Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat daher die Paritätische Forschungsstelle (Dr. Rudolf Martens) im Zusammenwirken mit Dr. Dietrich Engels vom Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik in Köln (ISG) um die Berechnung einer systematischen und typischen Beispielsammlung gebeten, die unterschiedliche Haushaltstypen sowie einfache Arbeiten in verschiedenen Wirtschaftszweigen in Ost- und Westdeutschland umfasst.
Es soll damit die Frage beantwortet werden, wie sich der Lohnabstand in Deutschland im Regelfall darstellt, und welche Rolle dabei die verschiedenen Einkommenskomponenten
Für die Lohnabstandsdiskussion sind Wohngeld, Kindergeld und Kinderzuschlag deshalb von besonderer Relevanz, da das Kindergeld bei Grundsicherungsbeziehern voll angerechnet wird und Wohngeld und Kinderzuschlag dieser Gruppe gar nicht zustehen. Es handelt sich somit um drei Leistungen, die ausschließlich bei den Erwerbstätigenhaushalten außerhalb des SGB II-Bezuges wirksam werden.
Auszüge aus der Expertise ‚Damit sich Arbeit lohnt‘:
“ Die Fallauswahl
In Rückgriff auf einschlägige Statistiken des Statistischen Bundesamtes wurden für die Berechnungen einfache Anlerntätigkeiten der so genannten Leistungsgruppen 4 und 5 herangezogen, d.h. Tätigkeiten, für deren Ausführung keine berufliche Ausbildung erforderlich ist. Während bei der Leistungsgruppe 4 zumindest Kenntnisse und Fertigkeiten für spezielle, branchengebundene Aufgaben vorhanden sein müssen, handelt es sich bei der Leistungsgruppe 5 um schematische Tätigkeiten oder isolierte Arbeitsvorgänge, die eine Anlernzeit von lediglich bis zu drei Monaten erfordern. Neben den einfachen Arbeiten im produzierenden Gewerbe, die traditionell zur Berechnung des Lohnabstandsgebotes herangezogen werden, wurden ganz bewusst auch Wirtschaftszweige ausgewählt, die derzeit besonders in der Diskussion sind und in denen noch deutlich schlechter bezahlt wird als im produzierenden Gewerbe.
Insgesamt umfassen die Beispiele:
Die Bruttostundenlöhne, um die es in den Beispielen geht, lagen zwischen 5,95 Euro (Wachmann, Leistungsgruppe 4,Ostdeutschland) und 14,07 Euro (produzierendes Gewerbe, Leistungsgruppe 4, Westdeutschland). Zugrunde gelegt wurden die jeweiligen Durchschnittsbruttoverdienste (3. Quartal 2009) plus Sonderzahlungen (Durchschnitt der Sonderzahlungen vom 4. Quartal 2008 bis 3. Quartal 2009) bei Vollzeittätigkeit, da ein Vergleich von Einkommen aus Teilzeittätigkeiten und Grundsicherungsleistungen nicht zielführend wäre.
Die Beispielrechnungen wurden jeweils für folgende typisch zu nennende Haushaltskonstellationen angestellt:
Bei sieben Wirtschaftszweigen mit je zwei Leistungsgruppen, unterschieden nach Ost- und Westdeutschland sowie sieben verschiedenen Haushaltstypen ergaben sich somit 196 Modellrechnungen. Der Vollständigkeit halber sind im Tabellenanhang zusätzlich auch die 98 Durchschnittsberechnungen für Gesamtdeutschland aufgeführt.
Auswertung der Beispielrechnungen
Ein erster, wenig überraschender Befund: In allen Fällen existiert ein positiver Abstand zwischen dem verfügbaren Einkommen des erwerbstätigen Haushaltes gegenüber dem erwerbslosen Haushalt. Dies ist letztlich auf die Systematik des SGB II und die Freibeträge auf Erwerbseinkommen selbst zurückzuführen. Danach bleiben bei Haushalten ohne Kinder bis zu 280 Euro des Erwerbseinkommens anrechnungsfrei. Lebt mindestens ein minderjähriges Kind im Haushalt, erhöht sich dieser Maximalbetrag auf 310 Euro.
Interessanterweise werden bei den Beispielrechnungen, in denen aufgestockt werden muss, diese Maximalbeträge in allen Fällen entweder vollständig oder zumindest annähernd erreicht. Der absolute Einkommensabstand bei den Aufstockern lag somit je nach Haushaltstyp zwischen 280 Euro und 310 Euro oder geringfügig darunter.
Die These, dass sich eine Arbeitsaufnahme bei einem Plus von 100 oder 200 Euro nicht lohne, trifft zumindest bei Vollzeittätigkeit in der Realität nicht zu, da die Differenzen selbst bei sehr schlecht bezahlten Tätigkeiten regelmäßig höher ausfallen. Hierbei gibt es jedoch bei den unterschiedlichen Haushaltstypen deutliche Unterschiede, was die Rolle der weiteren Sozialleistungen angeht.
Lohnabstand nach Haushaltstypen
Alleinlebende
Für die Alleinlebenden gilt: Bei insgesamt 28 Beispielrechnungen für Ost- und Westdeutschland gab es lediglich drei Fälle von Aufstockern, wobei es sich zudem um nur sehr kleine Beträge handelt. In allen anderen Fällen ist auch ohne eine solche Aufstockung ein Einkommensabstand zwischen 32 bis 56 Prozent gegeben. In Absolutbeträgen liegt dieser in der Regel zwischen 300 bis zu 900 Euro. Auch das Wohngeld spielt bei diesen Haushalten keine Rolle. Die Einkommensdifferenz ergibt sich allein aus dem Erwerbseinkommen.
Familien mit Kindern
– Alleinerziehende
Die Beispielrechnungen für Alleinerziehende ergaben nur in drei von 56 Fällen einen Anspruch auf ergänzende Leistungen nach dem SGB II. Vielmehr sorgen hier in der Regel das Kindergeld, das Wohngeld und der Kinderzuschlag dafür, dass ein deutlicher Abstand zum SGB II-Niveau besteht. Der Einkommensabstand lag dabei mehrheitlich zwischen 20 und 30 Prozent. In zehn Fällen lag er unter 300 Euro, in allen anderen Fällen streute er je nach Wirtschaftszweig und Tätigkeit zwischen 300 Euro bis zu fast 500 Euro. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass bei keiner der Beispielrechnungen von zusätzlich in den Haushalt einfließenden Unterhaltsleistungen ausgegangen wurde. In diesem Fall würde der Anspruch auf Kinderzuschlag in der Regel entfallen. Hier ergibt sich ein dringender Reformbedarf des Kinderzuschlags.
– Paarhaushalte mit Kindern
Etwas differenzierter stellt sich das Bild für Paar-Haushalte mit Kindern dar. Der Einkommensabstand lag für diese größeren Haushalten zwischen 12 und 24 %. Aufgrund der Größe der Haushalte stehen diesen relativ gering anmutenden Prozentzahlen dabei Absolutbeträge von bis zu über 600 Euro gegenüber.
Während die Beispielrechnungen belegen, dass der Kinderzuschlag im Zusammenspiel mit dem Wohngeld für Alleinerziehende durchgehend funktioniert, sofern keine Unterhaltsleistungen fließen, trifft dies nur bei etwa der Hälfte der Fallbeispiele von Ehepaaren mit Kindern zu. In Paarhaushalten, in denen das Erwerbseinkommen außerordentlich gering ist, wie bei Zeitarbeitern, Wachdiensten in Ostdeutschland oder auch bei einfachen Tätigkeiten im Landschaftsbau in Ostdeutschland, greift der Kinderzuschlag offensichtlich nicht. Dies ist ein eindeutiges Signal, dass der Kinderzuschlag seine Funktion nicht mehr zuverlässig erfüllt.
Es bietet sich an, die für Sozialleistungen ohnehin sehr untypische und in der Berechnung sehr komplizierte Mindesteinkommensgrenze ersatzlos zu streichen. In diesem Falle würden alle aufgeführten Beispielhaushalte mit Kindern den Kinderzuschlag erhalten und ein Einkommen oberhalb der SGB II-Schwelle erzielen. Ein Anspruch auf zusätzliche Leistungen nach dem SGB II wäre nicht mehr gegeben.
Anreizwirkung des Lohnabstandes nach Haushaltstypen
Alleinlebende
Unter den derzeit rund 4,5 Millionen erwerbsfähigen SGB II-Beziehern befinden sich rund 1,8 Millionen Singlehaushalte, das entspricht 42 Prozent. Für diese Gruppe ist auch finanziell ein Anreiz zur Aufnahme einer Vollerwerbstätigkeit selbst mit sehr niedrigem Erwerbseinkommen in jeder Hinsicht und ohne weitere Sozialleistungen gegeben.
Familien mit Kindern
– Alleinerziehende
Derzeit befinden sich 645.000 alleinerziehende Haushalte im SGB II-Bezug. Für weitere 14 Prozent der Hartz IV-Bezieher ist somit finanziell ein Anreiz zur Aufnahme selbst einer schlecht bezahlten Tätigkeit gegeben, ohne dass dabei Leistungen nach dem SGB II eine Rolle spielen würden.
– Paarhaushalte mit Kindern
Mit einer entsprechenden Novellierung des Kinderzuschlages könnte auch für die über eine Million Erwerbsfähigen in den Haushalten mit Kindern – weitere 25 Prozent aller Erwerbsfähigen SGB-II Bezieher – ein effizienter monetärer Anreiz zur Aufnahme auch schlecht bezahlter Tätigkeiten geschaffen werden, ohne dass diese Familien aufstocken müssten. Der jetzige Bestand an Aufstockern könnte darüber hinaus erheblich entlastet werden.
Fazit: Damit sich Arbeit lohnt.
Die … durchgeführten Beispielrechnungen zeigen, dass bei Vollzeiterwerbstätigkeit selbst bei außerordentlich gering entlohnten Tätigkeiten eine deutliche Differenz zwischen dem verfügbaren Einkommen erwerbstätiger Haushalte und nicht erwerbstätiger Haushalte gegeben ist. Behauptungen, die Differenz betrage in einzelnen Fällen nur 100 oder 200 Euro finden keinen empirischen Beleg.
2. Um diese Differenz jeweils zu gewährleisten, spielen bei den einzelnen Haushaltstypen neben dem Erwerbseinkommen das Kindergeld, das Wohngeld, der Kinderzuschlag und ergänzende Leistungen nach dem SGB II eine sehr unterschiedliche Rolle. Da Wohngeld und Kinderzuschlag nur Personen zustehen, die keine Leistungen nach dem SGB II erhalten und das Kindergeld voll auf die Leistung nach dem SGB II angerechnet wird, liegen hier für Haushalte mit Kindern ganz entscheidende Stellschrauben zur Vermeidung von Leistungsansprüchen nach dem SGB II. …
4. Hinsichtlich der Frage, ob sich die Aufnahme einer schlecht bezahlten Tätigkeit für einen Hartz IV-Bezieher überhaupt finanziell lohnt, kann zusammenfassend festgestellt werden: Für die allermeisten Singles im Hartz IV Bezug ist ein effizienter Einkommensabstand selbst ohne Aufstockung gegeben. Dies betrifft über 1,8 Millionen Menschen im Hartz IV Bezug. Auch für die 645.000 Alleinerziehenden im SGB II-Bezug ist dieser Anreiz gegeben, da sie dank Wohngeld und Kinderzuschlag selbst bei gering entlohnter Vollzeittätigkeit einen effizienten Lohnabstand erzielen würden. Allein diese beiden Gruppen machen über die Hälfte der Erwerbsfähigen im SGB II-Bezug aus. Bei einer anstehenden Verbesserung des Systems des Kinderzuschlags kämen über eine Million Erwerbsfähige in Paarhaushalten mit Kindern hinzu, für die das Gleiche gälte. Für über drei Viertel aller Hartz IV-Bezieher wäre damit die Diskussion um hinreichende finanzielle Arbeitsanreize überflüssig.
5. Am Beispiel der Paarhaushalte ohne Kinder in außerordentlich schlecht bezahlten Tätigkeiten zeigt sich jedoch, dass die
Diskussion um Anreiz und Aufstockung nicht allein entlang der Instrumente des Wohngeldes und des Kinderzuschlags geführt werden kann. Die Problematik der Paarhaushalte mit nur einem erwerbstätigen Niedriglohnbezieher verweist stattdessen direkt auf die außerordentlich schwierige Lohnstruktur in einigen Wirtschaftszweigen. Problematisch ist das Aufstocken in diesen Fällen vor allem deshalb, da das Aufstocken nach dem SGB II angesichts der Verpflichtung zum vorrangigen Einsatz des Vermögens, der restriktiven Bedarfsprüfung und Gewährungspraxis sowie dem außerordentlich hohen Verwaltungsaufwand kein Kombilohnmodell im klassischen Sinne sein kann.“
Die Expertise in vollem Textumfang mit ausführlichen Beispielrechnungen und umfangreichen Zahlenmaterial entnehmen Sie bitte aufgeführtem Link oder dem Anhang.
www.paritaet.org
http://www.der-paritaetische.de/22/?tx_ttnews[tt_news]=3655&cHash=11f04200ea
Quelle: Der Paritätische Gesamtverband
Dokumente: expertise_lohnabstand_paritaetischer.pdf