Forschungsprojekt veröffentlicht kritische Analyse des Jugendwohnens in Deutschland

Der von Laura de Paz Martinez und Davina Höblich vom „Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz e.V.“ (ism) erstellte Materialband richtet sich mit der detaillierten Darstellung der Ergebnisse und umfangreichen Analysen an die Träger von Einrichtungen des Jugendwohnens und deren
Kooperationspartner, an ihre verbandlichen Gliederungen und Zusammenschlüsse, an die Entscheidungsträger in Kommunen und Bundesländern.

Auszüge aus dem Materialband 1 „Jugendwohnen in Deutschland. Zahlen, Daten Fakten“:
“ Das Jugendwohnen ist ein Unterstützungsangebot für junge Menschen, die für die Dauer ihrer schulischen oder beruflichen Maßnahme oder zur beruflichen Eingliederung ihre Familie bzw. ihren bisherigen Wohnort verlassen und an einem anderen Ort auf sich allein gestellt eine Wohnung suchen und ihren Alltag gestalten (müssen). Es bietet diesen jungen Menschen eine Wohnung und sozialpädagogische Begleitung und ist als eine Leistung der Kinder- und Jugendhilfe im Leistungsbereich der Jugendsozialarbeit im § 13, Abs. 3 SGB VIII rechtlich verankert: „Jungen Menschen kann während der Teilnahme an schulischen oder beruflichen Bildungsmaßnahmen oder bei der beruflichen Eingliederung Unterkunft in sozialpädagogisch begleiteten Wohnformen angeboten werden.“

Ziel des Jugendwohnens ist es, mit den jungen Menschen gemeinsam Teilhabemöglichkeiten an allen gesellschaftlichen Bereichen zu erschließen und sie in ihrer beruflichen und sozialen Integration zu unterstützen. Dabei folgt das Jugendwohnen dem in § 1 SGB VIII verankerten Recht junger Menschen auf Erziehung und Förderung ihrer Entwicklung. Als Angebot im Dreiklang von Wohnen außerhalb des Elternhauses, Integration in Arbeit und Gesellschaft und sozialpädagogischer Begleitung antwortet Jugendwohnen auf den Bedarf junger Menschen, die für den Antritt einer weiter entfernten Ausbildungsstelle umziehen müssen. Es richtet sich darüber hinaus an junge Menschen, die Kurse in überbetrieblicher Unterweisung oder Blockschulunterricht in länderübergreifenden Fachklassen fern des Ausbildungsortes im Rahmen ihrer dualen Ausbildung besuchen und vor der Frage stehen, wo sie während der Wochen abseits ihrer Heimat wohnen und leben werden. Jugendwohnen richtet sich als Angebot jedoch auch an junge Menschen, die aus sozialen Gründen nicht mehr in ihrer Herkunftsfamilie wohnen können, die individuell beeinträchtigt und/oder sozial benachteiligt sind und daher besonderer Unterstützung bedürfen. Schließlich bietet das Jugendwohnen in Form von Wohnangeboten (Internaten, Wohnheimen) in Verbindung mit Maßnahmen der Rehabilitation wichtige Unterstützungsstrukturen für behinderte und benachteiligte junge Menschen.

Mit der Einrichtungsbefragung, wie sie im Rahmen des Projektes „leben.lernen.Chancen nutzen“ durchgeführt wurde, liegen erstmals valide Daten zu dem Umfang und den Strukturen des Jugendwohnens in Deutschland vor. … Im Jahr 2007 stellten 558 Einrichtungen des Jugendwohnens in Deutschland knapp 60.000 Plätze, die von mehr als 200.000 jungen Menschen genutzt wurden. Jugendwohnen zeigt sich damit als vergleichsweise stark nachgefragtes Feld der Kinder- und Jugendhilfe.

Die Befunde enthüllen erhebliche Disparitäten zwischen den Bundesländern. Über die Hälfte der insgesamt 558 Einrichtungen des Jugendwohnens befinden sich in nur vier von 16 Bundesländern (15,9% in Bayern, 14,7% in Nordrhein-Westfalen, 12,9% in Baden-Württemberg, und 12,0% in Sachsen). D.h. junge Menschen haben bislang bundesweit nicht die Möglichkeit, bedarfsorientiert auf Einrichtungen des Jugendwohnens zurückzugreifen. Rund 40 % der Einrichtungen befinden sich in den ostdeutschen Bundesländern, 60 % in den westdeutschen. Damit sind die ostdeutschen Bundesländer deutlich besser mit Plätzen im Jugendwohnen versorgt, da sie über 22,9% der Bevölkerung zwischen 15 und 25 Jahren, aber 41,1 % der Plätze verfügen. Diese statistisch bessere Versorgung mit Plätzen im Jugendwohnen trifft jedoch auch auf höhere Mobilitätsanforderungen und häufiger realisierte Mobilität innerhalb dieser Länder. …

Diese Disparitäten zwischen den Bundesländern spiegeln sich auch in einer unterschiedlich gewachsenen Trägerstruktur im Handlungsfeld wider, bei der das Jugendwohnen in den westdeutschen Ländern eher ein Angebot in konfessioneller Trägerschaft ist, während in den ostdeutschen Ländern die öffentlichen und privat-gewerblichen Träger dominieren. Über alle Bundesländer hinweg befinden sich die meisten Einrichtungen mit knapp 40 % in konfessioneller (24,6% in katholischer, 14,7% in evangelischer) Trägerschaft. Hervorzuheben ist, dass sich auch Kammern, Innungen und Betriebe im Handlungsfeld Jugendwohnen engagieren; sie sind Träger etwa jeder fünften Einrichtung (19 %). Insgesamt kommt das Subsidiaritätsprinzip in großem Umfang zur Geltung.

Die jungen Menschen im Jugendwohnen treffen auf ein bundesweit heterogenes, ausdifferenziertes Angebotsspektrum der Einrichtungen. Hier schlägt sich die rechtliche Verortung in unterschiedlichen Sozialgesetzbüchern nieder, aus der ein heterogenes Angebots- und Nutzerinnenspektrum im Jugendwohnen resultiert. 80 % der befragten Einrichtungen bieten Plätze im Jugendwohnen – verstanden als Wohnangebot mit sozialpädagogischer Begleitung junger Menschen während einer schulischen oder beruflichen Maßnahme der Integration in Arbeit – allein oder neben anderen Angeboten an. Etwa ein Viertel der Einrichtungen (25,3 %) richtet sich mit ihrem Angebot Jugendwohnen u. a. speziell an junge Menschen mit Behinderungen und ihre Integration in Arbeit. Etwa jede achte Einrichtung bietet auch weitere zusätzliche Wohnangebote z. B. im Rahmen von Hilfen zur Erziehung (12,0 %) oder ein Gästehaus/Hotel (11,7%) an. Dreiviertel der Einrichtungen (77,8%) haben sich auf die Bereitstellung einer Leistung spezialisiert, 16,6 % halten zwei Leistungsangebote vor und noch 4,5 % bieten drei verschiedene Leistungsangebote an. Diese Einrichtungen müssen differenzierte fachliche Konzepte entwickeln, um die verschiedenen Nutzerinnengruppen bedarfsgerecht begleiten zu können.

… Die Einrichtungen des Jugendwohnens bilden während des Übergangs von Schule in den Beruf für eine Gruppe von jungen Menschen einen Lebens- und Bildungsort (Dauerbewohnerinnen). Mehr als drei Viertel der Einrichtungen (78,7 %) beherbergen u. a. solche Dauerbewohnerinnen. Etwa 40 bis 50 Tausend junge Menschen waren im Jahr 2007 Dauerbewohnerinnen. Darüber hinaus richtet sich das Jugendwohnen auch an Blockschülerinnen, die während bestimmter zentralisierter Phasen ihrer Ausbildung (überbetriebliche Unterweisung, Schulungen und berufsschulischer Unterricht in Blockform) mobil sein müssen. Über die Hälfte der Einrichtungen (56,8 %) stellte 2007 Plätze für Blockschülerinnen, die regelmäßig in der Einrichtung sind (im Turnus/Block wiederkehren). Weitere 25,2 % beherbergten Blockschülerinnen, die punktuell während ihrer Ausbildung das Jugendwohnen in Anspruch nehmen. …
In der Alltagsrealität stellen damit die Dauerbewohnerinnen das Gros der jeweils anwesenden Bewohnerinnen im Haus dar. Den Blockschülerinnen kommt jedoch für das Handlungsfeld quantitativ eine große Bedeutung zu. … Die meisten Einrichtungen (42,1 %) beherbergen junge Menschen sowohl auf Dauer als auch während regelmäßiger oder punktueller Ausbildungsphasen für kürzere Dauer. Diese Einrichtungen müssen differenzierte pädagogische Konzepte für die unterschiedlichen Bedarfe dieser Nutzerinnengruppen vorhalten. …

Mit der unterschiedlichen Dauer des Aufenthalts und den Gründen … geht eine Heterogenität der Kostenträger und Fördermöglichkeiten einher. Bei der Frage, wer Jugendwohnen bezahlt, ergibt sich eine Vierteilung zwischen sozialrechtlichen Leistungsbereichen der Sozialgesetzbücher (SGB II, III, VIII, IX, XII, BAföG), Privatzahlerlnnen, Institutionen der freien Wirtschaft (Kammern, Innungen und Betriebe) sowie Zuschüssen der Länder und Kommunen im Rahmen der Blockbeschulung. … Über die Hälfte der Einrichtungen (55,7 %) wies 2007 eine Mischfinanzierung auf, 44 % der Einrichtungen hatten ausschließlich eine Finanzierungsquelle. Obwohl Jugendwohnen im § 13 Abs. 3 SGB VIII als Leistung der Kinder- und Jugendhilfe definiert ist, entspricht diese sozialrechtliche Verankerung des Jugendwohnens in der Kinder- und Jugendhilfe insgesamt nicht der faktischen Finanzierung – nur 5,4 % der Plätze im Jugendwohnen werden hierüber finanziert. Es sind vor allem die Selbstzahlerinnen, die das Angebot finanzieren. Hierunter verbergen sich junge Menschen, die ihren Aufenthalt entweder privat bezahlen und/oder individuelle Förderungen wie BAföG oder Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) auf Antrag erhalten und so in ihrer Finanzierung des Angebots unterstützt werden. 27 % der Plätze wurden 2007 von Selbstzahlerlnnen entweder privat und/oder mit Unterstützung durch BAföG oder BAB finanziert. Nahezu gleichauf liegt die Finanzierung im Rahmen der Förderung von Wohnangeboten in Verbindung mit Reha-Maßnahmen nach §§ 97-115 SGB IM. 25,4 % aller Plätze wurden 2007 hierüber finanziert. An dritter Stelle liegt die Finanzierung durch die Kammern, Innungen und Betriebe. Sie finanzierten die Plätze im Jugendwohnen 2007 zu 13,5 %.

Insbesondere in misch-finanzierten Einrichtungen stellt sich die Anforderung, angemessene Standards bei unterschiedlichen Kostenträgern durchsetzen zu können. Es zeigt sich großer Handlungsbedarf, da immerhin knapp ein Drittel der befragten Einrichtungen (32,1 %) mit keinen (potentiellen) Kostenträgern des Jugendwohnens ein Entgelt ausgehandelt hat. Die Disparitäten in den vorliegenden Leistungs-, Entgelt und Qualitätsentwicklungsvereinbarungen nach §§ 78 a-g SGB VIII für die Umsetzung des § 13 Abs. 3 SGB VIII im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe machen augenscheinlich, dass für viele Einrichtungen bislang klar definierte, nachvollziehbare und vereinbarte Qualitätsstandards fehlen.

Die fehlenden Qualitätsstandards schlagen sich beispielsweise in der Personalausstattung der Einrichtungen nieder. So findet sich in den Einrichtungen eine breite Streuung des Personalschlüssels – zwischen 1 zu 1 bis hin zu Relationen von 1 zu 215 -, der deutlich nach Finanzierungsformen, dem Wohnstatus der jungen Menschen sowie west- und ostdeutschen Bundesländern differiert. …

Auch bei der räumlichen Ausstattung ergeben sich Unterschiede nach Dauerbewohnerinnen und Blockschülerinnen. Bei den Blockschülerinnen dominieren eher klassische Wohnheimaufteilungen (ähnlich Studenten- oder Schwesternwohnheimen): So verfügen 70,4% der Einrichtungen, die ausschließlich Blockschülerinnen beherbergen, über Zimmer in nicht abgeschlossenen Einheiten und nur 40,7 % bieten Wohneinheiten für WGs/Wohngruppen. Die Einrichtungen, die auf Dauerbewohnerinnen spezialisiert sind, halten dagegen überwiegend Wohneinheiten für WGs/Wohngruppen (64,6 %) und häufiger als im Bundesdurchschnitt Einzelapartments (27,1 % gegenüber 20,5 % im Bundesdurchschnitt) vor. Nur 43,8 % dieser Einrichtungen bieten Zimmer in nicht abgeschlossenen Einheiten an. …

Die Einrichtungen kooperierten 2007 deutlich häufiger mit den Bildungseinrichtungen ihrer Bewohnerinnen – den (Berufs-)Schulen (86,2 %) und den Betrieben (76,7 %) – als mit ihren möglichen Kostenträgern: Agentur für Arbeit (61,9%), Jugendamt (59,5%), Kammern, Innungen und Betriebe (43,8 %) sowie ArGen (28,1 %). Dieser Befund deutet daraufhin, dass möglicherweise eine fachliche Verständigung auf Qualitätsstandards und Kosten mit potentiellen Kostenträgern bei einem Teil der Einrichtungen aussteht. …

Insgesamt zeigt sich Handlungsbedarf für eine bundesweite bedarfsorientierte und planmäßige Weiterentwicklung des Jugendwohnens. Die erheblichen Disparitäten zwischen den Bundesländern hinsichtlich der Verteilung der Plätze und Einrichtungen können nicht allein mit den unterschiedlichen Bedarfslagen in den einzelnen Ländern erklärt werden. Vielmehr zeigen die Befunde die Notwendigkeit einer bedarfsorientierten Steuerung des Angebots an. Allerdings zeigen sich hier besondere Schwierigkeiten, da möglicherweise die Planungsinstrumentarien des SGB VIII (§§ 78, 79, 80 SGB VIII) nicht auf das Handlungsfeld des Jugendwohnens passen. Im Unterschied zu den anderen Feldern der Kinder- und Jugendhilfe wird der Bedarf an Jugendwohnen nicht von den örtlich ansässigen jungen Menschen sowie den Einrichtungen und Diensten definiert und in Planungsprozesse überführt. Die örtlich zuständige Ebene (Jugendamt) kann aufgrund der überwiegend überörtlichen Belegung ihre Planungsaufgabe nur begrenzt wahrnehmen. Sowohl auf der Bundesebene als auch auf der Länderebene zeigt sich daher dringender Handlungsbedarf. Hier gilt es, generell danach zu fragen, welche Planungsaufgaben dem Bund und den Ländern in diesem Bereich zukommen, wenn es darum geht, eine bedarfsgerechte soziale Infrastruktur an der Schnittstelle von Schule und Ausbildung vorzuhalten.“

Der Materialband 1 ist zu beziehen über www.ism-mainz.de oder im
Buchhandel, ISBN-Nr.: 978-3-932612-38-1.

www.projekt-jugendwohnen.de
www.ism-Mainz.de

Quelle: Forschungsprojekt „leben.lernen.chancen nutzen“

Ähnliche Artikel

Skip to content