Sind Ausnahme- und Sonderregelungen für Jugendliche sinnvoll?

Auszüge aus dem WSI Report Nr. 14/März 2014 „Jugend ohne Mindestlohn?“ der Stellung nimmt zur Diskussion um Ausnahme- und Sonderregelungen für junge Beschäftigte von Marc Amlinger, Reinhard Bispinck und Thorsten Schulten:

“ … Vor der geplanten Einführung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns werden Forderungen lauter, dass junge Beschäftigte generell bis zu einem bestimmten Lebensalter entweder vom Mindestlohn ausgenommen werden sollen, oder dass für diese besondere Jugendmindestlöhne eingeführt werden, die unterhalb des allgemeinen Mindestlohns liegen. Die in der bisherigen Diskussion genannten Altersgrenzen reichen dabei von 18 Jahren bis 25 Jahre. Von solchen Ausnahmeregelungen wären aktuell rund 330.000 jugendliche Erwerbstätige unter 18 Jahren, beziehungsweise etwa 1,08 Millionen unter 21 Jährige unmittelbar betroffen. Erhöht man die Altersgrenze auf alle unter 25 Jährigen, wie es einige Arbeitgebervertreter und Politiker der CDU/CSU verlangen, so wären sogar bis zu 3,3 Millionen Jugendliche vom Mindestlohn ausgenommen.

Die Befürchtung, dass ein allgemeiner Mindestlohn für Jugendliche eine hohe Hürde für den Einstieg in den Arbeitsmarkt darstellen und somit zu negativen Beschäftigungseffekten führen könnte, ist in der internationalen wissenschaftlichen Debatte dabei höchst umstritten. Die Mehrzahl der Studien der neueren internationalen Mindestlohnforschung kommt zu dem Ergebnis, dass mit Mindestlöhnen entweder gar keine oder nur sehr geringe Beschäftigungswirkungen für Jugendliche verbunden sind. Als Ursache für Jugendarbeitslosigkeit spielen Mindestlöhne in der Forschung kaum eine Rolle. Wesentlich ist viel mehr neben der allgemeinen Konjunkturentwicklung die Ausgestaltung des jeweiligen nationalen Ausbildungssystems.

Mit dem Argument durch den Mindestlohn für Jugendliche keine falschen Anreize setzen zu wollen, statt einer Ausbildung eine besser bezahlte ungelernte Tätigkeit zu suchen, hat Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles angekündigt, Jugendliche unter 18 Jahren vom Mindestlohn auszunehmen.

Diese Ausnahmeregelung wird jedoch fast ausschließlich Minijobber betreffen: 77 Prozent der 16 bis 17 Jährigen mit Hauptschulabschluss oder mittlerer Reife sind Auszubildende. Von den erwerbstätigen Jugendlichen ohne Berufsausbildung sind 94 Prozent lediglich geringfügig beschäftigt. Somit werden vor allem minderjährige Jugendliche benachteiligt, die in vielen Fällen lediglich die Zeit bis zur Annahme eines Ausbildungsplatzes überbrücken oder einen geringen Zuverdienst erwerben wollen. In ähnlicher Weise gilt dies auch für die Gruppe der 18 bis 21 Jährigen.

Davon unbenommen zeigt der Vergleich der tariflichen Ausbildungsvergütungen mit den untersten Tarifvergütungen, dass bereits heute die Einstiegslöhne für ungelernte Beschäftigte in vielen Branchen weit über dem Niveau der entsprechenden Ausbildungsvergütungen liegen. Das grundsätzliche Spannungsverhältnis zwischen Ausbildungsvergütung und erzielbarem Erwerbseinkommen hat bislang nicht zu negativen Anreizen geführt, vielmehr unterliegt die Ausbildungsbereitschaft einer ganzen Reihe von ökonomischen, sozialen und kulturellen Einflüssen und lässt sich nicht auf einzelne Faktoren – wie z.B. die Höhe der Löhne – zurückführen.

Der (vermutete) negative Anreiz besteht in einer Reihe von Branchen zumindest auf Tarifniveau bereits seit langer Zeit, ohne dass überzeugende Belege für seine breite Wirkung erbracht werden können. In Branchen mit einem insgesamt und auch für Fachkräfte hohen Tarifniveau kann vermutet werden, dass die Jugendlichen sehr wohl den auf Dauer hohen finanziellen Ertrag einer beruflichen Ausbildung in Rechnung stellen. In Branchen mit niedrigem Tarifniveau gibt es dagegen Fälle, in denen trotz einer sehr niedrigen Ausbildungsvergütung und einer ebenfalls eher niedrigen Bezahlung der Fachkräfte die Nachfrage nach einer betrieblichen Ausbildung sehr hoch ist. So zählen etwa Friseure/innen, Köche/innen und Hotelfachleute nach wie vor zu den beliebtesten Ausbildungsberufen.

Diese Beobachtungen sollen nicht in Abrede stellen, dass insbesondere für Jugendliche mit schlechtem oder ohne formalen Schulabschluss ein Job, der aufgrund des Mindestlohns künftig besser bezahlt wird, relativ attraktiv sein kann. Deren Probleme resultieren aber im Kern aus einer mangelnden Ausbildungs- und Aufstiegsperspektive und ihre beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten verbessern sich keineswegs dadurch, dass ein Niedriglohnsektor erhalten wird, der noch dazu langfristig die sozialen Risiken dieser Beschäftigtengruppe erhöht. …

Die bislang genannten Rechtfertigungen Jugendliche vom vollen Bezug des Mindestlohns auszunehmen erscheinen somit höchst fragwürdig. Im Gegenteil können, wie auch das Beispiel der Niederlande zeigt, niedrigere Jugendmindestlöhne zu unerwünschten Steuerungseffekten führen. Gerade in Branchen mit vielen gering qualifizierten Tätigkeiten, wie z.B. dem Einzelhandel oder dem Gastgewerbe, fallen vermeintliche „Produktivitätsdefizite“ von jungen Arbeitnehmern kaum ins Gewicht. Erhalten Jugendliche einen deutlich niedrigeren oder gar keinen Mindestlohn, so haben Unternehmen einen großen Anreiz, ältere Arbeitnehmer durch „günstigere“ jüngere Beschäftigte auszutauschen. Die Gefahr von branchen- und tätigkeitsspezifischen Verdrängungseffekten ist insbesondere für die langfristige berufliche (Weiter-) Qualifikation von Jugendlichen ein erhebliches soziales Risiko.

Schließlich stellt auch aus rechtlicher Sicht die Einführung von Ausnahme- und Sonderregelungen beim Mindestlohn, die sich rein nach dem Lebensalter richtet, eine offen Form der Altersdiskriminierung dar, die sowohl aus verfassungs- als auch europarechtlicher Sicht äußerst problematisch ist. Erlaubt ist eine solche Diskriminierung grundsätzlich nur dann, wenn damit anderen spezifischen Nachteilen einzelner Beschäftigtengruppen auf dem Arbeitsmarkt entgegengetreten werden kann. Die zur Rechtfertigung besonderer Jungendmindestlöhne oder gar vollständiger Ausnahmeregelungen für Jugendliche vorgebrachten ökonomischen Gründe sind jedoch insgesamt wenig überzeugend. „

Den WSI Report in vollem Textumfang lesen Sie über aufgeführtem Link.

www.boeckler.de/pdf/p_wsi_report_14_2014.pdf

Quelle: Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut in der Hans-Böckler-Stiftung

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