REFERENZSYSTEM FÜR KOMPETENZEN Seit dem Februar 2009 liegt der „Deutsche Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen“ als nationales Pendant des Europäischen Qualifikationsrahmens, der im April 2008 vom Europäischen Parlament verabschiedet worden ist, vor. Damit ist die Diskussion in Deutschland eröffnet und hat auch schon erste Stellungnahmen hervorgebracht. In diesem Zusammenhang steht auch die gemeinsame Tagung von DIE, JUGEND für Europa und Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit, die am 23. und 24. November 2009 in Berlin stattfand. Eine Dokumentation der Vorträge, Präsentationen und Arbeitsgruppenergebnisse ist aufgeführtem Link zu entnehmen. Zum aktuellen Stand des DQR, seinen Herausforderungen und notwendigen Anforderungen referierte Prof. Dieter Gnahs vom Deutschen Institut für Erwachsenenbildung. Er skizzierte die Ausgangslage, schätzte die aktuellen Entwicklungen ein und benannte notwendige Handlungsschritte. Nachstehend der verschriftlichte Vortrag: Dieter Gnahs – DER AKTUELLE STAND DES DQR „AUSGANGSPUNKTE Um die dargelegten Einschätzungen und Herausforderungen zu fundieren, sollen im Folgenden einige Ausgangspunkte geklärt werden. Damit werden Maßstäbe und Leitlinien gesetzt, an denen die vorgelegte Fassung des DQR gemessen und der Handlungsbedarf verdeutlicht wird. Sowohl der EQR als auch der DQR fühlen sich dem Konzept des lebenslangen Lernens verbunden, was nicht zuletzt auch durch die Überschriften zum Ausdruck gebracht wird. Mit dieser welt- und besonders auch europaweit anschlussfähigen Formel sind Neubewertungen und Akzentverschiebungen mit Blick auf die bisherige Bildungspraxis verbunden. So wird zum Beispiel die Bedeutung von formalisierten Bildungslaufbahnen relativiert, indem verstärkt die tatsächlich abrufbaren Kenntnisse und Fähigkeiten in den Mittelpunkt gerückt werden. Die durch den erfolgreichen Abschluss von Bildungsgängen erworbenen (Qualifikations-)Nachweise in Form von Zeugnissen, Diplomen, Gesellenbriefen etc. treten in Konkurrenz zu den verfügbaren Kompetenzen, die auf vielfältige Weisen, also auch über informelle und non-formale Lernvorgänge, erworben sein können. Kompetenz wird über eine Definition fixiert, die eine vergleichsweise große Verbreitung und Akzeptanz gefunden hat und zudem viele der genannten Aspekte integriert. Sie ist in einem Kreis internationaler Wissenschaftler generiert worden und ist zum Beispiel leitend bei den großen internationalen Kompetenzerhebungen. In dem OECD-Projekt DeSeCo (Defining and Selecting Key Competencies) werden Kompetenzen folgendermaßen definiert: Eine Kompetenz ist die Fähigkeit zur erfolgreichen Bewältigung komplexer Anforderungen in spezifischen Situationen. Kompetentes Handeln schließt den Einsatz von Wissen, von kognitiven und praktischen Fähigkeiten genauso ein wie soziale und Verhaltenskomponenten (Haltungen, Gefühle, Werte und Motivationen). Eine Kompetenz ist also zum Beispiel nicht reduzierbar auf ihre kognitive Dimension, sie beinhaltet mehr als das. Kompetenz bezeichnet also ein Potential: Jedes Individuum besitzt spezifische Kenntnisse, Fertigkeiten, Werte und Haltungen sowie Dispositionen und Motivationen, die im Bedarfsfall eingesetzt werden können. Dieses Potential ändert sich im Zeitablauf, ist abhängig von körperlichen und genetischen Rahmenbedingungen, variiert in Abhängigkeit von biographischen Erfahrungen. Auf eine je spezifische Situation mit ihren Anforderungen und Rahmenbedingungen reagiert das Individuum mit Handeln und zeigt damit, in welcher Weise das vorhandene Potential zum Tragen kommt. Das Handeln bzw. die Leistung sind Indikatoren für das Kompetenzpotential. Im Gegensatz zu Kompetenzen werden unter Qualifikationen definierte Bündel von Wissensbeständen und Fähigkeiten, die in organisierten Qualifizierungs- bzw. Bildungsprozessen vermittelt werden, verstanden. Der Erfolg dieser Vermittlungsbemühungen wird gewöhnlich durch Prüfungen evaluiert und testiert. Im Besonderen im Bereich beruflicher Qualifizierungsprozesse sind die Inhalte so konzipiert, dass eine berufliche bzw. praktische Verwertbarkeit gegeben ist. Konzeptionell wird angestrebt, die Absolventen zu kompetentem Handeln zu befähigen (z.B. durch Praktika, Rollenspiele, Projekte), mit anderen Worten: ein Kompetenzpotential anzulegen. Zentral bleibt aber, dass die Prüfungen nicht den erfolgreichen Transfer des Gelernten, sondern nur das aktuelle Vorhandensein prüfungsrelevanter Kenntnisse und Fähigkeiten nachweisen. Es handelt sich, zugespitzt formuliert, um Zuschreibungen durch die Prüfenden. Der Europäische Qualifikationsrahmen ist eine politische Anstrengung, um europaweit Transparenz über die Abschlüsse und Qualifizierungswege herzustellen. Damit soll mehr Mobilität und Durchlässigkeit erreicht werden, die letztlich dazu beitragen sollen, dass die Europäische Union zusammenwächst. Dieses eher traditionelle Ziel erhält zusätzliche Schubkraft und Brisanz durch die Kompetenzbasierung bzw. Outcomeorientierung: Eingeschlossen werden nämlich nicht nur die formale Bildung, also das Regelsystem, sondern ausdrücklich auch die non-formale Bildung (organisiertes Lernen außerhalb des Regelsystems) und das informelle Lernen (intentionale Lernvorgänge ohne institutionelle Einbindung). Diese große Reichweite des EQR wird nochmals unterstrichen durch die Benennung von drei Verwendungsbereichen: privates Leben, gesellschaftliches und politisches Leben sowie Erwerbstätigkeit. EINSCHÄTZUNGEN Die Diskussionsfassung des DQR weist eine Reihe von Schwachstellen auf und wirft darüber hinaus weitere Fragen auf. Es ist davon auszugehen, dass die aktuelle Version noch verbessert und ergänzt werden muss. An erster Stelle sind begriffliche Unschärfen zu nennen. Exemplarisch soll mit den folgenden Fragen auf dieses Manko hingewiesen werden: • Was ist mit der Definition „Fachtheoretisches Wissen bezeichnet theoretisch vertieftes Fachwissen“ aus dem DQR-Glossar gewonnen? • Warum wird nur die Methodenkompetenz als Querschnittskompetenz verstanden und nicht auch die Sozial- und die Selbstkompetenz? • Warum wird die praktisch und wissenschaftlich bewährte Unterscheidung von Fach- und Schlüsselkompetenzen nicht übernommen? • Warum wird der Begriff der „Fertigkeit“ nicht auf manuell-körperliches Geschick begrenzt und nicht in eine problematische Allianz mit dem Adjektiv „kognitiv“ getrieben („kognitive Fertigkeiten“)? • Was unterscheidet kognitive Fertigkeiten von Methodenkompetenz? Dieses Fragespiel ließe sich fast beliebig fortsetzen. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die Begriffsverwendung des DQR inkonsistent ist und weit hinter den wissenschaftlichen Erkenntnisstand zurückfällt. Die Deskriptoren des DQR sollen dabei helfen, unterschiedliche Qualifikations- bzw. Kompetenzniveaus zu identifizieren. Dies gelingt nur sehr begrenzt, weil die Äquivalenzmaßstäbe nicht mitgeliefert werden. So bleibt erst einmal im Dunkeln, was ein breites Spektrum kognitiver und praktischer Fertigkeiten (Stufe 4) von einem sehr breiten Spektrum (Stufe 5) unterscheidet. Mit der vorliegenden Skalierung lassen sich zwar Abschlüsse aus dem Regelsystem halbwegs verlässlich zuordnen, aber nicht Kompetenzbündel außerhalb dieses Bereichs: Wo beispielsweise ist der Bundesligaprofi ohne Schulabschluss und wo die die erfolgreiche Sängerin einzustufen? Wenn Spitzenleistungen in Stufe 8 gehörten, dann müssten sie konsequenterweise auf der gleichen Stufe wie der promovierte Jurist oder Arzt stehen. Für den DQR ist das formale System alleinige Leitlinie, das Hochschul- und das Berufsbildungssystem prägen mit ihren Abschlüssen die Stufung. Andere Leistungsbereiche unserer Gesellschaft, wie schon die Beispiele aus Sport und Kunst gezeigt haben, bleiben unberücksichtigt. Doch auch die Stufung ist in sich anfechtbar, weil das zugrunde gelegte Ranking auf Macht, auf Tradition und auf Konvention beruht, nicht auf einem gezielten Leistungsvergleich. Warum ist eigentlich ein Bachelorabschluss höherwertig als die mittlere Qualifikation „Bankfachwirt“? Warum wird der Abschluss der Tankwartausbildung auf die gleiche Stufe gestellt wie der Abschluss als Energieanlagenelektroniker? Analog zur Prägung der Stufung durch Hochschul- und Berufsbildungslogik sind die Deskriptoren am Beschäftigungssystem ausgerichtet. So heißt es z.B. in Stufe 7 bei „Wissen“ „um umfassendes, detailliertes und spezialisiertes Wissen auf dem neuesten Erkenntnisstand in einem wissenschaftlichen Fach oder über umfassendes berufliches Wissen in einem strategieorientierten beruflichen Tätigkeitsfeld verfügen“. Andere inhaltliche Referenzen werden nicht geliefert. Die auf der bildungspolitischen Agenda stehende Förderung von Bildungsbenachteiligten findet im DQR keine Berücksichtigung. Die Anerkennung von Lebens- und Berufsleistungen außerhalb des genormten Qualifizierungssystems wird erst einmal nicht ermöglicht oder eröffnet, sie ist allerdings auch nicht ausgeschlossen. Die im formalen System Gescheiterten – aus welchen Gründen auch immer, institutionellen oder persönlichen – werden in der Beurteilungslogik genau dieses Systems erfasst. Bisher zementiert der DQR die Stellung der zentralen Akteure des formalen Systems. Leistungen dieses Systems sind der Maßstab, alle anderen Referenzen und Interessen müssen sich einbringen und begründen, warum sie auf welchem Niveau arbeiten. Die dabei zutage getretene Unlogik und Widersprüchlichkeit stößt allerdings auch Diskussionen an, die auf das formale System und seine Reformbedürftigkeit zurückwirken. HERAUSFORDERUNGEN Aus der genannten Problematik ergeben sich Handlungsbedarfe: Herausforderungen für Politik, Praxis und Wissenschaft. Der europäische Anstoß führt auch zu internen Fragen und Infragestellungen. So provoziert der EU-Ansatz einer zwischenstaatlichen Vergleichbarkeit sofort die Frage nach der innerdeutschen Vergleichbarkeit von Abschlüssen und Zugangsregelungen. So gibt es zwischen den Ländern unterschiedliche Regeln des Hochschulzugangs und unterschiedliche Schulabschlüsse. In gleicher Weise müssen sich die Kammern und die anderen Akteure des Berufsbildungssystems überlegen, ob die gegenwärtige Berufssystematik und die darin eingebaute systematische Stufung noch inhaltlich angemessen und für das Beschäftigungssystem akzeptabel sind. Zentral ist zum Beispiel die Frage, ob alle dualen Berufsabschlüsse äquivalent sind und welcher Reformbedarf sich daraus ergibt (Stichworte: Modularisierung, Stufung). Die Fragen nach der Vergleichbarkeit auf der nationalen und auf der europäischen Ebene lassen sich nur beantworten, wenn über einen Äquivalenzmaßstab nachgedacht wird. Welches ist die „gemeinsame Währung“, die Qualifikationen und Kompetenzen vergleichbar macht? Ist es die Länge des Ausbildungsweges („workload“), die Exklusivität der Leistung, die gesellschaftliche Wertschätzung? Auf der Suche nach dem bildungspolitischen Goldstandard wird es nicht nur um die sachlich bestmögliche Lösung gehen, sondern auch um Interessen und Machtfragen. Die Akteure, die etwas zu verlieren haben, werden ihre Basis verteidigen und nur über Kompensationsstrategien zum Einlenken zu bewegen sein. Diejenigen, die für sich oder andere Boden gewinnen wollen, werden sehr gute Argumente brauchen, um sich durchzusetzen gegen das Beharrungsvermögen des Etablierten. Vermutlich werden ökonomische Gründe (Fachkräftemangel, starker Wettbewerbsdruck, Notwendigkeit von Ehrenamtlichkeit) das Nachdenken über neue Strukturen und Wertmaßstäbe erzwingen. AUSBLICK Die notwendigen Schritte zu einem breiter aufgestellten und flexibleren DQR sind vorgezeichnet: • Es geht um die Formulierung eines Referenzsystems für Kompetenzen, das das formale System einbezieht, sich aber nicht in ihm erschöpft. Im Besonderen sind auch informell erworbene Kompetenzen zu berücksichtigen. • Es geht um eine Intensivierung der Qualitätsdiskussion im Bildungswesen, die Effizienz und Effektivität schonungslos überprüft und die vielfach gehandelten Wirkungsunterstellungen hinterfragt. • Es geht um den Aufbau eines Validierungssystems, welches vielfältige Chancen und Berechtigungen eröffnet, individuell erworbene Kompetenzen sichtbar zu machen, anzuerkennen und ggf. auch zu zertifizieren. Ein wichtiges Element dieses Validierungssystems ist Beratung in allen Formen. • Es geht um die Schaffung einer gemeinsamen gesellschaftlichen Wertebasis als Orientierungshilfe bei bildungspolitischen Entscheidungen. Hier bietet sich der etwas „aus der Mode gekommene“ Bildungsbegriff an, der in seinen humanen, demokratiebezogenen und aufklärerischen Wurzeln wegweisend für eine Neugestaltung des Bildungswesens sein kann. Vielleicht werden wir in zehn oder fünfzehn Jahren zurück blicken und die EQR/DQR-Diskussion als Kristallisationspunkt für viele bildungspolitische Innovationen entdecken. Vielleicht wird der DQR auch eine Episode bleiben, über die die Zeit hinweggegangen ist. Letztlich haben wir es selbst in der Hand, welches „vielleicht“ zum Tragen kommt.“ LITERATURHINWEISE ergänzend zum Vortrag von Prof. Gnahs: Arnold, R. (2001): Qualifikation. In: Arnold, R./Nolda, S./Nuissl, E. (Hrsg.), Wörterbuch Erwachsenenpädagogik. Bad Heilbrunn/Obb., S. 268-270. Arnold, R. 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http://www.jugendpolitikineuropa.de/dqr/dqrdoku/
Quelle: DIE Jugend für Europa Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit