Dr. Heinrich Ricking, Institut für Sonderpädagogik, Prävention und Rehabilitation der Universität Oldenburg, hat auf einer Veranstaltung des DJI-Netzwerkes ‚Prävention von Schulmüdigkeit und Schulverweigerung‘ über ‚Die Förderung schulmüder Jugendlicher im Spannungsfeld von Schulreform und alternativen Beschulungseinrichtungen‘ referiert. Unter anderem befasst er sich mit den Zielen, Anforderungen und Problemfeldern außerschulischer Projekte für Schulverweigerer/innen. Auszüge: “ Problemstellung Derzeit sind Fortschritte in der Schulabsentismusforschung und -praxis v.a. aus der Sonder- und Sozialpädagogik zu vernehmen, die an verschiedenen Studienstätten (…) daran arbeiten die Frage illegitimer Schulversäumnisse intensiv zu klären und den Praktikern effiziente Strategien und Maßnahmen anzubieten … Die öffentliche Aufmerksamkeit und die Aktivität in den Kultusministerien … hat überwiegend positive Folgen gezeitigt. Es ist schwerer geworden das Problem zu tabuisieren, das Interesse an dem Thema und vermutlich auch die Sensibilität für die Lebenslagen der häufig fehlenden Schüler ist gestiegen … Normativ sollte auch in diesem Feld der sonderpädagogische Grundsatz gültig sein, dass erst dann separierende Einrichtungen beansprucht werden, wenn alle im weitesten Sinne pädagogischen Optionen im Mainstream ausgeschöpft sind und nicht zum erwünschten Erfolg geführt haben. Die letztgenannte Kondition wird jedoch häufig ignoriert oder Schulen unterschätzen den Rahmen ihrer Möglichkeiten. … Alternative Beschulungseinrichtungen Es haben sich in den vergangenen Jahren von Städten oder privaten Trägern der Jugendhilfe initiierte Modellprojekte oft mit einer Kapazität von 10 bis 20 Plätzen gebildet und z.T. bereits etabliert, die sich auf der Basis sozial- und sonderpädagogischer Ansätze der Unterrichtung, Betreuung und Reintegration von Schülerinnen und Schüler widmen, die weitgehend der Schule entkoppelt sind, sehr lange Fehlzeiten aufweisen und in sozialen Risikokonstellationen aufwachsen (s. Teilübersicht des DJI 2004). Viele dieser Kinder werden materiell wie emotional nicht ausreichend versorgt, zeigen Verhaltensmuster aus dem dissozialen Formenkreis, gehen am Vormittag mitunter Gelegenheitsarbeiten nach oder driften in die Straßenkinderszene der Großstädte ab (…). Erfahrungen zeigen jedoch, dass diese Kinder in Multiproblemlagen und mit schwieriger Schulgeschichte lernen wollen und oft nicht ein mal ein grundlegendes Problem mit Schule haben, jedoch nicht an die Schule zurückgehen möchten, aus der sie gekommen sind. Leitziel Das Leitziel dieser Einrichtungen besteht in einer angemessenen Förderung sowie der schulischen und sozialen Reintegration von Kindern und Jugendlichen mit schulaversiven Verhaltensformen. Sie intendieren insbesondere mittels einer rehabilitativen Strategie, der bereits vollzogenen schulischen Ausgliederung durch ein niedrigschwelliges Angebot entgegenzuwirken, ihren regelmäßigen Schulbesuch und auf dieser Basis wirksame Lernprozesse zu ermöglichen. Die Praxisprojekte besuchen in der Regel schulpflichtige Kinder und Jugendliche der Real,- Haupt- und Förderschule der Sekundarstufe 1. Das zentrale Kennzeichen der Zielgruppe besteht in der Verweigerung bzw. Flucht vor der Schul- und Unterrichtssituation. Das Vorliegen sonderpädagogischen Förderbedarfs als Aufnahmevoraussetzung wird ggf. in einem Prüfverfahren ermittelt. Zielgruppe Verschiedene Untersuchungen in Praxisprojekten dokumentieren in deutlicher Weise, dass ein beträchtlicher Teil der Zielgruppe mittelgradige bis schwere Verhaltensstörungen aufweist, v.a. externalisierender Form. D.h. der Schulabsentismus vergesellschaftet sich bei diesen Kindern und Jugendlichen mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit mit massiven Konflikten in der Schule, aggressiven Handlungsmustern, Drogenkonsum und Delinquenz. Erschreckend oft leben sie in bindungsarmen und degenerierenden Familien, die weder Halt noch Unterstützung bieten. Berücksichtigung finden Schüler in sozialen und emotionalen Krisen, deren individuelle Aufarbeitung ohne sozialpädagogische Betreuung im Regelschulbetrieb nicht möglich sind. Allerdings lehnen einige Praxisprojekte Schüler mit akut psychiatrischem Verhalten, stetiger Delinquenz, habituellem Drogenkonsum sowie einem bekannten, exzessiven Gewaltpotenzial ab. Pädagogischer Rahmen Die pädagogische Arbeit bewegt sich im allgemeinen Bezugsrahmen der Sonder- und Sozialpädagogik. Diese sind Teile von Subsystemen der Erziehung, die erschwerten Lern- und Lebensbedingungen Rechnung tragen. Sonderpädagogik kompensiert im Zusammenhang erzieherischer Verhältnisse Lernerschwernisse, die durch Beeinträchtigungen oder Behinderungen bedingt sind. Sozialpädagogik hat es eher mit gruppen- und schichtspezifischen Problemlagen der Benachteiligung zu tun, die aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu verstehen sind. Oft benötigen dieselben Personen sozial- und sonderpädagogische Hilfen, so dass die Überschneidung der Zielgruppe zur Verknüpfung der pädagogischen Ziele führt: prosoziale Hilfemotive und edukative Lernförderung treten nebeneinander in den Vordergrund. Didaktische Anforderungen Der Unterricht von Schülern mit Verhaltensstörungen ist, so Speck (…), durch die „Wechselwirkungen von Motivations- und Leistungsschwierigkeiten“ erschwert, was eine pädagogisch-therapeutische Anpassung an ihre speziellen Erziehungsbedürfnisse im Rahmen einer erziehungsorientierten Didaktik bedingt. Folgende Aspekte sind von Bedeutung: überschaubare Gestaltung des Gesamtgeschehens, um sicheres eigenes Tun zu ermöglichen Einsatz von Rückmeldesystemen zu Entwicklungen und Fortschritten Strukturierung des Unterrichts nach Analyse der Lerngeschichte und Bedürfnisse des Schülers (Differenzierung, Individualisierung) Fächerübergreifender Unterricht in Projekten (gemeinsame Planung und Umsetzung) Aktivierung der Schüler als Handelnde (Werkstattunterricht) Beachtung der emotionalen Valenz des Unterrichtsstoffes Leistungssicherung: Schüler brauchen Erfolgserlebnisse Unter Beachtung dieser Grundsätze bildet projektbezogenes Lernen mit sozialpädagogischer Begleitung in vielen Praxisprojekten ein sehr persönliches Lernfeld mit überschaubaren und berechenbaren Beziehungen aller Beteiligten. Dabei werden Fächergrenzen überschritten und strukturierte Phasen und klare Regeln ordnen den täglichen Verlauf. Die methodisch-didaktische Ausrichtung des Projekts auf einen lebensweltorientierten Unterricht, in dem sich Lernen u.a. durch Handeln in Projekten vollzieht, erweist sich als aussichtsreich und wird im Entwicklungsprozess fortwährend untermauert und ausgeweitet. Dadurch ist die Individualisierung des Lernstoffs gegeben und der Schüler kann ohne Überforderung dort pädagogisch abgeholt werden, wo er steht. Die Bewertung der Leistungsfortschritte erfolgt nach der individuellen Bezugsnorm und in schriftlichen Berichten. Auch wenn die Probleme, Interessen und Neigungen der Schüler häufig Ausgangspunkte für Lernprozesse sind, orientiert sich der Unterricht an den Rahmenplänen der jeweiligen Schulart. Die Schüler öffnen sich unter den Bedingungen des alternativen Schulangebots nicht nur neuen Entwicklungs- und Bildungsoptionen, sondern erlauben wieder erzieherischen Kontakt und Einfluss. Die Bedeutung dieser Feststellung ist nicht hoch genug einzuschätzen. Evaluationen in diesem Feld zeugen überdies von erfolgreicher pädagogischer Arbeit hinsichtlich des Ziels regelmäßigen Schulbesuchs, der Gestaltung des Übergangs zwischen Schule und Beruf wie auch (mit Einschränkungen) der Erlangung von Abschlüssen (Heckner …). Es gelingt den Einrichtungen weitgehend schuldistanzierte Schüler zu unterrichten und pädagogisch zu fördern, somit die Erfüllung der Schulpflicht durchzusetzen und Lerndefizite abzubauen. Diese Erfolge beruhen den Evaluationen zufolge im Wesentlichen auf Qualitätsmerkmalen, die üblicherweise in Schulen kaum zu finden sind: Eine grundlegende Haltung der Pädagogen den Schülern gegenüber, die folgendermaßen akzentuiert werden kann: Jedes Kind ist wichtig, alle finden in der Einrichtung eine Heimat, keiner darf verloren gehen. Bei akuten, mitunter auch strukturellen Problemlagen werden konkrete Hilfe zur individuellen Konfliktbewältigung und zur weiteren Lebensgestaltung geboten. Optionen individualisierter, auch ganzheitlicher Förderung, die den schulischen Leistungsaspekt berücksichtigt, jedoch nicht vorrangig behandelt Wertvolle und beständige Bindungen und Bezugssysteme zwischen Jugendlichen und Pädagogen im Rahmen einer überschaubaren Gruppensituation („familienähnliche Situation“) als Basis jeglicher positiver Entwicklung … Ein als angenehm und attraktiv erlebter Lern- und Handlungsraum, den Schülerinnen und Schüler häufig mitgestaltet haben, in dem sie sich wohlfühlen, den sie annehmen können und mit dem sie sich identifizieren. Die Unterrichtsgestaltung bzw. die Lernform orientiert sich hinsichtlich der Inhalte und Vermittlungsformen stark an den Bedürfnissen und Interessen der Schülerinnen und Schüler. Problem- und Entwicklungsfelder Rückführung Das häufig zu Beginn der Projektphase angestrebte Ziel der Rückführung der Jugendlichen in die Allgemeine Schule bzw. Förderschule wird hingegen oftmals nicht erreicht, was mit dem oft hohen Eintrittsalter der Teilnehmer und ihren ungünstigen Voraussetzungen (z.B. umfassender Förderbedarf in den Bereichen emotionale/soziale Entwicklung und Lernen) begründet wird. Angesichts eines mittleren Aufnahmealters von 12 – 14 Jahren zeigen die Erfahrungen, dass in der verbleibenden Schulzeit eine Rückführung in eine Allgemeine Schule oder Förderschule häufig nicht umsetzbar ist oder nicht sinnvoll erscheint. Die Aussagen der Schüler zeigen zudem oftmals starken Widerstand gegen eine Rückkehr in die vormalige Schule oder auch in eine andere Schule. Realistischer ist unter diesen Bedingungen nach Aussagen der Mitarbeiter ihr gezieltes Einbinden in Lehrgängen der beruflichen Bildung. Problemverschärfende Begleiteinflüsse Wie an Einzelfallanalysen deutlich erkennbar ist, werden im Falle von Drogenabhängigkeit und schwerer Delinquenz (z.T. mit noch ausstehenden Haftfolgen) Risiko- und Belastungsmomente in die Projekte getragen, die eine positive Zielentwicklung erheblich einschränken können. … Es hat sich gezeigt, dass ungünstige Entwicklungen dann eintraten, wenn der pädagogische Focus schwächer und gleichzeitig Fehlentwicklungen durch Cliquen, Freunde oder Bekannte bekräftigt wurden und Auftrieb erfuhren. … Auch hier haben die Erfahrungen erwiesen, dass unter den gegebenen Bedingungen einige drastische Negativentwicklungen nur dann abwendbar gewesen wären, wenn ein vollständiger oder zumindest weitgehender Bruch mit Teilen des existierenden sozialen Umfeldes vonstatten gegangen wäre. Da von den Mitarbeitern nicht ohne weiteres erwartet werden kann, Maßnahmen des Entzugs von Drogen oder spezifische Anti-Delinquenz-Trainings durchzuführen, sollte schon bei der Aufnahme eines Teilnehmers darauf geachtet werden, ob Abhängigkeitsstrukturen existieren und ob ein potenzieller Teilnehmer eine realistische Aussicht hat vom Angebot des jeweiligen Projekts zu profitieren. Gestaltung des Settings Allein die Gestaltung eines freundlichen, sozialtherapeutischen Milieus reicht nicht aus, um Jugendlichen mit schweren Verhaltensstörungen nachhaltig erzieherisch zu beeinflussen und ihre Verselbständigung zu fördern. Wie in der zukünftigen Arbeitswelt haben sich die Schüler mit Regelstrukturen und Konsequenzen zu arrangieren. … Die einseitige Ausrichtung auf die speziellen Bedürfnisse der Schüler führt langfristig zu einer Überbetonung der Schutzraumfunktion des Lehrgangs und präjudiziert das Scheitern der Jugendlichen nach dem Verlassen der Station, wenn sie den Ansprüchen der aufnehmenden Einrichtungen nicht genügen können. Die abrupte und ungefederte Konfrontation der Jugendlichen andererseits mit den sozial gegebenen Norm- und Regelstrukturen hätte mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ebenso Versagen zur Folge, da dieses die Bedingungen sind, an denen sie in der sozialen und ökonomischen Wirklichkeit bereits kapituliert haben. Aus Sicht der Evaluation zeigen die Pädagogen in den Projekten vielfach in diesem Bereich pädagogisches Fingerspitzengefühl und richten den Schwerpunkt auf den Prozess. Teamkooperation In Praxisprojekten mit fachübergreifender Aufgabenstellung sind üblicherweise Mitarbeiter unterschiedlicher Profession zu einem Team zusammengefasst. Zumeist kooperieren Sozialpädagogen, Sonderschullehrer und Lehrer anderer Schulformen, mitunter auch Therapeuten und Erzieher. Um effektiv tätig zu werden, ist Ziel der Mitarbeiter, eine gleichberechtigte Zusammenarbeit unter Wahrung berufsspezifischer Rollen und Aufgabenbereiche zu realisieren. Dabei ist es aus praktischen Erwägungen einerseits bedeutsam, einen limitierten Überschneidungsbereich der Aufgaben zu akzeptieren (Lehrer vermittelt auch soziales Training oder Sozialpädagoge übernimmt temporär Unterricht) und aus der Notwendigkeit gegenseitiger Akzeptanz andererseits ausbildungsbedingte, polarisierende Auffassungen von Menschenbildannahmen, vorrangigen Zielen, Paradigmen und Begriffen zu überwinden. Evaluation … Es wird für die Zukunft von erheblicher Bedeutung werden, dass der Arbeit in Praxisprojekten definierte und akzeptierte Qualitätsstandards zugrunde liegen, diese konzeptionell schlüssig verankert sind und in der pädagogischen Praxis realisiert werden. Nur in der Form der begründeten Bewertung von Handlungsalternativen kann das Risiko unerwünschter Konsequenzen so klein wie möglich gehalten werden (…). Es ist zu empfehlen, innerhalb einer wissenschaftlichen Begleitung, einerseits summativ zu untersuchen, ob das alternative pädagogische Konzept den Zielsetzungen genügt, welche signifikanten Veränderungen bei den Jugendlichen erreicht werden und andererseits innerhalb einer formativen und supervidierenden Rolle eine fachliche Beratung und Begleitung zu sichern. Ausblick Das sonder- und sozialpädagogische Leitziel der Praxisprojekte besteht in der schulischen und sozialen Integration von Kindern und Jugendlichen mit schulaversiven Verhaltensformen. Sie intendiert insbesondere mittels einer rehabilitativen Strategie, der fortschreitenden schulischen und sozialen Ausgliederung von Schülern entgegenzuwirken und ihren regelmäßigen Schulbesuch zu ermöglichen. Hinsichtlich der Zielerreichung ergibt sich ein differenziertes und insgesamt positives Bild. Es gelingt den Praxisprojekten oftmals und weitgehend Schüler und Schülerinnen, die bereits mit großer Distanz der Schule entkoppelt waren, zu unterrichten und pädagogisch zu fördern, somit die Erfüllung der Schulpflicht durchzusetzen und deren Lerndefizite abzubauen. Zentrales Mittel bestand in der Schaffung wertvoller und beständiger Bindungen und Bezugssysteme zwischen Jugendlichen und Pädagogen als Basis jeglicher positiver Entwicklung, aber auch als Hilfe zur individuellen Konfliktbewältigung etc. In diesem Feld der alltäglichen pädagogischen Auseinandersetzung, der Bildung nahezu „familiärer“ Gemeinschaft und der Focussierung auf jeden einzelnen Fall wurde und wird viel geleistet. Trotz der erkennbaren empirischen Bedeutung der Verweigererprojekte sollte ihre Legitimation auch normativ hinterfragt und reflektiert werden. Einerseits ist die Frage der Notwendigkeit dieser Einrichtungen nur in Abhängigkeit von den Integrationspotenzialen der allgemeinen Schulen zu beantworten. Andererseits ist normativ zu fragen: sollen für immer kleinere Gruppen spezielle, auch räumlich getrennte sonderpädagogische Angebote bereitgehalten werden? … Es besteht die Gefahr der sukzessiven Etablierung dieser Sondereinrichtungen als neue, i.d.R. auch räumlich getrennte Teile des Schulsystems – eine Entwicklung, die der sonderpädagogischen Leitidee der Integration im Sinne einer anzustrebenden Ziel-Mittel-Kongruenz zuwiderläuft. Daher besteht neben der Sicherung interventiver und rehabilitativer Maßnahmen ein konkreter Handlungsbedarf mit präventiver Ausrichtung innerhalb des Handlungsraums der Grundschule. … “
http://www.dji.de/schulmuedigkeit
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http://www.dji.de/schulmuedigkeit/Ricking.pdf
Quelle: Dr. Heinrich Ricking, Uni Oldenburg: ‚Die Förderung schulmüder Jugendlicher im Spannungsfeld von Schulreform und alternativen Beschulungseinrichtungen‘, Vortrag in Halle am 24.9.2004, Hrsg.: ‚Netzwerk Prävention von Schulmüdigkeit und Schulverweigerung‘,