Hat Deutschland sich auf dem Weg zur Bildungsrepublik verlaufen?

Vor genau drei Jahren – im Oktober 2008 – riefen die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten der Länder beim Dresdner Bildungsgipfel die „Bildungsrepublik Deutschland“ aus. Bund und Länder haben in Dresden konkrete Zielvorgaben vereinbart.

Die Ausgaben für Bildung und Forschung sollen bis zum Jahr 2015 auf zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steigen, die Quoten der jungen Menschen ohne Schul- und ohne Berufsabschluss halbiert werden. Mehr Menschen sollten ein Studium aufnehmen und sich weiterbilden. Für 35 Prozent der Kinder, die jünger als drei Jahre sind, müsse ein Krippenplatz bereitstehen. Damit soll der Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz bereits ab dem Jahr 2013 abgesichert sein. Das sind anspruchsvolle Ziele. Die Messlatte liegt hoch.

Der DGB hat eine Expertise bei dem Essener Bildungsforscher Prof. Dr. Klaus Klemm in Auftrag gegeben, in der er Bilanz der drei Jahre ziehen soll.

Auszüge aus der Expertise „Drei Jahre nach dem Bildungsgipfel“:
Die Zielsetzungen des Bildungsgipfels
## Steigerung der Bildungsausgaben auf 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP)

Bund und Länder haben sich darauf verständigt, die öffentlichen und privaten Ausgaben für Bildung
und Forschung bis zum Jahr 2015 auf 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu steigern – auf sieben Prozent für Bildung und drei Prozent für Forschung.
## Ausbau der Kindertagesbetreuung für unter Dreijährige

Bis 2013 sollen für 35 Prozent der Kinder unter drei Jahren Angebote in der Kindertagesbetreuung (in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege) bereit gestellt werden. Das dazu erforderliche Personal soll ausgebildet werden.
## Verringerung der Quote der Schulabgänger/innen ohne Schulabschluss

Die Quote der Schulabgänger/innen ohne Abschluss soll halbiert werden – von acht auf vier Prozent eines entsprechenden Altersjahrgangs.
## Verringerung der Quote junger Erwachsener ohne abgeschlossene Berufsausbildung

Die Quote der jungen Erwachsenen ohne Berufsabschluss soll ebenfalls halbiert werden – von 17 auf 8,5 Prozent.
## Erhöhung der Quote der Studienanfänger/innen


## Steigerung der Weiterbildungsbeteiligungsquote

Die Beteiligung an der Weiterbildung soll von 43 auf 50 Prozent der Erwerbsbevölkerung gesteigert werden. …

Was wurde bisher erreicht?

Bildungsausgaben
Bezogen auf das Jahr 2008 bedeutet die Zehn-Prozent-Zielsetzung eine Steigerung des Anteils der Ausgaben für Bildung und Forschung um 1,4 Prozentpunkte – nämlich von 8,6 Prozent in 2008 auf 10,0 Prozent
in 2015. Bei einer nach den Ausgabenbereichen ausdifferenzierenden Betrachtung würde sich im Bereich Bildung eine Ausgabensteigerung von 6,2 auf 7,0 Prozent und im Bereich Forschung von 2,4 auf 3,0 Prozent ergeben.

Eine Darstellung des darin jeweils enthaltenen Anteils der öffentlichen und der privaten Ausgaben zeigt, dass mit 78,9 Prozent etwa drei Viertel der Bildungsausgaben, aber mit 23,5 Prozent nur ein knappes Viertel der Forschungsausgaben öffentlich getätigt werden. Insgesamt sind damit mit 63,4 Prozent etwas weniger als zwei Drittel aller Ausgaben für Bildung und Forschung öffentlich getragen.

Von diesen öffentlichen Ausgaben für Bildung und Forschung wurden 2008 von den Ländern 62,3 Prozent, vom Bund 18,9 Prozent und von den Kommunen 18,8 Prozent aufgebracht.

Diese Hinweise auf die Verteilung zwischen öffentlichen und privaten Ausgaben sind in dem hier angesprochenen Zusammenhang mit dem Zehn-Prozent-Ziel des Dresdner Bildungsgipfels bedeutsam, da sie deutlich machen, dass in der Zielsetzung mit dem privaten Sektor und mit den Kommunen Träger von Leistungen angesprochen werden, die bei der Formulierung des Zehn-Prozent-Ziels nicht beteiligt waren, aber gleichwohl in die Pflicht genommen wurden.

In den Erklärungen, die anlässlich der auf dem Bildungsgipfel beschlossenen Zielsetzung herausgegeben wurden, findet sich weder ein Hinweis darauf, um welchen Betrag sich die Ausgaben erhöhen würden,
wenn die proklamierte Zielsetzung eingelöst werden würde, noch darauf, wie sich die Ausgabensteigerungen auf öffentliche und private Ausgaben verteilen sollen, und auch nicht darauf, welche Anteile der öffentlichen Ausgaben die Länder, die Kommunen und der Bund übernehmen sollen.

Eine Modellrechnung zeigt, wie sich die Ausgabenanteile am Bruttoinlandsprodukt 2015 – nach der Steigerung auf 10 Prozent – auf öffentliche und private Finanziers verteilen würden, wenn sie im Vergleich zum Jahr 2008 konstant gehalten würden: Die öffentlichen Ausgaben für Bildung würden dann gegenüber 2008 von 4,90 auf 5,53 Prozent, die für Forschung von 0,60 Prozent auf 0,70 Prozent und die für beide Bereiche zusammen von 5,50 auf 6,23 Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsproduktes steigen.

Das mit der vom Bildungsgipfel angestrebten Steigerung der Ausgaben für Bildung und Forschung auf insgesamt 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verbundene Ausgabenvolumen lässt sich (da das Bruttoinlandsprodukt des Jahres 2015 nicht bekannt ist) dadurch verdeutlichen, dass ermittelt wird, wie hoch das Budget für Bildung und Forschung 2008 gewesen wäre, wenn damals schon 10 Prozent des BIP verausgabt worden wären: Dann hätte das Budget nicht 214,2 Mrd. Euro, sondern 248,1 Mrd. Euro, also 33,9 Mrd. Euro mehr ausgemacht. Wenn der öffentliche Anteil an dem Budget – wie tatsächlich 2008 – mit 63,4 Prozent angesetzt würde, hätten die öffentlichen Haushalte von den 33,9 Mrd. Euro 21,5 Mrd. Euro zu tragen. …

Schulabgänger/innen ohne Abschluss
Auf dem Bildungsgipfel wurde erklärt: „Der Bund und die Länder streben an, die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss…von 8 auf 4 Prozent…zu halbieren.“ Die aktuelle Situation lässt sich wie folgt charakterisieren: Nach dem Schuljahr 2009/10 verließen in Deutschland 7,0 Prozent der Jugendlichen des entsprechenden Altersjahrgangs
die allgemein bildenden Schulen ohne einen Hauptschulabschluss. Etwas mehr als die Hälfte der Schüler/innen (56,9%), die in den allgemein bildenden Schulen keinen Hauptschulabschluss erreichen, stammen aus Förderschulen. Bei der Quote der Schüler/innen ohne Hauptschulabschluss findet sich zwischen den einzelnen Bundesländern eine bemerkenswerte Spannweite: Sie reicht von Baden-Württemberg (5,7%) bis hin zu Mecklenburg-Vorpommern (14,1%). Auffallend ist, dass in den Neuen Ländern nur Thüringen mit 9,4 Prozent knapp unter der 10 Prozent-Schwelle bleibt, alle anderen Neuen Länder und auch Berlin erreichen Werte, die oberhalb von 10 Prozent liegen. Alle Alten Länder bleiben bei ihren Quoten der Schulabgänger/innen ohne Hauptschulabschluss – zum Teil deutlich – unterhalb von 10 Prozent. Das auf dem Bildungsgipfel verkündete Ziel, die Quote derer, die in den allgemein bildenden Schulen den Hauptschulabschluss nicht erreichen, zu halbieren, könnte nur erreicht werden, ## wenn kein einziger Schüler und keine einzige Schülerin die allgemeinen Schulen (das sind in der KMK-Terminologie die allgemein bildenden Schulen unter Ausschluss der Förderschulen) verließe, ohne wenigstens den Hauptschulabschluss erreicht zu haben oder
## wenn es gelänge, an den Förderschulen die Quote derer, die dort einen Hauptschulabschluss erreichen, deutlich zu steigern. Im Schuljahr 2008/09 gelang dies an den Förderschulen mit 23,9 Prozent nur einem knappen Viertel ihrer Absolventen/innen.
Wenn man den hohen Anteil der Absolventen/innen ohne Hauptschulabschluss, die aus den Förderschulen stammen, zur Kenntnis nimmt, so ist es kaum zu erwarten, dass das auf dem Bildungsgipfel proklamierte Ziel einer Halbierung der Quote in absehbarer Zeit erreicht werden kann. Auch die Tatsache, dass die Quote derer, die die allgemein bildenden Schulen ohne wenigstens einen Hauptschulabschluss verlassen, in den zehn Jahren von 2000 bis 2009 lediglich von 9,4 auf 7,0 Prozent, also um nur 2,4 Prozentpunkte gesunken ist, stimmt hinsichtlich des Halbierungsziels alles andere als optimistisch.

Junge Erwachsene ohne Berufsabschluss
Auf dem Bildungsgipfel vereinbarten die Teilnehmer/innen: „Der Bund und die Länder streben an, die Zahl der …ausbildungsfähigen jungen Erwachsenen ohne Berufsabschluss von 17,0 auf 8,5 Prozent zu halbieren.“

In 2008, also in dem Jahr des Bildungsgipfels, lag die Quote der jungen Erwachsenen (20- bis unter 30jährige) ohne Berufsabschluss bei 17,2 Prozent (das waren etwa 1,7 Millionen Menschen). Von 2008 nach 2009 ist die Quote der ohne Ausbildung verbliebenen jungen Erwachsenen von 17,2 Prozent um 0,8 Prozentpunkte auf 16,4 Prozent gesunken; zum Jahr 2010 ist sie wieder auf 17,2 Prozent angestiegen.

Das Erreichen des Ziels einer Halbierung bis 2015 ist angesichts dieser Entwicklung ausgeschlossen. Diese Einschätzung wird durch eine Betrachtung der Ausbildungsmarktsituation im Berichtsjahr 2009/10, das am 30.9.2010 endete, gestützt: 2010 wurden ausweislich des Berufsbildungsberichts 2011 insgesamt 560.073 neue Ausbildungsverträge geschlossen. 12.255 Bewerber/innen blieben unvermittelt und weitere 72.342 Bewerber/innen, die in berufsvorbereitende Maßnahmen oder auch in Praktika eingemündet waren, hatten ihren Vermittlungswunsch aufrecht erhalten.

Aus der Summe der abgeschlossenen Ausbildungsverträge, der unversorgten Bewerber/innen und derer, die – einstweilen in Maßnahmen �untergekommen‘ – ihren Vermittlungswunsch aufrecht erhalten haben, ergibt sich eine Nachfrage von insgesamt 644.670. Von diesen Nachfragenden waren 84.597, also 13,1 Prozent, ohne Erfolg geblieben. …

Fazit
## Bildungsfinanzierung:

Dem gesetzten Ziel der Steigerung der öffentlich und privat getragenen Bildungsausgaben auf 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts scheint Deutschland im Jahr 2009 auf den ersten Blick nahe gekommen zu sein. Berücksichtigt man allerdings die Tatsache, dass die Bezugsgröße
durch die Wirtschaftskrise des Jahres 2009 deutlich geschrumpft ist und dass zugleich im damaligen Konjunkturpaket II Bildungsausgaben zeitlich befristet gesteigert wurden, so bleibt von 2008 nach 2009
nur noch eine Steigerung des Anteils der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt von 8,6 auf 8,7 Prozent. Das Zehn-Prozent-Ziel bleibt in weiter Ferne.
## …
## Senkung der Zahl der jungen Menschen ohne Schulabschluss:

Die angestrebte Halbierung der Quote der Absolventen allgemein bildender Schulen ohne Hauptschulabschluss ist nicht einmal ansatzweise erkennbar. In den vergangenen zehn Jahren ist diese Quote um gerade einmal 2,4 Prozentpunkte gesunken – von 9,4 auf 7,0 Prozent. Ein Maßnahmebündel, das in diesem Handlungsfeld Erfolge versprechen würde, ist nicht erkennbar – schon gar nicht ein solches, das die Förderschulen, aus der mehr als die Hälfte der Absolventen/innen ohne Hauptschulabschluss stammen, einbezöge.
## Senkung der Zahl der jungen Menschen ohne Berufsabschluss:

Auch die gleichfalls angestrebte Halbierung der Quote junger Erwachsener, die keinen Berufsabschluss erwerben, ist nicht in Sicht: Von 2008 nach 2009 hat sich die entsprechende Quote von 17,2 auf 16,4 Prozent zwar geringfügig verringert; 2010 lag sie aber wieder bei 17,2 Prozent. Da auch im Berichtsjahr 2009/10 von den Ausbildungsplatzbewerber/innen 13,1 Prozent nicht in eine voll qualifizierende Berufsausbildung einmünden konnten, besteht kein Anlass, optimistisch in die nähere Zukunft zu blicken. Diese Einschätzung wird auch dadurch gestärkt, dass immer noch zu viele Absolventen/innen die allgemein bildenden Schulen ohne einen Abschluss verlassen, so dass der Mehrheit von ihnen auch angesichts der Schwierigkeiten, die Schulabsolventen/innen ohne Hauptschulabschluss beim Erlernen eines Berufes haben, eine Berufsausbildung dauerhaft verwehrt bleiben wird.
## …
## Die Gesamtschau der sechs untersuchten Aufgabenfelder zeigt, dass die Steigerung der Ausgaben für Bildung und Forschung bis 2015 unverzichtbar bleibt. Die Bilanz der Umsetzung der Beschlüsse des Dresdner Bildungsgipfels verweist in den konkreten Handlungsfeldern nach wie vor auf einen enormen Nachholbedarf. Bei wesentlichen Zielgrößen des Bildungsgipfels – bei der Bildungsfinanzierung, bei der Senkung der Zahl der jungen Menschen ohne Schul- und ohne Berufsabschluss sowie beim Ausbau der Krippenplätze – läuft die Umsetzung entweder schleppend oder nur mit kaum wahrnehmbaren Fortschritten. Lediglich bei der Anhebung der Quote der Studienanfänger/innen wurde das Ziel übererfüllt. Die Expertise in vollem Textumfang entnehmen Sie bitte aufgeführtem Link oder dem Anhang.

http://www.dgb.de/themen/++co++a23ae034-fa27-11e0-6a3e-00188b4dc422

Quelle: DGB

Dokumente: Dr_Klaus_Klemm_Drei_Jahre_nach_dem_Bildungsgipfel_eine_Bilanz.pdf

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