Auszüge aus der Ausarbeitung von Lothar Reetz und Werner Kuhlmeier
„Ausbildungsreife als bildungspolitisches, kompetenztheoretisches sowie didaktisches und diagnostisches Problem“:
“ … Der Übergang von der Schule in Ausbildung und Arbeit gestaltet sich für viele Jugendliche nach wie vor problematisch. Obwohl sich allmählich die Lage auf dem Ausbildungsplatzmarkt entspannt, zeigt sich noch immer die scheinbar paradoxe Situation, dass einerseits ein großer Teil der ausbildungswilligen Jugendlichen keinen Ausbildungsplatz findet, während andererseits viele Unternehmen klagen, dass sie freie Ausbildungsplätze nicht besetzen könnten, weil ihnen geeignete, das heißt „ausbildungsreife“ Bewerber fehlten. Das Konzept der Ausbildungsreife erscheint vor diesem Hintergrund als ein „ungeklärtes Konstrukt im Spannungsfeld unterschiedlicher Interessen“ .
Gerade weil „Ausbildungsreife“ häufig interessenbedingt als ein mehrdeutiger Begriff wahrgenommen wird, ist zur „Klärung“ des Konzeptes zunächst das durch den Begriff bezeichnete Phänomen in den Blick zu nehmen. …
Es besteht unter Bildungsexperten Einigkeit darüber, dass der Übergang der Jugendlichen in das berufsbildende System zielorientierter und planmäßiger als bisher erfolgen muss. Dabei kommt der didaktischen Gestaltung des berufsbezogenen Lernen sin der Sekundarstufe I eine zentrale Rolle zu. Um die Jugendlichen auf ihre Zukunft in Ausbildung und Arbeitswelt vorzubereiten, sind auch außerschulische Lernphasen sowie aktuelle berufspädagogisch-didaktische Ansätze zu berücksichtigen.
Die Kategorie der „Ausbildungsreife“ wird aktuell zu einem Prädikat mit weit reichender Funktion und Bedeutung. Es ist daher schließlich zu untersuchen, wie Lernergebnisse des berufsbezogenen Lernens valide im Hinblick auf die angestrebte Ausbildungsreife diagnostiziert werden können. ….
Anforderungen an ein Kompetenzmodell zur Entwicklung von Ausbildungsreife
Ausbildungsreife wird in der vorberuflichen Phase entwickelt und ist abzugrenzen von den Fähigkeiten, die in der Ausbildung erworben werden sollen, insbesondere auch von der „Berufseignung“, die die Anforderungen spezifischer Berufe betrifft. Des Weiteren sollte dann diese Berufseignung auch von der „Vermittelbarkeit“ unterschieden werden, die vor allem von regionalen und konjunkturellen Bedarfslagen sowie von bestimmten Eigenschaften der Bewerberpersönlichkeit abhängig ist. …
Im Zusammenhang mit der ersten wichtigen Abgrenzung ist ein zweiter Schritt nötig, um möglicherweise zu einer (operationalisierbaren) Definition von Ausbildungsreife zu kommen. Er besteht darin, dass zunächst Merkmale von so genannten Experten erhoben werden, die diese für die Ausbildungsreife als zutreffend erachten.
Eine Befragung im Rahmen des BIBB – Expertenmonitors ergab … eine Liste von Merkmalen für die Ausbildungsreife. … Eine vom „Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs“ eingesetzte „Arbeitsgruppe Ausbildungsreife“ stellte 2006 ihren Kriterienkatalog … vor. …
Ein Vergleich solcher Merkmalslisten zeigt, …, dass die Experten sich entgegen den erklärten Absichten des „Nationalen Paktes“ in ihren Einschätzungen zur Ausbildungsreife stärker von Ansprüchen und Kategorien der Berufseignung und der Vermittelbarkeit leiten ließen und den im Begriff der Ausbildungsreife enthaltenen Entwicklungsaspekt vernachlässigten. … In der Tat kann festgestellt werden, dass Ausbildungsreife mit bloßem Mehrheitsvoten von Experten allein nicht angemessen zu ermitteln ist. … Die Kataloge lassen mithin ein persönlichkeitsbezogenes Kompetenzmodell vermissen, dass die bei den Jugendlichen in der Entwicklung befindlichen Ansätze der Orientierung an beruflicher Handlungsfähigkeit in einen Zusammenhang stellt. …
Aus den … aufgeführten Defiziten sind folgende Schlussfolgerungen für ein Konzept der Ausbildungsreife im Kontext des berufsbezogenen Lernens zu ziehen:
Ausbildungsreife ist weniger als ein Status aufzufassen sondern vor allem als eine Entwicklungs- und Lernaufgabe anzusehen. Dabei ist – … – Entwicklung nicht als bloßes Resultat vergangener Ereignisse zu verstehen, sondern betrifft in besonderem Maße die Fähigkeit zu individueller Vorwegnahme zukünftiger Geschehnisse. Das bedeutet für die Berufsorientierung, dass die Antizipation berufsrelevanter Situationen und die Förderung des Selbstkonzepts der Jugendlichen als Grundlage für eine eigenverantwortliche Gestaltung der Zukunft im Vordergrund der Lernprozesse stehen müssen. Eine rein begriffliche Bestimmung der Merkmalen von Ausbildungsreife ist nicht hinreichend. Vielmehr müssen die Situationen, in denen sich Ausbildungsreife erweist, empirisch bestimmt werden. Diese Situationen bilden dann auch Anknüpfungspunkte für die Gestaltung von Lernprozessen. Ein geeignetes Kompetenzmodell der Ausbildungsreife ist das auch in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik angewendete Modell der Handlungskompetenz. … Allerdings genügt es nicht, lediglich Merkmale der Ausbildungsreife den Dimensionen zuzuordnen, sondern diese müssen situativ konkretisiert und mit einem Stufenmodell der Kompetenzentwicklung kombiniert werden.
Die Gestaltung des berufsbezogenen Lernens in der Sekundarstufe I
Das berufsbezogene Lernen in der Sekundarstufe I ist auf die Förderung der Ausbildungsreife zu richten und sollte „kompetenzorientiert“ erfolgen. Als wesentlicher Bestandteil von Kompetenz gilt allgemein die Fähigkeit einer Person, variable, problemhaltige Situationen in Beruf, Gesellschaft und Privatleben erfolgreich bewältigen zu können. Damit kommt der Situation auch eine konstitutive Rolle bei der Auswahl der Lerninhalte und der Gestaltung der Lernprozesse zu. Die didaktischen Entscheidungen des berufsbezogenen Lernens folgen daher – … – vor allem dem Situationsprinzip. … Die Gestaltung der Lernprozesse folgt demgemäß den lern- und entwicklungstheoretischen Erkenntnissen zum situativen beziehungsweise situierten Lernen. Das Situationsprinzip ist ein zentraler Bestandteil der Gestaltung berufsbezogener Lernprozesse. …
Berufsbezogenes Lernen ist ein stetiger Prozess der Klärung von objektiven Anforderungen der Arbeitswelt und subjektiven Voraussetzungen des Individuums. Dementsprechend werden in den entsprechenden Lernprozessen auch beide Aspekte aufgegriffen. Berufsbezogene Lernprozesse, die sich vornehmlich mit den „objektiven“ Anforderungen des Beschäftigungssystems auseinandersetzen, gehen von folgenden Fragen aus:
## Welche Qualifikationen werden für die Arbeitswelt benötigt?
## Was müssen Jugendliche lernen, um diesen Anforderungen zu genügen?
Demgegenüber regt ein subjektorientiertes berufsbezogenes Lernen die Jugendlichen vor allem zur Selbstreflexion und zur Überprüfung ihrer individuellen Stärken und Schwächen an. Die Lernenden beschäftigen sich beispielsweise mit den folgenden Fragen:
## Wie ist mein Leben bisher verlaufen?
## Wie will ich später arbeiten und leben?
Die Beurteilung der Ausbildungsreife mittels Situationsaufgaben
Bei der Entwicklung eines diagnostischen Verfahrens zur Erfassung von Ausbildungsreife stellen sich mehrere Probleme:
## Die Vorstellung einer eindeutigen „Messbarkeit“ von Ausbildungsreife ist eine Illusion. Ausbildungsreife ist ein normatives Konstrukt, das weniger zur Statusfeststellung konzipiert wurde, sondern vielmehr eine Entwicklungsaufgabe von Jugendlichen
als Zielgröße beschreibt.
Die vom Nationalen Pakt vorgeschlagenen Ansätze zur Erfassung von Ausbildungsreife gehen von Merkmalsbeschreibungen aus, bestimmen dann auf eine allgemein-formale Weise Indikatoren und setzen bei der Diagnostik auf Gesprächssituationen, in denen die Selbsteinschätzung der Jugendlichen im Vordergrund steht, in der Regel ergänzt um eine Fremdeinschätzung des Gesprächspartners. Dieses Verfahren ist nicht hinreichend, da es die konkreten Anforderungen der Übergangssituation in die Berufs- und Arbeitswelt nicht genügend berücksichtigt und außerdem die diagnostischen Fähigkeiten der „Einschätzer“ wegen mangelnder Operationalisierung der Merkmale überfordert.
Aus diesem Grund wird hier eine Ergänzung der diagnostischen Verfahren um die Durchführung handlungsorientierter Situationsaufgaben vorgeschlagen. Die Operationalisierung von Merkmalen der Ausbildungsreife erfolgt dabei durch eine „situative Transformation“. Das bedeutet, dass in den Situationsbeschreibungen antizipierend realitätsnahe Probleme des Ausbildungsalltags geschildert werden, deren Bearbeitung durch die Jugendlichen erkennen lässt, ob und in welchem Ausprägungsgrad einzelne Dimensionen der Ausbildungsreife entwickelt wurden. …
Situationsaufgaben müssen eine Reihe von Anforderungen erfüllen. Sie müssen
## typisch, repräsentativ
## problemhaltig und
## entscheidungsoffen
Mit der Durchführung von Situationsaufgaben kann eine Lücke in der bisherigen Praxis der Erfassung von Ausbildungsreife geschlossen werden. Erste Erprobungen von Situationsaufgaben in unterschiedlichen Jahrgangsstufen einer Hamburger Stadtteilschule belegen, dass mit diesen Aufgaben sowohl individuell unterschiedliche als auch altersabhängige Entwicklungsstufen erfasst werden können. „
Den Aufsatz in vollem Textumfang lesen Sie in einem bwpa@Spezial unter aufgeführtem Link.
www.bwpat.de/spezial7/reetz_kuhlmeier_eara2013.pdf
Quelle: Berufs- und Wirtschaftspädagogik online