ALG II REFORMIEREN: EIN ZIELGERICHTETES KOMBILOHNMODELL Der Vorsitzende des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Prof. Dr. Rürup hat dem BMWi die Expertise ‚Arbeitslosengeld II reformieren: Ein zielgerichtetes Kombilohnmodell‘ übergeben. In seinem 150seitigen Sondergutachten entwickelt der SVR kein neues Kombilohnmodell, sondern schlägt mehrere Elemente zu einer umfassenden Anpassung der bestehenden Hinzuverdienstmöglichkeiten im Rahmen der Grundsicherung vor. Der Sachverständigenrat legt Wert darauf, dass das Kombilohnmodell allein wirksam und finanzierbar sein wird, wenn die einzelnen Elemente zusammen umgesetzt werden. Er betont insbesondere auch, dass die Vermittlung und Aktivierung der Arbeitslosen Vorrang vor neuen Einzelmaßnahmen haben müsse. Auszüge aus der im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie erstellen Expertise: “ Kapitel 1 Arbeitslosengeld II reformieren. Ein zielgerichtetes Kombilohnmodell: … Die deutsche Wirtschaft befindet sich nach einer Schwächephase von mehr als vier Jahren in einem bemerkenswert starken Aufschwung. Der Funke der Exporterfolge ist endlich auf wichtige Bereiche der Binnennachfrage übergesprungen. Diese positive konjunkturelle Entwicklung schlägt sich allmählich auch auf dem Arbeitsmarkt nieder. Seit Februar 2006 steigt die saisonbereinigte Zahl der Erwerbstätigen, und mittlerweile scheint ebenfalls bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung endlich die lange erwartete Trendwende eingesetzt zu haben. Einhergehend mit dieser Belebung ist in den vergangenen Monaten die Zahl der registriert Arbeitslosen saisonbereinigt merklich zurückgegangen. Diese Entspannung auf dem Arbeitsmarkt beseitigt aber nicht den seit langem konstatierten arbeitsmarktpolitischen Handlungsbedarf. Der Aufbau der Arbeitslosigkeit in den vergangenen dreißig Jahren war verbunden mit steigenden Arbeitslosenquoten insbesondere bei den Geringqualifizierten sowie einer Zunahme der Langzeitarbeitslosigkeit. Selbst eine längere konjunkturelle Belebung wird an diesen beiden zentralen Problemgruppen des Arbeitsmarkts, die zusammen genommen fast zwei Drittel aller registriert Arbeitslosen ausmachen, weitgehend vorbei gehen. Denn die vom Steuer-Transfer-System ausgehenden Fehlanreize, die gerade für diese beiden Gruppen die Anspruchslöhne und die Arbeitskosten auf ein beschäftigungsfeindliches Niveau angehoben und so maßgeblich zur Verfestigung der Arbeitslosigkeit beigetragen haben, bleiben auch in einem konjunkturellen Aufschwung bestehen. Die gute gesamtwirtschaftliche Entwicklung sollte deshalb nicht als Schlüssel zur Lösung unserer Beschäftigungsprobleme angesehen, sondern als Chance genutzt werden, zielgerichtete Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungschancen dieser von der Arbeitslosigkeit besonders hart betroffenen Gruppen in einem günstigen wirtschaftlichen Umfeld auf den Weg zu bringen. Unternehmen stellen nur dann Arbeitskräfte ein, wenn die Arbeitskosten durch das Wertgrenzprodukt des Beschäftigten gedeckt werden. Geringqualifizierte haben aufgrund unzureichender berufsspezifischer oder allgemeiner Kenntnisse eine niedrige Produktivität und können daher auf dem ersten Arbeitsmarkt auch nur niedrige Erwerbseinkommen erzielen die Erfahrung zeigt, dass daran auch nachträgliche Qualifizierungsbemühungen nur begrenzt etwas ändern können. Langzeitarbeitslose zählen zwar mehrheitlich formal zu den Qualifizierten, aber häufig hat die anhaltende Arbeitslosigkeit zu Entwertung oder Verlust wichtiger Fertigkeiten und Kenntnisse geführt, so dass potentielle Arbeitgeber Langzeitarbeitslose ungeachtet der nachgewiesenen formalen Qualifikation ähnlich wie Geringqualifizierte einstufen. Daher dürfte für geringqualifizierte Arbeitslose und viele Langzeitarbeitslose der erzielbare Einstiegslohn auf dem ersten Arbeitsmarkt gleichermaßen niedrig sein, so dass vor allem Tätigkeiten im Niedriglohnbereich in Frage kommen. Eine Reihe von Untersuchungen zeigt, dass in Deutschland etwa ein Fünftel aller abhängig Beschäftigten im Niedriglohnbereich arbeiten. … Wirtschaftspolitisch muss es also darum gehen, die Attraktivität zur Arbeitsaufnahme und – durch eine Senkung der Arbeitskosten – die Anreize zur Schaffung neuer Stellen im Niedriglohnbereich zu erhöhen. Dies kann nicht zuletzt mithilfe von Kombilöhnen, das heißt staatlichen Lohnsubventionen, geschehen. In ihrer praktischen Ausgestaltung unterscheiden diese sich insbesondere in der bezuschussten Marktseite – Arbeitnehmer oder Arbeitgeber -, der Dauer der Förderung, der Zielgruppe oder dem Ausmaß der Integration in das übrige Steuer-Transfer-System. … Ein auf die Probleme des deutschen Arbeitsmarkts zugeschnittener Kombilohn muss diese beiden Ziele, die Stimulierung der Beschäftigung von Geringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen sowie eine Sicherung des Mindesteinkommens, miteinander vereinbaren. … Unseren Reformüberlegungen liegen daher die folgenden Kriterien und Leitgedanken zugrunde: – Erstens muss es um eine relevante Verbesserung der Beschäftigungschancen insbesondere der (arbeitslosen) Geringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen gehen. Ein Kombilohn sollte möglichst passgenau an diesen beiden Gruppen ansetzen. Daraus folgt, dass der Schwerpunkt der Förderung nicht bei den Arbeitgebern liegen sollte: … Darüber hinaus muss die Förderung unbefristet erfolgen, denn es ist davon auszugehen, dass viele der Geringqualifizierten auch bei einer Erwerbstätigkeit dauerhaft ergänzender staatlicher Transfers bedürfen. – Hilfebedürftige haben einen Anspruch auf Unterstützung seitens der Solidargemeinschaft. Bei Erwerbsfähigen sollte die Unterstützung der Gesellschaft jedoch subsidiär zu den eigenen Bemühungen um die Verringerung der Hilfebedürftigkeit sein, ein Gedanke, der im Übrigen auch ausdrücklich der Grundsicherung für Arbeitsuchende zugrunde liegt (§ 1 SGB II). … Zum anderen muss die Gesellschaft ihre Unterstützung nicht unkonditioniert gewähren, sondern kann von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Arbeit finden, auch eine Gegenleistung einfordern. – Das Arbeitslosengeld II bietet sich … als Ausgangspunkt für eine Reform geradezu an: Erstens zählen rund drei Viertel der arbeitslosen Geringqualifizierten und der Langzeitarbeitslosen zu seinen Empfängern, und die in diesem Rahmen vorgenommene Bedürftigkeitsprüfung wirkt einer Ausweitung des Kreises der Geförderten und Mitnahmeeffekten entgegen. Zweitens sind die Leistungen bereits voll in das Steuer-Transfer-System integriert. Drittens dient das Arbeitslosengeld II gleichermaßen der Mindesteinkommenssicherung wie – im Rahmen der Anrechnungsbedingungen – der Förderung der Erwerbstätigkeit. Ganz im Sinne dieses Kombilohnelements des Arbeitslosengelds II bezogen im Jahr 2005 etwa 900 000 Personen als „Aufstocker“ in Ergänzung ihres Arbeitseinkommens Leistungen nach dem SGB II. … – Angestrebt werden muss eine möglichst nachhaltige Integration auf dem ersten Arbeitsmarkt. Eine bloße Erhöhung der Erwerbsbeteiligung, die sich vor allem in Beschäftigungsverhältnissen mit nur marginalem Umfang niederschlägt, greift zu kurz. … – Die Reform sollte weitgehend kostenneutral … Kapitel II Geringqualifizierte und Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland: 1. Die Arbeitsmarktlage von Geringqualifizierten … Und obwohl der starke Anstieg der registrierten Arbeitslosigkeit im Jahr 2005 vor allem auf die Hartz IV-Reform und die damit einhergehenden Änderungen in der statistischen Erfassung der Arbeitslosigkeit zurückzuführen ist (JG 2005 Ziffern 179 f.), verdeutlicht allein die in jenem Jahr erreichte absolute Zahl von durchschnittlich 4,86 Millionen registrierten Arbeitslosen, die sich in eine Arbeitslosenquote von 11,7 vH übersetzte, die Schwere des Problems und den dringenden arbeitsmarktpolitischen Handlungsbedarf, der in dieser Allgemeinheit auch kaum bestritten wird. Von dieser Entwicklung sind die verschiedenen Gruppen der Erwerbsbevölkerung jedoch in sehr unterschiedlicher Weise betroffen. Vor allem bei Personen ohne berufliche Qualifikation ist der im Aggregat sehr auffällige stufenweise Anstieg der Arbeitslosigkeit zu erkennen, und so hat selbst in Westdeutschland in dieser Gruppe die Arbeitslosenquote ein deutlich höheres Niveau von über 20 vH erreicht, als es beispielsweise bei beruflich gut Ausgebildeten oder Hochqualifizierten zu beobachten ist. … Angesichts dieses Befundes haben Maßnahmen zur Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie insbesondere für diese beiden Problemgruppen Lösungsansätze bieten …. Voraussetzung dafür ist wiederum ein möglichst genaues Verständnis der Arbeitsmarktprobleme von Geringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen und deren Ursachen. … Als geringqualifiziert gelten dabei Personen, die nicht über eine abgeschlossene Berufsausbildung oder das Abitur verfügen. Da für die 69 Optionskommunen, das heißt die Kommunen, die die Betreuung der Bezieher von Arbeitslosengeld II gänzlich in eigener Regie übernommen haben, keine entsprechend aufgegliederten Ergebnisse hinreichender Qualität vorliegen, stützen sich die Angaben, so weit nicht anders angegeben, nicht auf die Gesamtheit aller 439 Kreise, sondern lediglich auf 370 Kreise, die mit Blick auf die Zusammensetzung der Arbeitslosen aber gleichwohl repräsentativ für das gesamte Bundesgebiet sein dürften. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass, anders als bisweilen in der öffentlichen Diskussion zu beobachten, die beiden Gruppen, die zusammen über 60 vH aller Arbeitslosen ausmachen, alles andere als deckungsgleich sind: Unter den Langzeitarbeitslosen findet sich eine ganze Reihe von Personen mit mindestens einer abgeschlossenen Berufsausbildung, und umgekehrt sind viele ge ringqualifizierte Arbeitslose weniger als ein Jahr arbeitslos. Es ist sogar so, dass sich die Verteilung der Arbeitslosigkeitsdauer bei den Geringqualifizierten kaum von der aller Arbeitslosen unterscheidet. Und am größten ist der Anteil der Geringqualifizierten nicht bei den Langzeitarbeitslosen, sondern in der Gruppe der Arbeitslosen mit einer Dauer von einem halben bis zu einem ganzen Jahr. Im Ergebnis sind daher nur 14,5 vH aller Arbeitslosen zugleich ohne Ausbildung und langzeitarbeitslos… Von den 4,86 Millionen Personen, die im Durchschnitt des Jahres 2005 als arbeitslos registriert waren, fielen etwa drei Fünftel in den Rechtskreis des Zweiten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB II)… In der Summe sind rund drei Viertel aller (arbeitslosen) Bezieher von Arbeitslosengeld II ohne Ausbildung oder langzeitarbeitslos, und ebenfalls etwa drei Viertel aller registriert arbeitslosen Geringqualifizierten oder Langzeitarbeitslosen unterliegen dem SGB II. Insgesamt entsprechen die registriert arbeitslosen Geringqualifizierten oder Langzeitarbeitslosen im Rechtskreis des SGB II nahezu der Hälfte aller registrierten Arbeitslosen. Für eine Strategie zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, in deren Mittelpunkt diese beiden Problemgruppen stehen, bieten sich die Empfänger von Arbeitslosengeld II als geeignete Abgrenzung an. … für viele geringqualifizierte Arbeitslose und Langzeitarbeitslose zumindest der Einstiegslohn auf dem ersten Arbeitsmarkt vermutlich gleichermaßen niedrig sein dürfte und insofern ähnliche Tätigkeitsbereiche im Niedriglohnbereich in Frage kommen. … … Mit dem Niedriglohnbereich steht dabei die Höhe des Arbeitsentgelts, welches in einem Beschäftigungsverhältnis gezahlt wird, im Mittelpunkt, und nicht das für Verteilungsfragen wichtige Problem niedriger Gesamteinkommen einer Person oder eines Haushalts. Im Allgemeinen wird die Niedriglohnschwelle anhand eines Lageparameters der Lohn- oder Einkommensverteilung definiert, meist ein bestimmter Prozentsatz des jeweiligen Medianeinkommens. … Kapitel V Mehr Beschäftigung für Gerinqualifizierte und Langzeitarbeitslose – ein Maßnahmenpaket: … Die Umsetzung dieser Module allein wird die Misere auf dem deutschen Arbeitsmarkt sicher nicht beenden, kann aber einen relevanten Beitrag zur Verringerung der Arbeitslosigkeit gerade unter den Geringqualifizierten leisten. … Somit können die von uns vorgeschlagenen Maßnahmen ein wirksamer Baustein in einem umfassenderen Reformprogramm zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sein, wie wir es im Jahresgutachten 2005/06 in dem Kapitel „Wege zu mehr Beschäftigung“ aufgezeigt haben, und zu dem – gerade auch mit Blick auf die beiden genannten Problemgruppen – Änderungen beim Kündigungsschutz und im Tarifvertragsrecht gehören. Die grundlegenden Merkmale des hier entwickelten Vorschlags sind: – Durch eine Geringfügigkeitsschwelle bei den Hinzuverdienstmöglichkeiten als erstes Modul wird die Förderung auf solche Beschäftigungsverhältnisse konzentriert, die eine nachhaltigere Integration in den ersten Arbeitsmarkt und bessere Aufstiegschancen erwarten lassen, als dies insbesondere die bisher von Empfängern von Arbeitslosengeld II vergleichsweise häufig ausgeübten Minijobs tun. … – Als Kernstück des Maßnahmenpakets wird die Attraktivität von Beschäftigungsverhältnissen auf dem ersten Arbeitsmarkt relativ zur Nichterwerbstätigkeit oder dem zweiten Arbeitsmarkt spürbar erhöht, … Zu diesem Zweck werden im Arbeitslosengeld II der Regelsatz für Erwerbsfähige um 30 vH abgesenkt und gleichzeitig bessere Hinzuverdienstmöglichkeiten für am ersten Arbeitsmarkt erzielte Erwerbseinkommen geschaffen, indem für Bruttoeinkommen zwischen 200 Euro und 800 Euro die Transferentzugsrate von gegenwärtig 80 vH auf 50 vH sinkt. Flankierende Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem zweiten Arbeitsmarkt garantieren mittels des dafür gezahlten Aufstockungsbetrags die Wahrung des bisherigen Mindestsicherungsniveaus. – Diese arbeitsangebotsseitigen Maßnahmen werden von Seiten der Arbeitsnachfrage durch eine Senkung der Abgabenbelastung ergänzt, die auf sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse im Niedriglohnbereich zugeschnitten ist. Zu diesem Zweck werden mit einer Reform von Minijobs und Midijobs die Schwelle für Minijobs auf 200 Euro abgesenkt und die Gleitzone nach unten ausgedehnt. Im Folgenden werden die Details des Vorschlags erläutert. … Modul 1: Vorrang für reguläre Arbeitsplätze – Geringfügigkeitsschwelle beim Arbeitslosengeld II einziehen … Begünstigt werden sollten daher Tätigkeiten, die es erstens dem Leistungsempfänger erlauben, unter dem Schlagwort „Beschäftigungsfähigkeit“ subsumierte Eigenschaften – genannt werden in diesem Zusammenhang beispielsweise Pünktlichkeit, die Fähigkeit zur Teamarbeit oder ein gewisser Standard an sozialen Umfangsformen – zu erhalten oder wiederzuerlangen die zweitens die Möglichkeit zum Erwerb allgemeinen und firmenspezifischen Humankapitels bieten und die drittens, insbesondere im Falle eines Berufseinstiegs mit einer niedrig entlohnten Teilzeitarbeit, den Aufstieg in Form einer höheren Entlohnung oder einer längeren Arbeitszeit leicht machen, zumindest aber nicht erschweren. Es bestehen erhebliche Zweifel, ob bei Tätigkeiten, die nur an ein oder zwei Tagen die Woche oder nur wenige Stunden täglich ausgeübt werden und bei denen mit dem Übergang von geringfügiger in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung noch eine zusätzliche Hürde überschritten werden muss, diese Anforderungen erfüllt werden und somit der erwünschte Klebeeffekt auf dem ersten Arbeitsmarkt erzielt werden kann. … Der Sachverständigenrat schlägt daher als erstes Modul die Einführung einer Geringfügigkeitsschwelle beim Arbeitslosengeld II vor, die implizit die Förderung auf Arbeitsplätze mit einer gewissen Mindestarbeitszeit und folglich einem größeren erwartbaren Integrationserfolg konzentriert. Im Einzelnen bedeutet dies, dass Bruttoerwerbseinkommen bis einschließlich 200 Euro voll auf den Anspruch auf Arbeitslosengeld II angerechnet wird die Transferentzugsrate beträgt in diesem Bereich folglich 100 vH. Die durch die Vollanrechnung der ersten 200 Euro erzielten Einsparungen werden im Gegenzug dazu genutzt, die Transferentzugsrate für Erwerbseinkommensteile zwischen 200 Euro und 800 Euro zu senken und für Erwerbseinkommen oberhalb von 200 Euro eine Pauschale in Höhe von monatlich 40 Euro zur Abdeckung etwaiger Werbungskosten zu schaffen. … Die Geringfügigkeitsschwelle führt dazu, die Arbeitsangebotsentscheidung von Personen, die im Status quo nur wenige Stunden und damit typischerweise in einem Minijob arbeiten, zu akzentuieren: Mit der Einführung der Schwelle arbeiten diese entweder spürbar mehr, oder sie arbeiten überhaupt nicht mehr. Unsere Berechnungen bestätigen dabei die Vermutung, dass es per saldo nicht zu einem Rückgang, sondern sogar zu einer geringfügigen Ausweitung des Arbeitsvolumens kommt. … Statt des Schwellenwerts von 200 Euro wäre als alternative Ausgestaltung auch eine Mindestwochenarbeitszeit denkbar, wie sie im Vereinigten Königreich umgesetzt ist. Die Verwendung des Einkommensmaßes hat allerdings den Vorteil, dass sie leichter auf den Fall von selbständigen Leistungsbeziehern anwendbar ist, bei denen eine Ermittlung und Überprüfung der Arbeitszeit schwieriger ist, und nicht zu Arbeitsverträgen verleitet, in denen ein überhöhtes Stundenvolumen angesetzt wird, um in den Genuss der Förderung zu kommen. … Modul 2: Arbeit attraktiver machen – Transferentzugsrate und Regelsatz absenken … Das zentrale Element in unserem Maßnahmenbündel ist daher eine Absenkung des Regelsatzes für erwerbsfähige Angehörige einer Bedarfsgemeinschaft um 30 vH in Kombination mit einer spürbaren Absenkung der Transferentzugsrate und damit der Grenzbelastung, welcher Leistungsempfänger bei Aufnahme einer Beschäftigung unterliegen. … Die Absenkung des Regelsatzes hat zwei Wirkungen, die beide darauf abzielen, dass Arbeit sich mehr als bisher lohnt: Erstens kommt es unmittelbar zu einem negativen Einkommenseffekt, der schon für sich genommen die Attraktivität einer Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt erhöht, selbst wenn diese nur niedrig entlohnt ist. Zweitens wird so Spielraum geschaffen, die Transferentzugsrate spürbar zu senken und damit die Arbeitsanreize zusätzlich zu erhöhen, ohne die fiskalischen Kosten durch eine Ausweitung des Kreises der Anspruchsberechtigten in die Höhe zu treiben. … Mit der Absenkung des Regelsatzes um 30 vH kann der Satz, mit dem hinzuverdientes Erwerbseinkommen auf die Unterstützungsleistung angerechnet wird, deutlich reduziert werden. Dabei ist wiederum unterstellt, dass der Einkommensbereich, in dem ein Anspruch auf (aufstockendes) Arbeitslosengeld II besteht, nicht verändert wird. In Verbindung mit der im ersten Modul vorgestellten Geringfügigkeitsschwelle kann der mit der Regelsatzsenkung gewonnene finanzielle Spielraum auf die Förderung von Erwerbseinkommen im Intervall zwischen 200 Euro und 800 Euro konzentriert und dort die Transferentzugsrate deutlich von 80 vH auf 50 vH abgesenkt werden. … Die Wirkung der beiden Module ist komplementär: Die Absenkung des Regelsatzes verstärkt die mit der Geringfügigkeitsschwelle intendierte Konzentration der Förderung auf Einkommen oberhalb von 200 Euro, denn der mit der Kürzung der Regelleistung verbundene Einkommensentzug macht die alternative Entscheidung, nicht zu arbeiten, unattraktiver, so dass mehr Personen die Geringfügigkeitsschwelle überspringen. Umgekehrt erlaubt die Geringfügigkeitsschwelle im Einkommensbereich zwischen 200 und 800 Euro eine wesentlich stärkere Absenkung der Transferentzugsrate, als sie bei einer isolierten Absenkung des Regelsatzes möglich wäre. Der bei Beschäftigungsverhältnissen mit einem Bruttoeinkommen von mehr als 200 Euro gezahlte Bonus führt bei der Grenzbelastung zu einer Sprungstelle. Die durch die Kombination aus Regelsatzsenkung und Geringfügigkeitsschwelle möglich gewordene deutliche Reduktion der Grenzbelastung im Bereich von Einkommen zwischen 200 und 800 Euro hätte auch breiter verteilt werden können, um also die Transferentzugsrate jenseits von 800 Euro zu verringern und beispielsweise die Grenzbelastung von 100 vH im Auslaufbereich des Arbeitslosengelds II zu vermeiden. … Aus diesem Grund bedarf die Absenkung zwingend einer Flankierung durch Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem zweiten Arbeitsmarkt. … Modul 3: Abgabenbelastung gezielt reduzieren – Reform von Minijobs und Midijobs Die beiden bisher erläuterten Module, die Absenkung des Regelsatzes und die Geringfügigkeitsschwelle, konzentrieren sich auf das Arbeitsangebot. Damit es zu einer Zunahme der Beschäftigung kommt, muss aber auch die Arbeitsnachfrage steigen. Nicht zuletzt angesichts der empirisch ermittelten hohen Arbeitsnachfrageelastizität bei einfachen Tätigkeiten setzt dies wiederum voraus, dass die Arbeitnehmerentgelte insbesondere im Niedriglohnbereich sinken. Zu einem gewissen Rückgang der Arbeitskosten kommt es zwar bereits als Folge der Angebotsausweitung und des davon ausgehenden Drucks auf das Lohnniveau. Neben dieser die Arbeitskosten bereits senkenden und die Arbeitsnachfrage stimulierenden endogenen Lohnreaktion darf als weiterer wichtiger Faktor auch der Abgabenkeil, das heißt die Höhe der auf geringqualifizierter Arbeit lastenden Steuern und Sozialversicherungsbeiträge, nicht außer Acht gelassen werden. Der Sachverständigenrat schlägt daher zur Flankierung der beiden bereits erläuterten Maßnahmen als drittes Modul eine Reform von Minijobs und Midijobs vor, die sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse im Niedriglohnbereich gezielt entlastet und deren Attraktivität spürbar erhöht. … Entscheidend für die Bewertung der einzelnen Module und des Gesamtpakts sind die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die öffentlichen Haushalte. Diese haben wir in einem mikroökonometrischen Simulationsmodell des Arbeitsangebots ermittelt. In der längeren Frist, wenn die Maßnahmen ihre vollen Wirkungen entfaltet haben, kommt es zu den folgenden Arbeitsmarkteffekten. Es zeigt sich, dass die quantitativ mit Abstand bedeutsamsten Wirkungen von der Absenkung des Regelsatzes in Modul 2 ausgehen ? sowohl die Zahl der am ersten Arbeitsmarkt tätigen Personen als auch das Arbeitsvolumen nehmen deutlich zu, während die Geringfügigkeitsschwelle für sich genommen qualitativ ähnliche, im Umfang aber deutlich kleinere Wirkungen zeitigt. Bei Modul 3 wird, selbst unter Vernachlässigung der in diesem Fall wichtigeren Arbeitsnachfrageeffekte, der leichte Rückgang der auf dem ersten Arbeitsmarkt tätigen Personen durch eine Ausdehnung der Arbeitszeit kompensiert, so dass das Arbeitsvolumen nicht abnimmt. Alle diese Ergebnisse beziehen sich allerdings auf die Arbeitsangebotseffekte als Folge der geänderten Anreizstrukturen. … Bei der Berücksichtigung der für die Beschäftigungseffekte wichtigen Arbeitsnachfrage geht es letztlich darum, wie stark, angestoßen durch das höhere Arbeitsangebot, die Lohnsätze sinken müssen, damit die Arbeitsnachfrage in dem Ausmaß zunimmt, dass das zusätzliche Arbeitsangebot auf dem ersten Arbeitsmarkt unterkommt. … Da sich diese positiven Veränderungen aber erst mit der Zeit einstellen, wird in der Startphase der Bedarf an Arbeitsgelegenheiten für diejenigen steigen, die nicht sofort auf dem ersten Arbeitsmarkt einen Arbeitsplatz finden. Unsere Schätzungen zeigen, dass in der kurzen Frist ein Gesamtbedarf an Arbeitsgelegenheiten von etwas mehr als dem Doppelten des derzeitigen Bestands entsteht, mithin die Mehrheit der Leistungsempfänger trotz der Kürzung der Regelleistung den zweiten Arbeitsmarkt nicht in Anspruch nehmen wird. … Über eine bloße Veränderung der Hinzuverdienstmöglichkeiten oder eine Verringerung der Abgabenbelastung im Niedriglohnbereich, so wünschenswert diese für sich genommen sein mögen, lassen sich zu vertretbaren Kosten in den Problemgruppen keine relevanten Effekte erzielen. Es mag sein, dass der Politik die Kraft für eine derart weit reichende und gesellschaftlich kontroverse Maßnahme fehlt, wie in Modul 2 von uns vorgeschlagen. Sie sollte dann aber zumindest den Mut haben, auf eine wenig wirksame aber teure Ausweitung bisheriger Instrumente zu verzichten. … “
http://www.bmwi.de/BMWi/Navigation/Presse/pressemitteilungen,did=156430.html
Quelle: Pressemitteilung des BMWI