Prof. Dr. Matthias Knuth bringt die Kritik aus wissenschaftlicher Sicht im IAQ-Standpunkt nachvollziehbar vor. Kleine Änderungen, wie der Ausbau von Wohn- und Kindergeldleistungen würden bereits helfen den stigmatisierenden Hartz-IV-Bezug zu vermeiden.
Auszüge aus dem IAQ-Standpunkt „Zehn Jahre Grundsicherung für Arbeitsuchende“ von Matthias Knuth:
„… Das Konstrukt der „Bedarfsgemeinschaft“ führt dazu, erwerbstätige Personen, die durchaus ihren eigenen Unterhalt verdienen, als hilfebedürftig und durch Aktivierung „korrekturbedürftig“ zu konstruieren, wenn sie mit bedürftigen Personen zusammenleben und deren Bedarf nicht decken können. Das ist entwürdigend für die Betroffenen und lässt zudem die Zahl der Hilfebedürftigen statistisch größer erscheinen als nötig. Es trägt auch dazu bei, dass Alleinlebende im SGB II-Bezug allein bleiben – unter den SGB II-Leistungen Beziehenden ist der Anteil der Alleinlebenden oder Alleinerziehenden erheblich größer als in der Bevölkerung im Erwerbsalter insgesamt. …
Ein Teil des Unterstützungsbedarfs im System der „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ entsteht allein durch die Zahl der Kinder oder das Fehlen bezahlbaren Wohnraumes, hat also nichts mit unzureichender Erwerbsbeteiligung zu tun. Durch Ausbau von Wohn- und Kindergeldleistungen könnte der stigmatisierende „Hartz IV“-Leistungsbezug vermieden werden.
Da die „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ – „Hartz IV“ – sehr stark an die frühere Sozialhilfe anknüpft, mussten die traditionell für die Sozialhilfe zuständigen Kommunen – entgegen der ursprünglichen Absicht der damaligen Bundesregierung – an der Umsetzung von „Hartz IV“ beteiligt werden, weil anders keine Einigung zwischen Bund und Ländern zu erzielen war. Die Einbindung der Kommunen hat dazu geführt, dass die öffentlichen „Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ in zwei Ebenen aufgespalten wurden: Arbeitsagenturen und Jobcenter. Dadurch wird die Stigmatisierung der Bezieher/-innen von Grundsicherungsleistungen gegenüber den „versicherten“ Arbeitslosen noch einmal deutlich unterstrichen. Außerdem gibt es die Jobcenter in zwei Varianten: Gemeinsame Einrichtungen von Arbeitsagentur und Kommune und „zugelassene kommunale Träger“, die die Aufgaben in ausschließlich kommunaler Regie erledigen. Dieses komplexe System aus 404 rechtlich selbständigen Jobcentern unterschiedlicher Konstruktion (303 „Gemeinsame Einrichtungen“ und 101 „zugelassene kommunale Träger“ ist kaum adäquat steuerbar. Zudem nehmen die Bundesländer ihre Steuerungsverantwortung gegenüber den Kommunen nur unzureichend wahr. Nach zwei Runden vor dem Bundesverfassungsgericht, zwei Verfahren im parlamentarischen Vermittlungsausschuss und einer Grundgesetzänderung haben die Beteiligten verständlicher Weise kein Interesse daran, die Frage der Jobcenter-Trägerschaft erneut aufzuwerfen. Die Tatsache, dass die rein kommunalen Jobcenter ausweislich der gesetzlich vorgeschriebenen Kennzahlen im Durchschnitt weniger wirksam arbeiten als die „Gemeinsamen Einrichtungen“, wird sorgfältig tabuisiert, aber nicht bearbeitet. Dass es auch anders geht, zeigen einzelne kommunale Jobcenter mit herausragenden Ergebnissen.
Ein Teil der Bezieher/-innen von Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende hat Unterstützungsbedarfe, die weit über den Aufgabenbereich der klassischen Arbeitsförderung hinausgehen. Deshalb sieht das Gesetz neben den auf den Arbeitsmarkt gerichteten Eingliederungsleistungen auch „kommunale Eingliederungsleistungen“ vor. In welchem Umfange diese erbracht werden, ist nicht transparent. Es besteht Grund zu der Annahme, dass diese Leistungen in vielen Kommunen nicht entsprechend dem realen Bedarf der Leistungsberechtigten zeitnah zur Verfügung stehen.
Insgesamt sind die Schnittstellen zwischen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, auf die derzeit immerhin 6 Mio. Menschen angewiesen sind, und anderen Sozialleistungssystemen zu überprüfen und zu optimieren. Neben den Leistungen des Wohn- und Kindergeldes betrifft das die Erwerbsminderungsrente (bzw. die Grundsicherung bei Erwerbsminderung), die vorzeitige Altersrente mit Abschlägen (die kontroverse „Zwangsverrentung“ aus dem SGB II-Leistungsbezug), die Förderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz sowie das Verhältnis zum Präventionsauftrag der Krankenkassen.“
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) fordert einen sozialstaatlichen Umbau, um die Defizite des Hartz IV-Systems zu beheben.
Auszüge aus arbeitsmarktaktuell „Zehn Jahre Hartz IV: Ein Grund zum Feiern?“
„… Angesichts der Komplexität und Unübersichtlichkeit der jetzigen sozialstaatlichen Architektur, sollte an mehreren Stellen gleichzeitig mit dem Umbau begonnen werden. Ein sozialstaatlicher Umbau muss daher auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen.
## Das Zwei-Klassen-System mit vielfältigen Schnittstellen muss reduziert werden. … Jugendliche werden bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz vom Gesetz z. B. unterschiedlichen Systemen zugeordnet – in Abhängigkeit vom Einkommen der Eltern. Dies gilt ähnlich für die berufliche Rehabilitation behinderter Menschen, die durch die Trennung in unterschiedliche Rechtskreise äußerst unübersichtlich geworden ist. Sowohl die Ausbildungsvermittlung als auch die berufliche Reha sollten daher bei der Arbeitslosenversicherung zusammengefasst werden. Zugleich sollte die Zusammenarbeit unterschiedlicher Institutionen ausgebaut werden, wie dies jetzt mit den Jugendberufsagenturen geplant ist. …
## Die Arbeitsförderung muss ausgebaut werden. So sollte die Dominanz des „Forderns“ zugunsten des Förderns korrigiert und Rechte für die Betroffenen auf Förderung ausgebaut werden. Eine Verpflichtung zur möglichst nachhaltigen und existenzsichernden Integration ist notwendig und eine gesetzliche Gleichbehandlung muss sichergestellt werden, egal von welchem System man betreut wird. Existenzgefährdende Sanktionen müssen aufgehoben werden. Sozialstaatliche Zumutbarkeitsregelungen sind ebenso notwendig, die keine Sanktionen mehr bei nicht existenzsichernder Arbeit vorsehen.
## Insbesondere die Mittel für Weiterbildung müssen erhöht und finanzielle Anreize für Hartz-IV-Empfänger geschaffen werden, die einen Berufsabschluss anstreben. Bisher sind sie finanziell schlechter gestellt als jene, die einen Ein-Euro-Job ausüben.
## Die sozialen Integrationshilfen und das Ziel der sozialen Teilhabe müssen für jene ausgebaut werden, die auf absehbare Zeit keine Chance auf dem regulären Arbeitsmarkt haben. Dies sollte mit einer besseren Zusammenarbeit und Kooperation unterschiedlicher Institutionen – wie den Jobcentern und den Krankenkassen – verknüpft werden.
## Arbeitsförderung sollte eine „neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt“ unterstützen. Prekäre Beschäftigung muss zurückgedrängt und auch Langzeitarbeitslosen Mindestlöhne von 8,50 Euro gezahlt werden. Lohnkostenzuschüsse müssen daran geknüpft werden, dass keinesfalls schlechtere Löhne gezahlt werden. Um Armut von Erwerbstätigen mit Kindern wirksamer bekämpfen zu können, sollte ergänzend zum Mindestlohn der Kinderzuschlag sowie das Wohngeld für Geringverdiener ausgebaut werden. Notwendig sind zudem soziale Standards in der Arbeitswelt, die der Leiharbeit wie den Werkverträgen sozialstaatliche Grenzen setzen und Scheinselbständigkeit wirksam bekämpfen. …
Der DGB hält eine Debatte um eine neue soziale Grundausrichtung der Arbeitsförderung für notwendig, die der Spaltung der arbeitsmarktpolitischen Institutionen entgegenwirkt und den Blick auf den einheitlichen Arbeitsmarkt und die soziale Teilhabe schärft. Der Gefahr einer sich vertiefenden sozialen Ungleichheit muss wirksamer entgegengewirkt werden…. “
Quelle: Institut Arbeit und Qualifikation Universität Duisburg-Essen; DGB Bundesvorstand
Dokumente: 10_Jahre_Hartz_IV.pdf