Mit seinen fachlichen Impulsen begleitete Reinald Eichholz die Diskussion am Runden Tisch „Inklusive Bildung auf dem Prüfstand“ der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) am 17.10.2019 in Berlin. Dr. Reinald Eichholz ist ehem. Kinderbeauftragter der Landesregierung Nordrhein-Westfalen und Mitbegründer der „National Coalition Deutschland – Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention“. In seinem Gastbeitrag für die „Jugendsozialarbeit News“ „Nur eins muss sich ändern – ALLES! Rechtliche Impulse für das Verständnis inklusiver Bildung“ stellt er die Zusammenhänge von Bildungsgerechtigkeit, inklusiver Bildung und den Menschenrechten dar. Deutlich wird, dass das Recht auf inklusive Bildung ohne einen Systemwechsel kaum zu realisieren ist.
Nur eins muss sich ändern – ALLES!
Rechtliche Impulse für das Verständnis inklusiver Bildung
Man erinnert sich, mit welchem Enthusiasmus 2006 die Konvention für Menschen mit Behinderungen weltweit begrüßt wurde – vor allem von den Menschen mit Behinderungen selbst. Gerade auch mit Blick auf das Recht auf Bildung wurde die Konvention als Durchbruch erlebt, weil diskriminierungsfreies Zusammenleben der Menschen mit und ohne Behinderungen von der Völkerrechtsgemeinschaft als Menschenrecht anerkannt war. Von Anbeginn war klar, dass die Behindertenrechtskonvention damit kein Sonderrecht beschreibt, sondern als essenzielle Kernaussage enthält, was für alle Menschen gilt, und nun endlich auch für die Menschen mit Behinderungen. Im Bildungswesen folgte daraus die Vision eines grundlegenden „Systemwechsels“, die Ersetzung der „Integrationsperspektive durch die Inklusionsperspektive“ (Wolfram Höfling), die Verwirklichung einer Schule ohne jede Diskriminierung, die jedem Kind und jedem Jugendlichen ein ungehindertes Leben und Lernen in der Gemeinschaft sichert.
Inzwischen haben fast alle Bundesländer gesetzliche Regelungen geschaffen. Von einem Systemwechsel jedoch ist nirgends mehr die Rede. Stattdessen wird im Interesse eines „Schulfriedens“ ein Elternwahlrecht zwischen Regelschule und Förderschule proklamiert, ohne zu bedenken, dass das Recht auf Inklusion ein höchstpersönliches Recht des Kindes ist, über das Eltern nicht einfach verfügen können.
Bildung und Vielfalt im Lernen ergeben sich aus dem Menschsein
Einen grundlegend neuen Ansatz behandelt Vernor Muñoz, der ehemalige Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Bildung. In dem kleinen Buch „Das Meer im Nebel – Bildung auf dem Weg zu den Menschenrechten“ umreißt er als Urphänomen der Bildung, dass jeder Mensch mit seiner Geburt vor die Aufgabe gestellt ist, sich in der Welt zurechtzufinden. Lernen heißt, Ausübung des Menschenrechts auf Leben und Überleben in den ganz konkreten Verhältnissen, in die jeder hineingeboren ist. Nirgends ist hier von einem Lehrplan die Rede – was zu lernen ist, beantwortet sich aus den individuellen Potenzialen, die jeder Mensch mitbringt, und den konkreten Lebensumständen, mit denen er sich auseinandersetzen muss.
Hier wird deutlich: Heterogenität und Vielfalt im Lernen sind eine mit dem Menschsein selbst verbundene Tatsache, nicht erst eine pädagogische Situation, die wir in der Schule vorfinden, sondern eine ursprüngliche anthropologische Gegebenheit.
Dieses Lernen bezieht sich nicht nur auf den Stoff der physischen Weltumgebung, sondern nicht weniger auch auf die Menschen, mit denen der Einzelne aufwächst in den Beziehungen, die ihn tragen und in denen er sich bewähren muss, also mit den Menschen, die näher oder weiter zu seinem konkreten Lebenskreis gehören.
Menschenwürde ist Kern des Rechts auf Inklusion
Ein Systemwechsel wird daher bedeuten, dass Bildung auf dem Weg zu den Menschenrechten ein neues, sehr verändertes Gesicht bekommt. Ablesen lässt sich dies an den Internationalen Bürgerrechts- und Sozialpakten der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1966. In der Präambel zu diesen Vertragswerken heißt es, dass sich alle Menschenrechte „aus der dem Menschen innewohnenden Würde herleiten“. Menschenwürde ist die ganz große Überschrift über allen Menschenrechten. Durch den Rekurs auf die Menschenwürde erhält das Thema Individualisierung eine bemerkenswerte Vertiefung. Die Menschenwürde bewirkt Schutz der Individualität auch beim Recht auf Bildung, und das bedeutet, dass der Mensch nie – etwa aus arbeitsmarktpolitischen Gründen – zum bloßen Objekt noch so wohlmeinender Politik herabgewürdigt werden darf.
Das strahlt aber auch auf den Gemeinschaftsaspekt aus. Denn Menschenwürde steht stets in einen unausgesprochenen Kontext. Es ist die Tatsache, dass sie sich im Zwischenmenschlichen ereignet. Martin Buber formuliert: „Der Mensch wird am Du zum Ich“. In seinem Buch Personen bezeichnet Robert Spaemann dies als leben in einem „apriorischen Beziehungsraum“: Die alle Menschen einschließende Gemeinschaft ist ebenso apriorisch vorgegeben wie die Menschenwürde selbst. Beides ist gleichursprünglich.
Für das Verständnis von Inklusion ist dies elementar. Denn Inklusion teilt mit der Menschenwürde auf diese Weise die anthropologische Vorgegebenheit, das unentziehbare Mit-den-Andern-in-der-Welt-Sein, auf die sich die ‚Philosophie‘ der Behindertenrechtskonvention gründet. Dies ist der essenzielle Gehalt, der den Kern des Rechts auf Inklusion ausmacht.
Die Behindertenrechtskonvention fügt dem einen wichtigen Punkt hinzu. Sie verlangt, dass Menschenwürde, Selbstwertgefühl und Zusammengehörigkeit für den Menschen in seiner unmittelbaren Realität als Gefühl erlebbar sein müssen: sense of dignity, sense of self-worth und sense of belonging. Dies rückt die rechtlichen Gewährleistungen unmittelbar in die alltägliche Lebenswelt. Ohne dieses Erleben in unmittelbaren Begegnungen ist das Recht auf Inklusion nicht einlösbar.
Schule ist Lern- UND Lebensort
Schulpolitisch ist daraus die Forderung nach Gemeinsamem Unterricht entstanden. Die Lernfortschritte, die hier gerade auch für Kinder mit Behinderungen erzielbar sind, sind unbestreitbar. Allerdings werden etwa Kinder mit schwersten geistigen Behinderungen in dem heutigen Setting des Gemeinsamen Unterrichts in einer „Regelklasse“ nicht hinreichend gefördert. Es bedarf „besonderer Vorkehrungen“, an denen es häufig fehlt.
Angesichts solcher Mängel kann das von der Behindertenrechtskonvention betonte konkrete Erleben nichtdiskriminierenden Zusammenlebens bewusst werden. Es macht einen meist vernachlässigten Aspekt von Schule sichtbar. Denn Schule ist nicht nur Lernort, sondern auch Lebensort. Das Lernen im Unterricht ist eingebettet in eine Vielzahl von Begegnungen, Ereignissen und Aktivitäten, Beziehungen und Gefühlen auch jenseits des Unterrichts. Genau dies heißt Mit-den-Andern-in-der-Welt-Sein. Hier ereignet sich Inklusion in elementarer Weise für alle Kinder unabhängig davon, ob sie eine Behinderung haben oder nicht. Es ist die lebendige Schulgemeinschaft, die das Zusammenleben prägt und erlebbar macht.
Es gilt also, von zwei unterschiedlichen Aspekten her auf das Schulleben und die Verwirklichung von Inklusion zu blicken. Einerseits auf die Schule als Lernort, andererseits aber eben auch auf das Gemeinschaftsleben, das als tragende Grundlage die Schule zum Lebensort macht. Wenn in der Schule als Lebensort für alle eine sichere Grundlage im Erleben der Gemeinschaft geschaffen ist, darf die Schule als Lernort zusätzliche Akzente setzen. Gemeinsamer Unterricht schließt nicht aus, nach individuellen Lernbedürfnissen zu differenzieren, und zwar auch äußerlich durch Trennung in unterschiedliche Lern- und Neigungsgruppen oder auch „Lerninseln“ etwa für die mathematischen Überflieger. Eine Vielfalt von Lernszenarien ist das Merkmal inklusiven Lernens. Das Gefühl der Zugehörigkeit zum Ganzen wird dadurch nicht in Frage gestellt – vorausgesetzt allerdings, die Schule wird als Lebensort für alle tatsächlich erlebt.
Damit deutet sich an, dass bei der Verwirklichung von Inklusion zwei unterschiedliche, wenngleich eng miteinander verbundene Aspekte beachtet werden müssen. Zum einen ist es das in der Schule ja mit Recht im Vordergrund stehende Lehren und Lernen, menschenrechtlich gebunden an die Förderung der Individualität. Zum andern ist es die Aufgabe der Gemeinschaftsbildung als einer tragenden Erfahrungsgrundlage, die das Gefühl der gleichberechtigten, diskriminierungsfreien Zugehörigkeit aller erlebbar macht, und zwar gleichermaßen für Kinder mit und ohne Behinderungen und alle sonst Ausgegrenzten.
Ein Systemwechsel im Bildungsbereich ist notwendig
Hier wird die Radikalität eines Systemwechsels evident. Denn bei aller Vielfalt der Lernszenarien verlangt der essenzielle Gehalt der Inklusion, dass am Lebensort Schule das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung kompromisslos gewährleistet wird. Auf diese Weise springt ins Auge, mit welchen Mängeln wir es im heutigen segregierenden Bildungswesen zu tun haben, und welche konkreten Konturen die Mammutaufgabe eines Systemwechsels hat. Wie Vernor Muñoz zusammenfasst, muss sich eben nur eins ändern – ALLES!
Quelle:Reinald Eichholz