Durchlässigkeit des Schulsystems

Auszüge aus den Ergebnissen der Studie von Grabriele Bellenberg (unter Mitarbeit von Matthias Forell) Schulformwechsel in Deutschland:
“ Im Schuljahr 2010/2011 haben rund 98.500 Schülerinnen und Schüler im Verlauf der Sekundarstufe I die Schulform gewechselt (Wert ohne Hamburg und Rheinland-Pfalz). Das zeigen die Auswertungen amtlicher Statistiken zu Schulformwechseln. Damit erlebt eine beträchtliche Anzahl an Schülerinnen und Schülern in ihrer Schullaufbahn einen Schulformwechsel … . Hinzugerechnet werden müssten auch noch Bildungsgangwechsel innerhalb solcher Schulformen, die mehrere Bildungsgänge unter einem Dach anbieten.

Ein Schulformwechsel stellt für den betroffenen Jugendlichen in jedem Fall ein einschneidendes Erlebnis in seiner Schullaufbahn dar – unabhängig davon, ob der Wechsel durch schwache bzw. besonders gute Schulleistungen bedingt ist. Sich in eine neue soziale Umgebung einzuleben, kann sich günstig auf die Entwicklung des Schülers auswirken, mitunter aber auch als erhebliche zusätzliche Belastung erfahren werden. Insbesondere „abgestiegene“ Schülerinnen und Schüler kommen mit dem Makel in die neue Schulform, den Anforderungen der vorherigen Schulform nicht gewachsen gewesen zu sein. Für die Lernmotivation und das Selbstbild des Einzelnen kann ein solcher Abstieg dauerhaft erhebliche Konsequenzen haben. „Aufsteigende“ Schülerinnen und Schüler werden mit höheren Leistungsanforderungen konfrontiert und müssen diese in ihr schulisches Selbstbild integrieren.

… Schulformwechsel können ein Zeichen für die Durchlässigkeit eines Schulsystems sein, wenn sie Schülerinnen und Schülern einen Aufstieg in anspruchshöhere Schulformen ermöglichen und damit Bildungschancen eröffnen. Sie können aber auch ein Indikator für die langlebige pädagogische Tradition der Selektion in den gegliederten Schulsystemen in Deutschland sein, wenn viele Jugendliche einen Abstieg erleben. Diese Kinder und Jugendlichen wurden in ihren alten Klassen und Schulen nicht so individuell gefördert, dass sie in ihrem sozialen Umfeld weiterlernen konnten. Vielmehr wurden sie abgeschult, da ihre „Passung“ zur bisherigen Schulform in Frage gestellt wurde. In einem inklusiven Schulsystem, in dem jedes Kind und jeder Jugendliche bestmöglich individuell gefördert und unterstützt wird, müssten Schulformwechsel als pädagogische Maßnahme eigentlich ausgedient haben.

In Deutschland sind Schulformwechsel aber in erster Linie noch selektiv ausgerichtet. … Mit rund 60 Prozent wechselt die große Mehrheit der Schulformwechsler von einer anspruchshöheren in eine anspruchsniedrigere Schulform. Nur 27 Prozent der Wechsler gelingt ein Aufstieg. Sie können von der Durchlässigkeit der Systeme profitieren. … Eine Betrachtung der jährlichen Schulformwechslerquote in den Bundesländern, die von 6,1 Prozent in Bremen, 4,9 Prozent in Berlin und 4,3 Prozent in Bayern bis zu 1,3 Prozent in Baden-Württemberg reicht, zeigt die große Heterogenität der Bundesländer bei diesem Thema. …

Für eine Erklärung dieser beträchtlichen Spannweite und eine tiefergehende Analyse des Themas Schulformwechsel ist es unerlässlich, sich die Schulsysteme und die rechtlichen Regelungen zu Schulformwechseln in den Bundesländern genauer anzusehen. Denn für Deutschland kann de facto nicht mehr von einem einheitlichen, ehemals klassisch dreigliedrigen Schulsystem – bestehend aus Hauptschule, Realschule und Gymnasium – die Rede sein. Die deutliche Abkehr von der traditionellen Dreigliedrigkeit lässt sich exemplarisch an folgenden Punkten festmachen: ## Nur noch in Bayern und Baden-Württemberg besucht ein relevanter Anteil (rund 25 %) der Schülerinnen und Schüler eine Hauptschule.
## In nur fünf Bundesländern findet sich eine mehrgliedrige Schulstruktur.
## Das Gymnasium ist die einzige Sekundarstufen-Schulform, die in allen Bundesländern vorhanden
und auch quantitativ von großer Bedeutung ist.
## 11 Bundesländer verfügen über eine prinzipiell zweigliedrige Schulstruktur oder befinden sich im Umbau in diese Richtung.

Mehrgliedrige Bundesländer, in denen die Hauptschule nur noch eine sehr geringe Bedeutung hat, zeichnen sich durch ungünstige Verhältnisse von Aufstieg zu Abstieg aus.
In Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Hessen hat die Hauptschule als Schulform nach dem Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I nur eine geringe Bedeutung im Schulsystem. Diese Bundesländer weisen sehr ungünstige Verhältnisse von Aufstieg zu Abstieg auf. In Niedersachsen kommen auf einen Aufsteiger 10 Absteiger, in Hessen fast 9 und in Nordrhein-Westfalen knapp 6. Diese Bundesländer sind daher als verhältnismäßig selektiv zu bewerten. Zur Hauptschule gelangt man hier meistens unfreiwillig. …

Günstige Verhältnisse von Aufstieg zu Abstieg finden sich hingegen in Ländern mit mehrgliedriger Schulstruktur, in denen ein bedeutsamer Anteil an Schülerinnen und Schülern die Hauptschule besucht (Bayern und Baden-Württemberg) – hier steht an den Hauptschulen noch ein ausreichendes Aufsteigerpotenzial zur Verfügung. …

Bringt man den Schulformwechsel weitergehend in Zusammenhang mit dem Selektionsinstrument Klassenwiederholung, dann finden sich gerade bei den mehrgliedrigen Ländern einige mit hohen Anteilen an Schulformwechslern und gleichzeitig hohen Anteilen an Klassenwiederholungen (Bayern, Hessen, und Niedersachsen). Diese Länder sind als selektiv einzustufen, da ein besonders hoher Anteil an Schülerinnen und Schülern die Erfahrung schulischen Scheiterns macht. Ein Bundesland mit geringen Anteilen an Schulformwechslern und geringen Klassenwiederholungsquoten ist hingegen z.B. Baden-Württemberg. Hier spielt Selektion als pädagogische Maßnahme eine wesentlich geringere Rolle. …

Fazit
… Positiv mit Blick auf die Durchlässigkeit des Bildungssystems und die damit verknüpfte Chancengerechtigkeit ist sicherlich zu bewerten, dass alle Reformbemühungen in die Richtung gehen, die Entkopplung von Schulform und Schulabschluss weiter voran zu treiben – sei es durch die Zusammenlegung von Schulformen oder die Schaffung von integrierten Schulformen mit mehreren Bildungsgängen. Aller Voraussicht nach wird jedoch weniger die Frage von Schulstrukturen entscheidend sein, wenn es um ein chancengerechteres Bildungssystem geht. Grundvoraussetzung ist vielmehr der Schritt weg von einer selektiven Pädagogik hin zu Unterricht und Lernsettings, in denen jedes Kind und jeder Jugendliche individuell gefördert wird. Ein solcher Schritt erfordert jedoch nicht nur einen Wandel in den Köpfen vieler Lehrkräfte und Eltern, notwendig ist vielmehr auch, dass Lehrerinnen und Lehrer systematisch mit Blick auf individuelle Förderung aus- und weitergebildet werden und schulische Rahmenbedingungen eine Entwicklung hin zu einem wirklich inklusiven Schulsystem ermöglichen. …

Ausblick und weiterer Forschungsbedarf
… Die Befunde der Studie werfen weitere Forschungsfragen auf. ## Wie häufig gehen mit Schulformwechseln Klassenwiederholungen einher? Von welchen Kriterien
hängt es in der schulischen Praxis ab, ob eine Querversetzung oder eine Abschulung von den Klassenkonferenzen empfohlen und von den Eltern realisiert wird? In welchen Fällen geht auch mit einem Aufstieg oder einem Umstieg im Schulsystem eine Klassenwiederholung einher? Ist dies pädagogisch sinnvoll?
## Nach welchen pädagogischen Kriterien entscheiden sich Klassenkonferenzen im Umgang mit leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern für eine Versetzung, eine Klassenwiederholung oder eine Abschulung/Querversetzung? Wie groß sind die einzelschulspezifischen Unterschiede im Umgang mit dieser Thematik?
## Wie wirken sich Verbleibe, Klassenwiederholungen bzw. Abschulungen/Querversetzungen auf die Leistungsentwicklung von Schülerinnen und Schülern sowie deren Bildungsbiografie aus?
## Welche Schulstrukturlogik ist mit Blick auf ein entspanntes und erfolgreiches Lernen für Schülerinnen und Schüler die bessere Alternative? Oder anders: Wie lassen sich am günstigsten und chancengerechtesten Bildungswege für alle offen halten? … „

Die Studie „Schulformwechsel in Deutschland“ im Auftrag der Bertelsmann Stiftung entnehmen Sie bitte dem Anhang.

www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-28091B3C-F6059EC2/bst/xcms_bst_dms_36755_36756_2.pdf

Quelle: Bertelsmann Stiftung

Dokumente: Studie_Bertelsmann_Stiftung_Schulformwechsel_in_Deutschland.pdf

Ähnliche Artikel

Ablehungskultur für Menschen auf der Flucht

Das europäische Parlament hat zuletzt seinen Beitrag geleistet, die Außengrenzen der Europäischen Union noch stärker als bisher abzuriegeln. In allen europäischen Nationalstaaten sind Geflüchtete nicht

Skip to content