Am 10.7.2014 trafen sich in Nürnberg über 120 Fachleute aus der Jugendsozialarbeit und der Arbeitsverwaltung aus ganz Bayern zu einem Fachtag. Seit über einem Jahr forschen zwei Institute im Auftrag der Landesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit mit finanzieller Unterstützung durch das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration zur Situation derjenigen jungen Menschen, die aus sozialen Systemen wie Arbeitsförderung, Grundsicherung oder Jugendhilfe sowie aus den Bildungs- und Erwerbssystemen ganz oder teilweise heraus gefallen sind bzw. sich diesen entziehen.
Mindestens 8.300 junge Leute in Bayern leben in einem “Dunkelfeld” der Gesellschaft, in dem sie von keiner Hilfeeinrichtung mehr erreicht werden, haben die Untersuchungen ergeben. Annes-Sophie Köhler vom Institut für Praxisforschung und Evaluation der Evangelischen Hochschule befragte Fachkräfte wie Sozialpädagogen, Streetworker, aber auch Polizisten und Gerichtshelfer. Sie schätzten, dass die Zahl der Betroffenen in Bayern durchaus auch bei 38.000 liegen könnte. Die Zahl der jungen Leute ohne Berufsausbildung nimmt auch in konjunkturell guten Zeiten nicht ab. Darauf verwies der Münchner Sozialwissenschaftler Dr. Florian Straus vom sozialwissenschaftlichen Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP). Jeder siebte junge Mensch in Deutschland würde immer noch ohne Berufsausbildung bleiben, sagte er bei einer Tagung der Landesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit (LAG JSA) am Donnerstag in Nürnberg.
Auszüge aus den zentrale Befunden der Studie Marginalisierte junge Menschen als Zielgruppe der Jugendsozialarbeit
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Es findet eine soziale Polarisierung zwischen der aufwärts mobilen Mittelschicht und den gesellschaft-lichen entkoppelten jungen Menschen statt. Die ursprüngliche Randgruppe von marginalisierten jun-gen Menschen mit komplexen Problemlagen wächst kontinuierlich und kann mit bestehenden Struk-turen und Konzepten der Jugendsozialarbeit nicht ausreichend erreicht werden. Sie sind daher nicht erreichbar, teil- und zeitweise sogar unsichtbar für bisherige Hilfestrukturen.
## Massive Defizite im persönlichen und familiären Bereich
Im persönlichen und familiären Bereich der betroffenen jungen Menschen liegen massive Defizite vor. Dazu gehören insbesondere lebenskritische Ereignisse und traumatische Erfahrungen, die zu Angst und Misstrauen gegenüber Bindungen und Beziehungen führen. Weiterhin sind es erzieherische Defizite der Eltern / Erziehungsberechtigten, hoch prekäre und instabile Familienverhältnisse, Abhängigkeiten von Suchtmitteln, psychische Belastungen und Erkrankungen im familiären/sozialen Umfeld und ein Mangel an zentralen Kompetenzen für die berufliche und soziale Integration (…). Diese multiplen Problem- und Lebenslagen sind ein zentraler Hinweis dafür, dass für diese jungen Menschen mehr als eine kurzzeitige Maßnahme zur beruflichen und sozialen Integration notwendig ist. (…)
## Beziehung als Resilienzfaktor und Zugangsweg
Im sozialen und familiären Umfeld der jungen Menschen gibt es wenige Vorbilder zur Orientierung und sich fortsetzende Beziehungsabbrüche. Eine stabile Beziehung zu einer wichtigen Bezugsperson wird jedoch als ein Resilienzfaktor für die prekären, instabilen Lebensbedingungen und/ oder traumatischen Erfahrungen und lebenskritischen Ereignisse wahrgenommen. Der Aufbau einer Beziehung auf einer personalen Ebene ist auch im Hilfesystem der zentrale Zugangs-weg zu dieser Zielgruppe. Prädiktoren für die Beziehungsarbeit sind Stabilität, Verlässlichkeit, Ver-trauen, Zeit, Authentizität und Freiwilligkeit. Dazu bedarf es einer kontinuierlichen Beziehungsarbeit durch langfristige Angebote und die Begleitung von Übergängen. Die Kette von Beziehungsabbrüchen darf sich nicht in den Hilfestrukturen fortsetzen. (…)
## Schule – eine Chance der Erreichbarkeit
Schule ist zunehmend mehr mit erzieherischen Aufgaben konfrontiert, weil die Familie ihre Erziehungs-funktion nicht ausreichend erfüllt oder erfüllen kann. Zugleich ist Schule der Lebensraum, wo die Ziel-gruppe noch erreicht werden kann. Daraus ergibt sich ein erhöhter Bedarf an präventiven Angeboten innerhalb der Schule, z.B. Jugendsozialarbeit an Schulen, individueller Begleitung und kooperativen Angeboten, z.B. die Berufseinstiegsbegleitung u.ä.
## Niedrigschwelligkeit – eine Brücke zurück in die Gesellschaft
Es bestätigt sich, dass Niedrigschwelligkeit ein zu verstärkendes Handlungsprinzip ist. Es stellt für diese Zielgruppe von jungen Menschen eine Brücke zurück in die soziale und berufliche Integration dar. Wei-ter zu konkretisierende Merkmale von Niedrigschwelligkeit sind 1. aufsuchende Ansätze, 2. mehr of-fene, wenig vorstrukturierte Räume und Angebote, 3. geringe bürokratische Hürden und Anschlusskri-terien, 4. Kostenfreiheit, 5. Freiwilligkeit und 6. die Niedrigschwelligkeit als Übergang zu einem schritt-weisen Heranführen an hochschwellige Angebote zu verstehen. Diese Angebote sollten in Verbindung mit stabilen und langfristigen Bezugspersonen gestaltet werden, z.B. durch eine Ausbildung innerhalb derselben Einrichtung und damit die Beibehaltung der grundsätzlichen Beziehungsstrukturen. (…) „
Die Untersuchung lässt auch die Jugendlichen selbst zu Wort kommen. Befragt wurden Jugendliche aus 102 Einrichtungen aus den Feldern Streetwork, offene und mobile Jugendarbeit, Jugendhilfe, Obdachlosenhilfe, Drogenhilfe, Allgemeiner Sozialer Dienst und sozialpädagogischen Familienhilfen sowie Jugendsozialarbeit an Schulen. Die Jugendlichen wurden befragt im Hinblick auf ihre Problemlagen, Lebenswelten und die Prozesse, die zu Ausgrenzung und Entkoppelung geführt haben.
Auszüge aus den Ergebnissen der Befragung Jugendlicher im Bereich ‚Schule, Ausbildung, Beruf‘
Ein Teil der jungen Menschen der Zielgruppe steht Schule sehr negativ gegenüber, sei es, weil sie sich langweilen bzw. möglicherweise unterfordert fühlen (45%), sich ungerecht behandelt fühlen (16%) oder ihre Sinnhaftigkeit für ihre eigene Zukunft nicht sehen (12%). (…) Die positiven Bewertungen, dass Schule notwendig, sinnvoll oder normal ist oder eine Struktur für den Tag gibt, werden jeweils häufiger von der Vergleichsgruppe angegeben, als von der Zielgruppe. Diese Ergebnisse geben Anzeichen für die Richtigkeit der Hypothese, dass die Zielgruppe Schule nicht als Institution für Zukunftsperspektiven wahrnimmt. Auch könnten diese Einstellungen auf ein damit zusammenhängendes Verhalten gegenüber der Schule schließen, (…) wie z.B. sozial abweichendes Verhalten, Passivität, Schulverweigerung und häufige Schulwechsel.
## Mehr als ein Drittel der jungen Menschen erfahren in schulischen Belangen wenig/ keine Unterstützung aus dem Elternhaus
60% der befragten Jugendlichen der Zielgruppe bestätigen, dass die Eltern mit ihnen über Schule und Noten sprechen. Dahingegen sind es 40% die diese Unterstützung im Elternhaus nicht erfahren. Dies deutet auf die ungünstigen Startbedingungen hin, die als eine Hauptursache für frühzeitige negative Auffälligkeiten in Schule, Ausbildung und Beruf gesehen werden. Es kann vermutet werden, dass das Interesse der Eltern an schulischen Belangen sich insgesamt auf die Motivation für
Schule und Arbeit auswirkt.
## Die Unterstützungshilfen des Übergangssystems werden als leicht zugänglich und passend wahrgenommen, während es sich als hohe Schwelle erweist, einen passenden Ausbildungsplatz zu finden
Nach der Schule leicht eine passende Maßnahme zur beruflichen Vorbereitung zu finden, wird von (…) 80% der bejaht. Das spricht dafür, dass die Angebote und Unterstützungshilfen des Übergangssystems offenbar von der Zielgruppe als leicht zugänglich und passend für ihre aktuelle Situation empfunden werden. (…) Von der Zielgruppe bejahen nur 16%, nach der Schule leicht eine passende Ausbildung zu finden. (…) Insbesondere der Übergang von der Schule in den Beruf und die damit verbundene zu suchende Ausbildung gestaltet sich für die Jugendlichen problematisch. Das kann an mangelnden oder unrealistischen Zukunftsvorstellungen liegen, an zu hohen Schwellen in
den beruflichen Einstieg und fehlendem Orientierungswissen in der Schule. (…)
## Über die Hälfte der Jugendlichen sorgen sich um ihren Arbeits-‐ und Ausbildungsplatz
51% der jungen Menschen der Zielgruppe machen sich Sorgen um ihren Arbeits-‐ und Ausbildungsplatz, während es in der Vergleichsgruppe nur 29% der Jugendlichen betrifft. Das Ergebnis (…) deutet darauf hin, dass die Zielgruppe mit einer hohen Unsicherheit innerhalb ihrer Arbeits-‐ oder Ausbildungsstelle lebt. Der Eintritt in den Arbeitsmarkt scheint eine weitere Hürde zu sein, die zum Bruch mit dem System führen kann, nicht nur mit dem Übergangssystem. „
Die Dokumentation der Fachtung mit ausführlicher Disussion der Studienergebnisse lag zum Redaktionsschluss noch nicht vor. Die „Jugendsozialarbeit News“ werden diese in einer ihrer nächsten Ausgaben veröffentlichen.
http://lagjsa-bayern.de/
Quelle: Landesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit Bayern