Die Expertise „Was wir über Flüchtlinge (nicht) wissen“ beschreibt den wissenschaftlichen Erkenntnisstand zur Lebenssituation von Flüchtlingen in Deutschland. Für den Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) und die Robert Bosch Stiftung haben Susanne Johansson, Dr. David Schiefer und Nora Andres die Lage auf dem Datenmarkt sondiert. Insbesondere fehlen Studien, die gezielt Annahmen zu relevanten individuellen und kontextuellen Merkmalen in die Auswahl der Befragten einfließen lassen (z. B. Flüchtlinge verschiedenen Alters aus verschiedenen Herkunftsregionen in verschiedenen Kommunen Deutschlands), dadurch eine größere Repräsentativität erreichen und Vergleiche ermöglichen und somit auch eine dauerhaftere Aussagekraft versprechen.
Was sonst noch an Wissen fehlt?
Auszüge aus der Expertise:
„Vorliegende empirische Ergebnisse zur Arbeitsmarktintegration deuten auf eine insgesamt niedrige Erwerbstätigenquote und Beschäftigung vorwiegend im niedrig entlohnten und unqualifizierten Bereich hin. Qualitative Studien geben Hinweise auf einen Qualifikationsverlust und Brüche in der Bildungs- und Erwerbsbiografie. Hindernisse für die Arbeitsmarktintegration sind u. a. der oftmals prekäre Aufenthaltsstatus, niedrige Anerkennungsquoten von im Herkunftsland erworbenen Abschlüssen, lange Erwerbslosigkeit sowie geringe Sprachkenntnisse. Hinzu kommen Aspekte wie Diskriminierung bei der Stellenvergabe, Unterbringung in strukturschwachen Regionen sowie wenig Erfahrung mit dem deutschen Bildungssystem und Arbeitsmarkt.
Der Schulzugang von Flüchtlingen ist bundeslandspezifisch geregelt. Wartezeiten von Aufnahme bis Schuleintritt, die Art der Beschulung (Regel- vs. Übergangsklassen) sowie Regelungen der räumlichen Mobilität und der Finanzierung von Schulmaterialien fallen daher unterschiedlich aus. Vorliegende Befunde zum Zugang zu betrieblicher Ausbildung verdeutlichen wie auch beim Thema Arbeitsmarktzugang den Einfluss der rechtlichen Rahmenbedingungen, vor allem für Flüchtlinge mit prekärem Aufenthaltsstatus. Programme zur Unterstützung dieser Personengruppe bei der Integration in den Arbeits- und Ausbildungsmarkt können die bestehenden Hürden nur bedingt überwinden helfen. Ein Problem solcher Programme ist zudem die zeitlich begrenzte Finanzierung, die die Schaffung einer effizienten dauerhaften Unterstützungsstruktur erschwert. (…)
Eine empirisch belastbare Aussage zur Qualifikationsstruktur von Flüchtlingen ist derzeit nicht möglich. Die vorliegenden Studien deuten lediglich auf ein breites Spektrum zwischen Gering- und Hochqualifizierten hin. Vorhandene Qualifikationen scheinen nur schwer in Deutschland genutzt werden zu können. Untersuchungen zu nichtformalen Kompetenzen machen vor allem (fremd-)sprachliche Fähigkeiten deutlich; dieses Potenzial bleibt weitgehend ungenutzt.
Studien zur Versorgung von Asylbewerbern und geduldeten Flüchtlingen (nach dem Asylbewerberleistungsgesetz) deuten auf Armutsrisiken, Segregationserscheinungen, Probleme der Gesundheit sowie des Verlusts von Handlungskompetenz und nicht zuletzt auch auf Gefahren für die allgemeine Entwicklung von Kindern und Jugendlichen hin. Ob die Anhebung der Sozialleistungen nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2012 Verbesserungen gebracht hat, ist wissenschaftlich nicht untersucht. (…)
Einer der am wenigsten untersuchten Bereiche der Lebenslage von Flüchtlingen in Deutschland ist die soziokulturelle Integration. Gemeint sind damit Kontakte und persönliche Beziehungen zu Angehörigen der aufnehmenden Gesellschaft sowie die Teilhabe am gesellschaftlichkulturellen Leben. Die wenigen disparaten Befunde verdeutlichen, dass soziale Beziehungen zur Aufnahmebevölkerung neben der individuellen Eigeninitiative entscheidend von Gelegenheitsstrukturen abhängen. Je segregierter die Orte sind, an denen sich Flüchtlinge aufhalten (z. B. Flüchtlingsunterkünfte, Vorbereitungs- oder Migrationsklassen) und je weniger sie am Arbeitsmarkt und an anderen relevanten Gesellschaftsbereichen teilhaben, umso weniger sind sie sozial eingebunden. Dabei steht der bereits angesprochene erschwerte Zugang zur deutschen Sprache für Asylbewerber und Geduldete sozialer und kultureller Integration wesentlich im Weg. (…)
Die wenigen und zudem regional nicht repräsentativen Erkenntnisse in Bezug auf die körperliche und seelische Gesundheit von Flüchtlingen deuten auf eine vor allem mit Blick auf die vergleichsweise jüngere Flüchtlingspopulation auffällig hohe Krankheitslast hin. Es handelt sich meist um weniger gravierende Erkrankungen; schwerwiegende Infektionskrankheiten treten den verfügbaren Studien zufolge nur vereinzelt häufiger auf als in der Normalbevölkerung. Zu seelischen Beschwerden liegen heterogene Ergebnisse vor, die keine valide Gesamtaussage ermöglichen. Deutlich wird, dass der körperliche und psychische Gesundheitszustand neben individuellen Faktoren von der aufenthaltsrechtlichen Situation sowie der Unterbringung und Versorgung in Deutschland beeinflusst wird. (…)
belastbares Wissen erforderlich
Die Flüchtlingsforschung in Deutschland ist noch viel zu lückenhaft und zu wenig systematisch. Aus verfügbaren Befunden lassen sich lediglich Hinweise auf rechtliche, strukturelle und institutionelle Rahmenbedingungen herausarbeiten, die die Lebenslage von Flüchtlingen (positiv oder negativ) prägen können. Es mangelt vor allem an belastbaren quantitativen Erhebungen, die Vergleiche zwischen Flüchtlingsgruppen sowie mit anderen Zuwanderergruppen und der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund ermöglichen. Wünschenswert wäre eine gesonderte Erfassung von Flüchtlingen in der allgemeinen Sozialberichterstattung in Deutschland. Das weitgehend unbearbeitete Forschungsfeld zu Lebenslagen von Flüchtlingen, die Vulnerabilität der Zielgruppe sowie der sensible Charakter zahlreicher Fragestellungen machen eine Kombination quantitativer mit qualitativen Zugängen nötig. (…)“
Die geplante Studie soll die Erkenntnislage erheblich verbessern. Ihre Veröffentlichung ist für 2017 geplant.
Link: http://www.svr-migration.de/presse/presse-forschung/was-wir-ueber-fluechtlinge-nicht-wissen/
Quelle: SVR