Hilft der Mindestlohn Aufstockern ihre Bedürftigkeit zu überwinden?

Auszüge aus der Analyse und den Erkenntnissen der Simulationsrechnung des IAB „Die meisten Aufstocker bleiben trotz Mindestlohn bedürftig“ von Kerstin Bruckmeier und Jürgen Wiemers:
„… In den letzten Jahren hat sich die Arbeitsmarktlage in Deutschland trotz der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise deutlich verbessert. Dabei ist nicht nur die Zahl der Arbeitslosen, sondern auch die Zahl der Grundsicherungsempfänger erheblich zurückgegangen. Während es im Durchschnitt des Jahres 2007 rund 5,3 Millionen erwerbsfähige Arbeitslosengeld-II-Bezieher gab, waren es im Jahr 2012 nur noch etwa 4,4 Millionen. Im gleichen Zeitraum ist dagegen die Zahl der erwerbstätigen Arbeitslosengeld-II-Bezieher von 1,2 Millionen auf 1,3 Millionen sogar leicht gestiegen. …

Aufstocker: Die Ursachen für Bedürftigkeit sind vielfältig
… Von den 4,46 Millionen erwerbsfähigen Arbeitslosengeld-II-Beziehern im Juni 2012 waren 1,35 Millionen, also etwa 30 Prozent, gleichzeitig erwerbstätig. … In dieser Gruppe der Aufstocker zeigt sich folgendes Bild: 77 Prozent der abhängig beschäftigten Leistungsbezieher arbeiten weniger als 32 Stunden in der Woche, 60 Prozent weniger als 22 Stunden und ein Drittel weniger als 11 Stunden … Weitere Ursachen für Einkommen, die zur Existenzsicherung nicht reichen, sind niedrige Stundenlöhne und die Haushaltsgröße bei häufig nur einem Erwerbstätigen im Haushalt. Die durchschnittlichen Stundenlöhne von Aufstockern betragen etwa 6,20 Euro. Die niedrigsten Stundenlöhne von durchschnittlich unter 5 Euro erzielen Alleinstehende in Ostdeutschland. Aufstocker aus Paarhaushalten in Westdeutschland erreichen hingegen bereits jetzt zu über einem Fünftel Stundenlöhne von über 10 Euro. Hier reicht der Verdienst wegen der Haushaltsgröße nicht zur Existenzsicherung aller Haushaltsmitglieder …

Die geringen Stundenlöhne der Aufstocker gehen einher mit einem im Vergleich zur übrigen Erwerbsbevölkerung unterdurchschnittlichen Qualifikationsniveau. Insbesondere Alleinstehende haben deutlich häufiger keinen Schulabschluss und keine Berufsausbildung … Als Hauptursachen für geringe wöchentliche Arbeitszeiten werden nicht ausreichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten sowie gesundheitliche Einschränkungen angegeben …

Die Beschäftigungsverhältnisse von Aufstockern zeichnen sich … auch durch eine hohe Instabilität aus und der Ausstieg aus dem Leistungsbezug gelingt ihnen nur selten. Nur etwa 17 Prozent der Aufstocker des Jahres 2010 waren im Folgejahr nicht mehr auf Transferleistungen angewiesen…

Wirkungen eines gesetzlichen Mindestlohnes auf die Zahl der Leistungsbezieher
… Nach der Einführung eines Mindestlohnes kurzfristig etwa 41.000 Haushalte ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld II (Regelleistung) verlieren. Bei konstanten Löhnen steigt die Zahl der Haushalte, die ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld II verlieren, auf 74.000. Ein Teil von ihnen bleibt jedoch weiterhin in der Grundsicherung und bezieht noch Unterstützung zu den Kosten der Unterkunft (KdU).

Gänzlich verlassen würden die Grundsicherung nach dem SGB II etwa 53.000 (ohne Lohnfortschreibung) bzw. 43.000 Haushalte (mit Lohnfortschreibung). Bezogen auf die Personen mit Erwerbseinkommen in diesen Haushalten gelänge es in der kurzen Frist 64.000 (ohne Lohnfortschreibung) bzw. 57.000 Aufstockern (mit Lohnfortschreibung), die Hilfebedürftigkeit zu überwinden. Dies entspricht einem Anteil von rund 4,8 Prozent bzw. 4,3 Prozent an allen im SOEP beobachteten Aufstockern.

Der simulierte geringe Rückgang der Zahl der Haushalte bzw. Personen mit einem Anspruch auf Arbeitslosengeld II ist auf den ersten Blick überraschend. Insbesondere bei alleinlebenden Aufstockern, die im Status quo Bruttostundenlöhne unterhalb von 8,50 Euro je Stunde verdienen, erscheint es zunächst plausibel, dass der Mindestlohn zur Beendigung der Bedürftigkeit im Sinne des SGB II führen sollte – zumindest kurzfristig, wenn mögliche negative Beschäftigungseffekte ausgeblendet werden. …

Beim Wohngeld erzeugt die Einführung eines Mindestlohnes zwei gegenläufige Effekte. Zum einen erwerben einige der Haushalte, die aufgrund des Mindestlohnes ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld II verlieren, einen Anspruch auf Wohngeld. Das erhöht tendenziell die Zahl der Wohngeldempfänger. Zum anderen verlieren aber auch Wohngeldempfänger aufgrund der Einkommenserhöhung durch den Mindestlohn ihren Anspruch auf das Wohngeld…

Beim Kinderzuschlag treten analog dazu ebenfalls zwei gegenläufige Effekte auf. Auch hier gibt es mehr Haushalte, die einen Anspruch neu erwerben, als solche, die den Anspruch verlieren…

Veränderung der Sozialausgaben
Obwohl die Einführung des Mindestlohnes die Bedürftigkeit der Aufstocker häufig nicht ganz verhindert, führt sie doch bei Ausblendung von Verhaltenseffekten dazu, dass das Ausmaß ihrer Abhängigkeit von Transferzahlungen abnimmt. Durch die höheren Verdienste sinkt der Anteil der Transferleistungen am Gesamteinkommen. Dies wirkt sich deutlich positiv auf die öffentlichen Sozialbudgets aus.

Insgesamt ergeben sich kurzfristig beim Arbeitslosengeld II Einsparungen von jährlich knapp 700 Mio. Euro (mit Lohnfortschreibung) bis knapp 900 Mio. Euro (ohne Lohnfortschreibung). Dabei werden bei den Regelleistungen ca. 310 Mio. bis 440 Mio. Euro eingespart, bei den Kosten der Unterkunft sind es 380 Mio. bis gut 450 Mio. Euro …

Aufgrund der oben beschriebenen gegenläufigen Effekte bei Wohngeld und Kinderzuschlag ergeben sich bei ersterem Mehrausgaben von ca. 60 Mio. Euro und bei letzterem fallen zwischen gut 120 Mio. und gut 180 Mio. Euro zusätzlich an. Im Saldo werden bei den Transferausgaben zwischen gut 500 Mio. und gut 650 Mio. Euro eingespart. …

Fazit
Nur ein vergleichsweise kleiner Teil der erwerbstätigen Leistungsbezieher würde die Hilfebedürftigkeit überwinden und den Transferbezug verlassen können: Je nach Simulationsvariante sind es zwischen 43.000 und 53.000 Haushalte bzw. 57.000 bis 64.000 Aufstocker. Dabei handelt es sich tendenziell um solche Aufstocker, die mit einer vollzeitnahen Beschäftigung bereits eine hohe Arbeitsmarktintegration aufweisen und deren Einkommen nicht für mehrere Familienmitglieder ausreichen muss.

Die Haushaltsäquivalenzeinkommen der Aufstocker würden im Mittel um lediglich 10 bis 12 Euro monatlich steigen, da der Großteil des zusätzlichen Bruttoeinkommens auf die Transferleistung angerechnet wird.

Allerdings könnte der Mindestlohn das Ausmaß der individuellen Transferabhängigkeit bei Sozialleistungsbeziehern reduzieren. …

Um potenziellen negativen Folgen des Mindestlohnes für arbeitsmarktferne Leistungsbezieher zu begegnen, könnten seitens der Politik flankierende Maßnahmen ergriffen werden. Ausnahmeregelungen vom Mindestlohn oder Lohnkostenzuschüsse beispielsweise erleichtern den Arbeitsmarkteinstieg für arbeitsmarktferne Gruppen. … Dabei ist zu beachten, dass je nach Ausgestaltung der flankierenden Maßnahmen wiederum fiskalische Kosten entstehen können. „

Die Analyse des IAB in vollem Textumfang entnehmen Sie bitte dem Anhang.

Quelle: IAB Kurzbericht 7/2014

Dokumente: kb0714.pdf

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