das Schulverweigerungsprojekt RETURN schon seit 2015 mit großem Erfolg anbieten, so fehlt es an verlässlichen Daten und Auswertungen. Daher war der FDP-Antrag im Deutschen Bundestag aus unserer Sicht schon lange überfällig. Parallel dazu sollten aber auch die bestehenden Projekte mit in die Überlegungen eingebunden werden, da diese über Erfahrungswerte von gelingenden Projekten verfügen und für die Entwicklung von künftig flächendeckenderen Angeboten genutzt werden können. Schulverweigerung stellt für Schulen eine sehr große Herausforderung dar, der in diesem Rahmen auch aufgrund der personellen Gegebenheiten nicht adäquat begegnet werden kann.

Es gibt aus unserer Erfahrung, viele Lehrkräfte, die die Problematik sehen, aber ohne ein bestehendes Netzwerk – welches zusammen für und auch um jeden einzelnen Jugendlichen kämpft – bei den gängigen Klassenstärken nicht wirksam agieren können. Um aus den Eskalationsspiralen auszusteigen, kann ein vorübergehender Lernortwechsel für die Lehrkräfte und die Schüler*innen sehr entlastend sein und führt nicht selten zu einem Perspektivenwechsel. Auch der quantitative Einsatz von Schulsozialarbeiter*nnen kann solch einem hohen Unterstützungsbedarf, der die Thematik mit sich bringt – vor allem, wenn sich die Schulverweigerung manifestiert hat, nicht gerecht werden.

Aus diesem Grund würde ich Ihnen gerne unser Projekt vorstellen: Das RETURN-Schulverweigerungsprojekt

Seit 2015 gibt es das RETURN-Schulverweigerungsprojekt der Stadt Koblenz, das beim Internationalen Bund durchgeführt wird. Es wird durch die Kommune Koblenz vollfinanziert und ist das einzige Projekt in Rheinland-Pfalz, das für schulverweigernde Kinder/Jugendliche eine tägliche Beschulung an einem anderen Lernort als Schule anbietet. Gemeinsam mit den Teilnehmenden und ihrem sozialen Netzwerk werden individuelle Lösungen gesucht und umgesetzt.

Ziel ist primär ein Wiedereinstieg in die vorherige Regelschule, um einen Schulabschluss zu absolvieren oder die Erarbeitung einer guten Alternative (z.B. Ausbildung durch umfangreiche Praktika, die in unserem Projekt möglich sind). Hierzu kann ein Schulwechsel, eine Testung in Bezug auf speziellen Förderbedarf oder nur ein Schaffen von positiven Erfahrungswerten notwendig sein.

In der Regel findet eine schrittweise Eingliederung in den regulären Schulkontext statt, der von uns intensiv begleitet wird. Meist werden die Schüler*innen auch noch nachbetreut in Form von regelmäßigem Austausch.

Zielgruppe

Unsere Zielgruppe sind Schüler*innen, die den Schulbesuch passiv oder aktiv verweigern und die Sekundarstufe 1 aller Koblenzer Schulen besuchen oder zumindest ihren Wohnsitz in Koblenz haben.

Vorgehen und Ablauf

Die Schulen nehmen in den meisten Fällen zunächst mit uns Kontakt auf. Bei einem (gemeinsamen) Erstgespräch mit den Schüler*innen findet eine Auftragsklärung statt. Montags bis donnerstags werden die Teilnehmenden bei uns von 8:15-13:15 Uhr unterrichtet. Den Montag (außerhalb der Corona-Pandemie) beginnen wir mit einem gemeinsamen Frühstück bzw. Snack. Die Mahlzeit wird gemeinsam vorbereitet, der Tisch gedeckt und nach dem gemeinsamen Essen wird auch alles gespült und gereinigt. Freitags besuchen die Teilnehmenden dann ein Praktikum und werden hier wöchentlich besucht.

Arbeitsweisen

Das Hauptaugenmerk liegt darauf, gemeinsam mit den Jugendlichen positive Erfahrungswerte zu schaffen. Hierbei werden individuelle Verstärkerpläne eingesetzt. Diese finden nicht nur die klassische Anwendung, dass wir positive Entwicklungen gemeinsam mit den Schüler*innen herausarbeiten z. B. wenn sie pünktlich zum Unterricht kommen, sondern die häufig im schulischen Kontext angewandten negativen Konsequenzen, wie z. B. das Nach-Hause-Schicken oder vor die Tür stellen der Kinder, findet bei uns keine Anwendung. Dies muss aber vor dem Hintergrund bewertet werden, da wir die Jugendlichen in solchen Situationen personell anders begleiten und betreuen können, und unsere Aufnahmegrenze zur gleichzeitigen Teilnahme am Präsenzunterricht bei 10 Schüler*innen liegt.

Die schwierigen Situationen werden in der Einzelarbeit beleuchtet. Hierdurch gelingt es, gemeinsam mit jedem Teilnehmenden für ihn gangbare Handlungsalternativen zu erarbeiten und somit mit ihnen gemeinsam an ihren individuellen Schwächen zu arbeiten. Das beruht natürlich auf einem guten Arbeitsverhältnis. Besonders in unserer täglichen Morgenrunde wird sich ausgetauscht und die eigene Entwicklung (vor allem auch von kleinen Schritten) reflektiert. Die Möglichkeit für Einzelgespräche, teils orientiert an der systemischen Beratung oder Traumatherapie, besteht für die Teilnehmenden immer. Bei Gruppenarbeiten werden Sozialkompetenz-Trainings-Einheiten integriert.

Darüber hinaus betreuen wir auch deren Familien sozialpädagogisch, meist in Form von Hausbesuchen. Der wesentlichste Aspekt beim Gelingen der Zielsetzung ist die Netzwerkarbeit, die u. a. auch schnelle weitere fachlichen Hilfen ermöglichen.

Personelle Ausstattung

Das Projekt ist ausgestattet mit 1,25 sozialpädagogischen Fachkräftestellen mit Zusatzqualifikationen wie Mediation Traumatherapie und 3 Dozenten.

Erfahrungswerte

Das Projekt wird jährlich von durchschnittlich 30 Schüler*Innen (Zahl steigend) hier vor Ort genutzt. Darüber hinaus beraten und begleiten wir Schulen und auch Schulverweigerer auch ohne deren Teilnahme an der Beschulung hier vor Ort. Der Ausbau der Prävention, z.B. Informations- und Beratungsangebote für Lehrkräfte – auch im überregionalen Bereich – kann aufgrund der personellen geringen Ausstattung nur auf konkreten Anfragen der Schulen stattfinden.

Konzeptionell war eine Verweildauer von 3 Monaten vorgegeben. Dies wird dem individuellen Bedarf der Schüler*innen nicht mehr gerecht, um nachhaltig eine erfolgreiche Wiedereingliederung sicher zu stellen. Meist verbringen die Jugendlichen eine Zeit von ca. 6-8 Monaten im Projekt – wobei auch Aufenthalte von über einem Jahr keine Seltenheit darstellen. Bei ca. 80 % gelingt eine erfolgreiche Reintegration. Häufig werden auch weitere Hilfen in die Familien integriert. Es kommt selten aber auch zu Inobhutnahmen wegen bestehender Kindeswohlgefährdung, stationären Unterbringungen in der Kinder- und Jugendhilfe oder in Kinder- und Jugendpsychiatrien.

Resümee

Insgesamt läuft das Projekt sehr gut. Ein Garant hierfür ist die enge Vernetzung mit den Schulen und den weiteren (regionalen) Helfersystemen. Im Vergleich zu den ersten Jahren ist heute die individuelle Ausgangslage jedes Jugendlichens vielfältiger. Daraus leitet sich ein wesentlich höherer Bedarf an sozialpädagogischer Familienarbeit und das Vermitteln von sozialen Kompetenzen ab.

Corona-Pandemie

In der Zeit, in welcher die rheinland-pfälzischen Schulen für den Präsenzunterricht geschlossen hatten, haben wir eine Notbetreuung mit bestimmten Präsenzfenstern für unsere Teilnehmenden angeboten. Diese wurde von allen Schüler*innen, trotz ihrer schulverweigernden Haltung, angenommen. Aktuell bieten wir an allen Wochentagen Unterricht an. Auf den Praktikumstag und das gemeinsame Frühstück müssen wir verzichten.

Quelle und Kontakt:

Internationaler Bund Südwest gGmbH, Betrieb Rhein-Mosel, Dr. Yvonne Borchert

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