Die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ist eine der aktuell größten Herausforderungen für Europa. Die Bertelsmann Stiftung legt dazu eine Studie zur Jugendarbeitslosigkeit im europäischen Vergleich vor. Die meisten Nationalstaaten haben das Thema prioritär auf ihren Agenden, und die Europäische Kommission proklamiert eine „Jugendgarantie“. Um wirkungsvoll zu intervenieren, brauchen wir aber ein besseres Verständnis der Ursachen: Wie entsteht Jugendarbeitslosigkeit? Von welchen Faktoren wird sie beeinflusst? Spielen konjunkturelle und wirtschaftsstrukturelle Einflüsse die entscheidende Rolle, oder ist es die Flexibilität der Arbeitsmärkte? Anhand von Daten des europäischen Statistikamtes Eurostat und der europäischen Arbeitskräfteerhebung geht die Studie auf empirischer Grundlage der Frage nach, wie sich in Großbritannien, den Niederlanden, Frankreich, Spanien, Schweden und Deutschland die Jugendarbeitslosigkeit entwickelt hat und von welchen Faktoren diese bestimmt wird.
Erholung der Wirtschaft – Abbau der Jugendarbeitslosigkeit aber ungewiss
Auszüge aus der Studie „Zukunft unsicher. Jugendarbeitslosigkeit im europäischen Vergleich“:
„(…) Die Jugendarbeitslosigkeit zählt zu den größten Problemen, denen sich Europa derzeit gegenübersieht. In den meisten Ländern ist die Jugendarbeitslosigkeit seit der Finanzkrise von 2008 und 2009 deutlich angewachsen, doch schon viel länger steigt sie im Verhältnis zur Arbeitslosigkeit unter älteren Erwachsenen. (…) Um die Jugendarbeitslosigkeit abzubauen und die Zukunftsaussichten junger Menschen überall in Europa zu verbessern, muss sich die Politik in seiner Gesamtheit konzentrieren, nicht nur auf eingeschränkte arbeitsmarktpolitische Maßnahmen.
Im ersten Quartal 2013 waren in der EU 5,5 Millionen junge Menschen arbeitslos (15- bis 24-Jährige, die Arbeit suchten, aber nicht fanden). Noch besorgniserregender ist, dass 7,5 Millionen junge Leute, mehr als 13 Prozent aller Jugendlichen, weder in Arbeit oder Ausbildung waren noch eine Schule oder Universität besuchten. Während die Wirtschaft in der EU und besonders in den Ländern der Eurozone begonnen hat, sich von der Rezession zu erholen, sind die Zukunftsperspektiven für einen Abbau der Jugendarbeitslosigkeit ungewisser. Zudem gibt es kaum Anzeichen dafür, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen unter den Jugendlichen – jener Jugendlichen also, deren Leben am meisten Gefahr läuft, durch Arbeitslosigkeit dauerhaft beeinträchtigt zu werden – rückläufig ist: In Großbritannien waren im ersten Quartal 2013 30 Prozent der arbeitslosen jungen Leute bereits seit mehr als einem Jahr auf Arbeitssuche und in Spanien betrug der Anteil der Langzeitarbeitslosen unter den Jugendlichen fast 40 Prozent. (…)“
Nebenjobsuchende und Bildungsabsolventen am Beginn des Erwerbslebens unterscheiden
„Unter den arbeitslosen Jugendlichen gibt es mehrere, sehr unterschiedliche Gruppen. Insbesondere sollten wir zwischen denjenigen unterscheiden, die noch studieren oder zur Schule gehen, aber daneben nach einem Job suchen, und denjenigen, die (endgültig oder vorläufig) ihre schulische oder universitäre Ausbildung beendet haben und nun versuchen, den Übergang ins Erwerbsleben zu meistern. (…)
Die Arbeitslosenquoten von jungen Bildungsabsolventen zeigen für das Jahr 2007 ein ganz anderes Bild, als man erwarten könnte. So verzeichnete zum Beispiel Spanien (16,2 Prozent) eine geringere Jugendarbeitslosenquote als Deutschland (18,3 Prozent), und Frankreich wies mit 23 Prozent eine der höchsten Jugendarbeitslosenquoten in der EU auf. Die Rezession hat das Bild grundlegend verändert. 2011 waren die Jugendarbeitslosenquoten in Süd- und Osteuropa stark gestiegen – bis auf 45 Prozent in Spanien und Griechenland zum Beispiel. Dagegen verzeichnete eine kleine Gruppe von Ländern in Westeuropa, zu der Norwegen, die Niederlande und Deutschland gehörten, Jugendarbeitslosenquoten von unter 15 Prozent. (…)
Beim Anteil der Arbeitslosen an der jugendlichen Bevölkerung hat Deutschland mit 4,1 Prozent den niedrigsten Wert der verglichenen Länder. Die EU-weit geringste Jugendarbeitslosenquote in Deutschland von 7,7 Prozent im August 2013 ist im Vergleich mit einem Durchschnitt der EU-27 von 23,3 Prozent ein herausragender Wert. Aber es gibt trotzdem keinen Grund, die Hände in den Schoß zu legen. Denn es geht in absoluten Zahlen immerhin um fast 370.000 junge Menschen, die in Deutschland keine Arbeit finden, obwohl die Wirtschaft floriert. Fast ein Viertel (23,3 Prozent) von ihnen sind sogar bereits länger als 12 Monate ohne Job und damit langzeitarbeitslos. Mit diesem Wert liegt Deutschland nur im Mittelfeld der untersuchten Länder. Schweden mit 7,1 Prozent und den Niederlanden mit 13,8 Prozent gelingt es deutlich besser, arbeitslose Jugendliche wieder zügig in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Die Zahlen deuten darauf hin, dass Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland zwar im Vergleich mit anderen Ländern ein kleineres, für die betroffenen jungen Menschen aber ein festgefahrenes Problem ist. (…)“
Das deutsche duale Ausbildungssystem nutzt – leider nicht allen
„Die insgesamt relativ guten Werte bei der Jugendarbeitslosigkeit verdankt Deutschland in hohem Maße dem dualen Ausbildungssystem. (…) Von den Vorzügen des dualen Systems profitieren allerdings nur die Jugendlichen, die auch hineinkommen. Wer das nicht schafft, wird abgehängt. Zahlen der Bundesagentur für Arbeit zeigen: Das Arbeitslosigkeitsrisiko für junge Menschen (25–35 Jahre) ohne Berufsabschluss liegt mit 19,6 Prozent etwa viermal so hoch wie das von Fachkräften (4,5 Prozent). Junge Menschen ohne Berufsabschluss sind außerdem seltener in Vollzeit beschäftigt, häufiger in Zeitarbeit, und sie werden geringer entlohnt, als ihre Altersgenossen mit Berufsabschluss. (…)
Diejenigen, die es schaffen, einen dualen Ausbildungsplatz zu finden, haben später auch sehr gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Diejenigen hingegen, die keine Berufsausbildung abschließen, werden immer mehr Probleme bekommen, überhaupt eine Beschäftigung zu finden. Vor diesem Hintergrund ist es problematisch, dass in Deutschland trotz einer guten konjunkturellen Entwicklung und trotz einer geringen Jugendarbeitslosigkeit die Anzahl derer, die jedes Jahr ohne beruflichen Ausbildungsabschluss bleiben, seit Jahren nicht gesenkt werden kann. (…)
Einfluss von Bildung und Ausbildung
Jungen Menschen mit geringer Qualifikation oder ohne Schulabschluss fällt der Übergang von der Schule ins Arbeitsleben besonders schwer – doch sinkt ihre Zahl beständig. 2004 hatten in Großbritannien etwa 20 Prozent der jungen Schulabgänger keinen Abschluss der Sekundarstufe II; 2012 betrug ihr Anteil nur noch 15 Prozent. Während in den meisten anderen EU-Ländern ähnliche Entwicklungen zu beobachten sind, verlässt in Südeuropa immer noch ein vergleichsweise hoher Anteil junger Menschen die Schule ohne einen ersten Abschluss – in Spanien zum Beispiel mehr als ein Viertel der Jugendlichen.
Unter den jungen Leuten mit Schulabschluss gibt es beträchtliche Unterschiede, was die Arbeitslosenquote und die Dauer des Übergangs ins Erwerbsleben betrifft. So betrug die Arbeitslosenquote unter deutschen Jugendlichen mit Schulabschluss 2007 9,9 Prozent, in Frankreich lag sie jedoch bei 18,8 Prozent.
Zum großen Teil lassen sich diese Abweichungen durch Unterschiede zwischen den Bildungseinrichtungen der verschiedenen Länder erklären, insbesondere durch die Art und den Umfang beruflicher Bildungsgänge, die jungen Menschen im Sekundarbereich offenstehen. Allgemein gesprochen unterscheiden sich die Berufsbildungssysteme der verschiedenen Länder in zweierlei Hinsicht: zum einen durch das Maß, in dem sie berufs- und branchenspezifische Fertigkeiten (im Gegensatz zu allgemeinen beruflichen Kompetenzen) vermitteln und zum anderen in dem Grad der Standardisierung – der Einheitlichkeit von Lehrplänen und Prüfungen an Schulen und weiterführenden Berufsbildungseinrichtungen. …
In Deutschland und den Niederlanden sind junge Leute mit einem berufsqualifizierenden Sekundarabschluss auf dem Arbeitsmarkt erfolgreicher als Jugendliche mit einem allgemeinbildenden Abschluss. Das Gegenteil gilt jedoch in Spanien, Frankreich, Schweden und Großbritannien. Dieser Befund legt nahe, dass die Berufsbildungssysteme der zweiten Gruppe von Ländern weniger erfolgreich sind, wenn es darum geht, Jugendarbeitslosigkeit zu verhindern. (…)
In vielen Ländern haben immer weniger junge Menschen im Verlauf ihrer Bildung und Ausbildung direkten Kontakt mit der Arbeitswelt. Für die wachsende Zahl junger Menschen, die nach einem Hochschulabschluss auf den Arbeitsmarkt strömen, ist dies weniger problematisch, da für diese Gruppe die Arbeitslosenquote in allen Ländern deutlich niedriger ausfällt. Doch für diejenigen, die von der Schule unmittelbar in die Arbeitswelt wechseln, sind die Aussichten deutlich weniger rosig. (…)
Einfluss der Arbeitsmarktsituation und -politik
Oberflächlich betrachtet scheinen die beträchtlichen Unterschiede bei der Arbeitsmarktpolitik und bei Institutionen wie Arbeitsrecht, Mindestlöhnen und Transferleistungen keinen Einfluss auf die Jugendarbeitslosigkeit zu haben. Zwar wird zum Beispiel oft argumentiert, dass ein hohes Niveau an Arbeitnehmerrechten der Beschäftigungssituation von Jugendlichen schade, doch zeigt bereits eine oberflächliche Sichtung der Daten, dass die Jugendarbeitslosigkeit in einigen Ländern mit vergleichsweise „unflexiblen“ Arbeitsmärkten, insbesondere Deutschland, geringer ist als in Ländern mit „flexibleren“ Arbeitsmärkten wie z. B. Großbritannien. Bei eingehenderer Analyse stellt sich allerdings heraus, dass es sehr wohl Wechselwirkungen zwischen Arbeitsmarktinstitutionen, dem Verhalten der Wirtschaft und dem Berufsbildungssystem gibt, die sich auf den Arbeitsmarkt für Jugendliche auswirken.
Rechtliche Bestimmungen zum Schutz von Arbeitnehmern können sich negativ auf die Beschäftigungschancen junger Menschen auswirken, indem sie die „Insider“ des Arbeitsmarktes – diejenigen, die bereits ein sicheres Beschäftigungsverhältnis haben – auf Kosten der Arbeitslosen und besonders auf Kosten junger Arbeitssuchender schützen. Doch qualitativ hochwertige Lehrstellen wirken diesem Mechanismus entgegen, indem sie direkte Bindungen zwischen einzelnen Arbeitgebern und jungen Menschen begünstigen und dadurch den Übergang von der Ausbildung in die Erwerbsarbeit ebnen. So ist in Deutschland die Jugendarbeitslosigkeit unter denjenigen Jugendlichen besonders hoch, denen es nicht gelingt, eine Lehrstelle zu finden. (…)
Mindestlöhne für junge Arbeitnehmer werden ebenfalls oft als Ursache für eine hohe Jugendarbeitslosigkeit angeführt – doch auch in diesem Fall passt das einfache Erklärungsmuster nicht zu den Fakten. Nachweislich überwiegen bei besonderen Mindestlöhnen für Jugendliche, die unter den Mindestlöhnen für erwachsene Arbeitnehmer liegen, deutlich die positiven Effekte. In Ländern ohne nationale Mindestlöhne wirken sich andere Aspekte der Tarifgestaltung stark auf die Jugendarbeitslosigkeit aus.“
Zusammenfassung der Schlussfolgerungen
- Es ist genauso wichtig, jungen Menschen zu helfen, in Beschäftigung zu bleiben, wie ihnen überhaupt einen Zugang zum Arbeitsmarkt zu eröffnen.
- Erfahrungen am Arbeitsplatz, die entweder formell oder informell die Ausbildung ergänzen, verbessern die Beschäftigungssituation von Jugendlichen und erleichtern den Übergang von der Ausbildung in die Erwerbstätigkeit, doch arbeiten gegenwärtig zu wenig junge Leute neben Schule oder Studium.
- Weder strenge arbeitsrechtliche Bestimmungen noch Mindestlöhne führen zu mehr Jugendarbeitslosigkeit.
- Baut das System jedoch zu stark auf die Beteiligung von Wirtschaftsunternehmen an der beruflichen Aus- und Weiterbildung, ist es verwundbar, wenn die Wirtschaft sich zurückzieht.
- Diese Gefahr wird durch den Wandel des Arbeitsmarktes für Jugendliche verstärkt, auf dem Firmen und Wirtschaftszweige, die Jugendlichen traditionell eine qualitativ hochwertige Berufsausbildung angeboten haben, schwächer vertreten sind während gering qualifizierte und kurzfristige Beschäftigungsverhältnisse zunehmen. In den meisten europäischen Ländern müssen die Jugendarbeitslosenquoten noch deutlich fallen, um auf dem Niveau vor der Krise anzukommen. Um die Jugendarbeitslosigkeit in Europa abzubauen, sind daher tief greifende Reformen nötig. Kurzfristige Arbeitsmarktprogramme oder Veränderungen bei einzelnen arbeitsmarktpolitischen Strategien reichen nicht aus. Andere Länder können besonders vom deutschen Modell lernen, in dem das „duale Ausbildungssystem“ für eine geringe Jugendarbeitslosigkeit sorgt.
Die Studie wurde herausgegeben von der Bertelsmann Stiftung, dem britischen Institute for Public Policy Research und dem schwedischen Gewerkschaftsbund Swedish Confederation of Professional Employees.
Quelle: Bertelsmann Stiftung