Auszüge aus dem Grundsatzpapier:
“ Arbeitsmarktpolitik weiterentwickeln – Hartz IV verbessern:
…
Die Regelungen des SBG II, die derzeit knapp 7 Millionen Menschen (darunter rund 2 Millionen Minderjährige) direkt bereffen, sollten mit einem Mix aus Fördern und Fordern einerseits die Eigenverantwortung von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen stärken. Andererseits sollte die Arbeitsvermittlung verbessert, die Unterstützung bei der Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit ausgebaut und das soziokulturelle Existenzminimum für Erwerbsfähige sichergestellt werden.
Die AWO hat die gesetzlichen Neuregelungen intensiv begleitet und diskutiert. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe wurde dabei grundsätzlich begrüßt. Der anfängliche Optimismus und die Hoffnungen auf eine Verbesserung der Lebenssituation Erwerbsfähiger müssen allerdings heute teilweise der Ernüchterung weichen.
5 Jahre nach der Einführung des SGB II, muss festgestellt werden:
## Ein Großteil der Bevölkerung erlebt das SGB II unter der Bezeichnung „Hartz IV“ als Bedrohung, nicht zuletzt, weil einseitig das Fordern betont und umgesetzt wurde. Dies zeigt sich vor allem mit Blick auf
– die verschärften Zumutbarkeitsregelungen;
– die Zusammenführung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe auf das niedrigere Fürsorgeniveau;
– die Verpflichtung zum Vermögenseinsatz;
– die Ausdehnung von Hilfebedürftigkeit durch Schaffung von Bedarfsgemeinschaften, in denen die Beteiligten auch finanziell füreinander einzustehen haben Unter der Bezeichnung „Hartz IV“ wird das SGB II von den Menschen nicht als Hilfegesetz für Erwerbslose empfunden, sondern es steht für sozialen Abstieg, Armut, Ausgrenzung und Diskriminierung. …
Grundsätze zur zukünftigen Organisation der Arbeitsverwaltung
Die AWO hält die Entscheidung, die Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe in der Grundsicherung für Arbeitssuchende zusammenzulegen und diese in eine einheitliche Aufgabenwahrnehmung von Bund und Kommunen zu überführen, nach wie vor für richtig. Die damit verbundene Verpflichtung zur Zusammenarbeit von Agenturen für Arbeit und Kommunen hat sich als Schlüssel zur Arbeitsmarktintegration und intensiver passgenauer Betreuung benachteiligter Menschen erwiesen und das Verschieben zwischen den kommunalen Trägern und der Arbeitsverwaltung beendet.
… Die AWO begrüßt und unterstützt daher die Einigung über eine Grundgesetzänderung. …
Die Neuorganisation der Arbeitsvermittlung muss genutzt werden, um Schwächen in der Struktur zu beseitigen. Die für die Aufgabenerfüllung künftig zuständigen Leistungsträger müssen ein einheitliches Haushaltsrecht, ein einheitliches Tarifsystem sowie ein einheitliches Personalvertretungssystem erhalten. Zudem sollten sie Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation erbringen, da es gerade auch im SGB II notwendig ist. Rehabilitationsbedarf zu erkennen und die notwendigen Hilfe sicherzustellen.
## Ja zur stärkeren Nutzung der Kompetenz der Kommunen. Nein zur Kommunalisierung der Arbeitsverwaltung.
… Die Kommunen benötigen mehr Mitspracherechte bei der Steuerung regionaler Arbeitsmarktpolitik im Rahmen der gemeinsamen Aufgabenerfüllung im SGB II. Dabei darf jedoch die Finanzverantwortung für die Arbeitsmarktpolitik nicht kommunalisiert werden – auch nicht auf dem Umweg einer immer stärkeren Ausweitung der Optionskommunen. Nur durch den Erhalt der finanziellen Gesamtverantwortung des Bundes und eine Verknüpfung von bundeseinheitlichen Standards mit örtlichen sozialräumlichen Strategien bis hin zu Netzwerken vor Ort kann für die Betroffenen eine bestmögliche und dauerhaft finanzierte Betreuung sichergestellt werden.
Grundsätze zur zukünftigen Gestaltung des Eingliederungsprozesses.
Die Grundsicherung für Arbeitsuchende ist ein Kernelement des deutschen Sozialstaats. Sie wird von großen Teilen der Bevölkerung nicht akzeptiert. Es zeigt sich eine Entfremdung der derzeit knapp 7 Millionen betroffenen Menschen (darunter rund 2 Millionen Minderjährige) und – gesellschaftlich weit verbreitet – eine Angst vor dem Abstieg in die Grundsicherung für Arbeitsuchende. … Viele arbeitslose und arbeitsuchende Menschen fühlen sich in ihren individuellen Vorstellungen nicht angemessen beachtet, schlecht beraten oder willkürliche behandelt. Gerade die Qualität der zeitlich eng befristeten Beschäftigungsmaßnahmen wird von vielen Betroffenen häufig als unzumutbar und für ihre Vermittlung in den Arbeitsmarkt als nicht hilfreich empfunden, da sie sich unter Androhung von Sanktionen und ohne Berücksichtigung oder Förderung ihrer persönlichen Kompetenzen in Tätigkeiten hineingezwungen fühlen.
Die AWO fordert deshalb eine Neugestaltung des Eingliederungsprozesses. Jede und jeder Arbeitslose oder Arbeitsuchende muss nach Meinung der AWO das Recht haben, einen eigenen Vorschlag zu unterbreiten, wie er oder sie sich den Weg in den Arbeitsmarkt vorstellt und welches Ziel angestrebt wird. Diejenigen, die von diesem Vorschlagsrecht keinen Gebrauch machen, sollen das Recht haben, einen Vorschlag gemeinsam mit dem Arbeitsvermittler zu erarbeiten. Die Betroffenen selbst müssen den gesamten Prozess der Eingliederung auf Augenhöhe mitgestalten können. Nur die Mitwirkung der Bürger ermöglicht die nachhaltige Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Dies betrifft nicht nur die Hilfestellung des SGB II, sondern den gesamten Hilfeplan/Integrationsplan, der für die Eingliederung in den Arbeitsmarkt zur Verfügung steht.
## Arbeitssuchende durch Wohlfahrtsverbände stärken
In der Vergangenheit wurde der Rechtsschutz der Betroffenen im Rechtskreis des SGB II gegen behördliche Bescheide immer mehr eingeschränkt. … vielerorts sind die Behörden ihre Beratungspflicht auch 5 Jahre nach der Einführung des SGB II nur ungenügend nachgekommen.
Vor diesem Hintergrund fordert die AWO eine stärkere staatliche Unterstützung behördenunabhängiger, wohnortnaher und kostenloser Sozialberatungen, die schon heute vielerorts von den Wohlfahrtsverbänden angeboten werden. Zudem schlagen wir die flächendeckende Einrichtung örtlicher Ombudsstellen vor, in denen sich Bürgerinnen und Bürger behördenunabhängigen Rat einholen können. Dadurch können viele Streitfälle zwischen Behörden und Betroffenen geklärt und Sozialgerichtsprozesse vermieden werden. …
## Öffentlich geförderten Arbeitsmarkt schaffen
Aus Sicht der AWO ist das Ziel der Vollbeschäftigung auf absehbare nicht zu erreichen. Deshalb fordern wir die Schaffung eines dauerhaft öffentlich geförderten Arbeitsmarktes. Damit sollen insbesondere die Menschen unterstützt werden, die mittel- und langfristig keine Chance auf eine Vermittlung in den 1. Arbeitsmarkt haben.
Wir fordern eine breite Debatte über die Gestaltung öffentlich geförderter Beschäftigung. Die Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bedürfnisse arbeitsloser Menschen müssen bei der Gestaltung von Beschäftigungsmöglichkeiten im Mittelpunkt stehen, damit gar nicht erst der Eindruck entsteht, dass Arbeitslose als Ausfallbürgen für nicht ausreichend finanzierte Aufgaben herhalten müssen. …
## Kein Jugendlicher darf zurück gelassen werden
Nicht länger hinnehmbar ist es, dass jedes Jahr mehr als 70 000 junge Erwachsene die Schule ohne Abschluss verlassen und damit auf dem ersten Arbeitsmarkt praktisch keine Chance haben.
Insbesondere am Übergang von Schule in den Beruf müssen die Angebote zur Eingliederung besser auf die individuellen Probleme und Bedürfnisse der jungen Menschen zugeschnitten werden. Statt Maßnahmekarrieren muss den Jugndlichen und jungen Erwachsenen mit Hilfe aller zur Verfügung stehender Instrumente individuell der Weg in den Arbeitsmarkt geebnet werden. Insbesondere Kommunen müssen die Verantwortung für ein lokal abgestimmtes Übergangsmanagement übernehmen und Strukturen zur verbesserten Integration junger Menschen entwickeln, die auf einem stimmigen lokalen Handlungskonzept gründen und ein koordiniertes und vernetztes Zusammenwirken aller Akteure sicherstellen.
Die bisher weitgehend am Preis orientierte Ausschreibungspraxis der BA auf der Ebene der Regionaldirektionen berücksichtigt zu wenig die bewährten örtlichen Netzwerke. Deshalb muss das Instrument der Direktvergabe im Interesse einer besseren schulischen und beruflichen Effizienz für die jungen Menschen unter Einbindung der örtlichen Netzwerke verstärkt eingesetzt werden.
Das soziokulturelle Existenzminimum garantieren
Zu einem menschenwürdigen Leben gehört nach dem Grundgesetz die Sicherstellung des soziokulturellen Existenzminimus. Aus Sicht der AWO muss die heutige Ausrichtung der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) abgelöst werden durch ein Hilfesystem, das das soziokulturelle Existenzminimum sichert und – davon getrennt – Eingliederung in Arbeit durch positive Anreize fördert.
Die übergroße Mehrheit der Leistungsberechtigten nimmt heute aktiv und dauerhaft am Eingliederungsprozess teil. Sie würde von einem solchen Paradigmenwechsel profitieren, der individuelle Bemühungen belohnt. Daneben würder der kleine Personenkreis, der in der Regel aufgrund erheblicher persönlicher Probleme nicht am Eingliederungsprozess teilnimmt, nicht länger von Sanktionierungen bedroht, die zu einer Unterschreitung des Existenzminimums führen. …
Neben dem finanziellen Mindestbedarf, auf den jede Person Anspruch hat, gehören zu dem Anspruch auf ein soziokulturelles Existenzminimum, auf Teilhabe und auf Menschenwürde ganz zentral insbesondere der kostenfreie Zugang zu Bildung und der Zugang zu staatlichen bzw. gemeinnützigen Hilfen, um den individuellen und psychosozialen Folgen von Ausgrenzung und Armut präventiv und nachsorgend zu begegnen. …
Die AWO fordert seit langem die Erhöhung der Erwachsenen- und Kinderregelsätze, weil diese nicht das soziokulturelle Existenzminimum abdecken. Abgesehen von der ermittelten Höhe der Erwachsenen- und Kinderregelsätze darf sich die Politik nicht länger hinter völlig intrasparenten Berechnungen verstecken. Die Regelsatzhöhe muss bedarfsgerecht und transparent ermittelt und politisch verantwortet werden. Sie sollte regelmäßig der Preisentwicklung angepasst und vom Deutschen Bundestag festgesetzt werden. …
Die Forderung eines unantastbaren soziokulturellen Existenzminimus gilt nach der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung von Februar 2010 auch für Asylbewerber. Mit dem Asylbewerberleistungsgesetz wurde 1993 der Bedarf ebenfalls ohne transparentes, sach- und realitätsgerechtes Verfahren ermittelt und seither nicht an die Preis- und Lebenshaltungskostensteigerungen angepasst. Deshalb setzt sich die AWO an anderer Stelle für eine sofortige Anhebung der Regelleistungen und eine grundlegende Neuregelung ein.
## Die vorgelagerten Hilfesysteme müssen ausgebaut werden
Die vielfältigen Probleme von Armut und sozialer Ausgrenzung können nicht alleine durch die Reform des SGB II und die Weiterentwicklung der Arbeitsmarktpolitik gelöst werden. Deshalb brauchen wir einen Ausbau des sozialen Netzes auch in den anderen gesellschaftlichen und dem SGB II vorgelagerten Bereichen, wie in der Jugendhilfe, im Bildungsbereich, durch psycho-soziale Hilfen, auf dem ersten Arbeitsmarkt wie auch auf dem Wohnungsmarkt.
… Bei der bedarfsgerechten Weiterentwicklung der so genannten kommunalen sozialen Dienstleistungen, stehen viefältige Fragestellungen auf der Agenda wie beispielsweise die Flexibilität von Öffnungszeiten im Bereich der Kinderbetreuung, die fachliche Weiterentwicklung von Beratungsangeboten (Schuldnerberatung, psychosoziale Betreuung und Suchtberatung) oder die Unterstützung pflegender Angehöriger. Die kommunal verantworteten Integrationsleistungen müssen sich stärker als bisher auf den besonderen Bedarf von Langzeitarbeitslosen ausrichten. In der Schuldnerberatung wird es z.B. darauf ankommen neben der Insolvenzberatung auch Themen des Umganges mit Inkassobüros und dem Leben mit Schulden im Rahmen einer Existenzgrundberatung aufzugreifen. In der Suchthilfe müssen sich die Beratungsangebote darauf einstellen, dass die Abstinenz von vielen Betroffenen nicht erreicht werden kann. Deshalb müssen die Angebote ein Leben mit der Sucht zumindest zeitweise zum Gegenstand der Arbeit machen. In der psychosozialen Betreuung wird es notwendig sein, Frauen und Männer in psychischen Belastungssituationen ohne Bevormundung zu begleiten und die Wege in professionelle Unterstützungssysteme zu öffnen. …
Die Jobcenter sind mehr als nur Grundsicherungsträger und Arbeitmarktakteur. Sie tragen als Kostenträger der Unterkunftskosten mittelbar Verantwortung für soziale Segregationsprozesse und soziale Wohnraumsteuerung. Sie können auch maßgeblichen Anteil an gesellschaftlichen Integrationsprozessen haben, wenn sie die Erfahrungen und Kenntnisse aus der Vermittlungsarbeit für soziale Inklusionsprozesse zur Verfügung stellen. Jobcenter sind insofern auch Akteure im sozialräumlichen Kontext. Die AWO steht vor Ort und überregional zur Verfügung, diese Aufgabe zu entwickeln und stellt ihr Know-How den Verantwortlichen zur Verfügung.
Fazit
5 Jahre nach der Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende steht heute das Prinzip des „Strafens“ im Vordergrund der öffentlichen Wahrnehmung und Debatte. Damit können insbesondere die zwei zentralen Probleme des SGB II nicht gelöst werden. Erstens fehlt es noch immer am Angebot qualifizierter Arbeitsplätze für die vielen Menschen, die sich um Arbeit bemühen. Zweitens wird die Grundsicherung für Arbeitssuchende von breiten Bevölkerungsschichten als Bedrohung empfunden.
Begründet ist dies durch das Ausforschen der Privatsphäre der Antragsteller bis in den letzten Winkel privater Lebensgestaltung, die mangelhafte Berücksichtigung der Wünsche und damit der Lebensperspektive der Betroffenen, die regelmäßigen öffentliche Stigmatisierung von Leistungsempfängern, aber auch durch die Mängel der verwaltungsmäßigen Umsetzung des Gesetzes durch häufig falsche oder unverständliche Bescheide, Sanktionierungen und sich daraus ergebende Härten.
## „Belohnen statt strafen“ als neuen Grundsatz etablieren
Die AWO ist daher der Auffassung, dass es Zeit ist für einen grundlegenden Paradigmenwechsel. Im Kern bedeutet er, dass das heutige System der Grundsicherung für Arbeitssuchende durch ein Anreizsystem mit Hilfe von Zuschlägen auf den Regelsatz zu erweitern ist. Mit dieser gebotenen Abkehr vom Prinzip des Strafens werden Integrationsbemühungen und -fortschritte belohnt.Wenn das einhergeht mit dem Prinzip des partnerschaftlichen und eben nicht obrigkeitsstaatlichen, diskriminierenden Umganges mit Menschen, hat es nachhaltig wirkende identifikationsstiftende Folgen für unsere Gesellschaft.
In der Trennung von soziokulturellem Existenzminimum und dem Fördern von integrativen Prozessen durch ein Belohungs- und Zuschlagssystem kommt der fundamentale Grundsatz: „Belohnen statt strafen“ zum Ausdruck. Menschen werden in ihrer selbstverständlichen, grundgesetzlich veankerten Position gestärkt, als Mitglieder unseres demokratischen Gemeinwesens ernst genommen und damit, im Sinne von Inklusion, wieder in die Mitte unserer Gesellschaft zurückgeholt.“ Das Grundsatzpapier in vollem Textumfang entnehmen Sie bitte dem Anhang.
Quelle: AWO-Bundesverband
Dokumente: Endv__Beschluss_AWO_Praesidium_16_4_2010_Grundsaetze_Weiterentwicklung_Grundsicherung.pdf