Auszüge aus einer Benchmarking Studie der Bertelsmann Stiftung von Werner Eichhorst, Paul Marx, Eric Thode „Atypische Beschäftigung und Niedriglohnarbeit“:
„Die These eines erodierenden Normalarbeitsverhältnisses bestimmt seit nunmehr einigen Jahrzehnten die Diskussion über den deutschen Arbeitsmarkt. Zu Grunde liegt die Vermutung, dass vermeintlich „gute“ Beschäftigung – also sozialversicherte, tariflich abgedeckte,
unbefristete Vollzeitstellen – zu Gunsten so genannter „atypischer“ Jobs abgebaut werden. Als atypische Beschäftigungsverhältnisse sollen hier Arbeitsverträge verstanden werden, die von den im Kern des Arbeitsmarktes üblichen Standards deutlich abweichen. Als atypisch können damit Beschäftigungsverhältnisse gelten, die einzelne oder mehrere der folgenden Merkmale erfüllen.
## Erwerbstätigkeit im Rahmen der Arbeitnehmerüberlassung bzw. Zeitarbeit
## Arbeit, die außerhalb des allgemein üblichen Sozialversicherungsschutzes ausgeübt wird, z. B.
Minijobs
## Selbstständige Arbeit ohne Angestellte, insbesondere dann, wenn es sich um ein Quasi-Arbeitnehmerverhältnis
handelt, ohne dass entsprechender arbeits- und sozialrechtlichen Schutz
vorhanden ist
## Beschäftigung mit einem geringen Monats- oder Stundenlohn
Aus Sicht der Arbeitgeber schaffen atypische Beschäftigungsverhältnisse größere Flexibilitätsspielräume.
Der verstärkte Einsatz atypischer Beschäftigungsverhältnisse kann zudem zu zusätzlichen Arbeitsplätzen führen und insbesondere auch Einstiegsmöglichkeiten zu Beginn des Berufslebens, nach Erwerbsunterbrechungen, nach Arbeitslosigkeit oder bei mangelnder Qualifikation, aber auch Chancen auf Aufstieg bieten.
Die Entwicklung und wachsende Verbreitung der atypischen Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland und anderen europäischen Ländern war jedoch stets auch von einer kritischen Diskussion begleitet: Als problematisch wird dabei vor allem das Risiko angesehen, etablierte Standards der Bestandssicherheit und Entlohnung auf dem Arbeitsmarkt zu gefährden, die etablierten Normalarbeitsverhältnisse zu verdrängen oder aufzulösen und insgesamt zu schlechteren Arbeitsbedingungen beizutragen, ohne wirkliche Aufstiegschancen zu bieten. Vielmehr würden atypische Beschäftigungsverhältnisse das Problem der „Armut in Arbeit“ verschärfen und zu Phasen wiederholter Arbeitslosigkeit beitragen anstatt Brücken in reguläre Beschäftigung zu schaffen.
Nicht alle atypischen Beschäftigungsverhältnisse sind jedoch als gleichermaßen prekär und problematisch zu bezeichnen. Bei der Bewertung muss auch eine Rolle spielen, inwieweit diese Beschäftigungsverhältnisse freiwillig oder unfreiwillig eingegangen werden und welche Perspektive auf einen (erwünschten) Wechsel in ein stabileres, besser entlohntes oder sozial besser abgesichertes Arbeitsverhältnis besteht.
Der Trend zu atypischen Beschäftigungsformen hat sich in den vergangenen zehn bis 20 Jahren nicht nur in Deutschland beschleunigt. Zumindest in Ländern mit vergleichbaren Arbeitsmarktinstitutionen (also z. B. den kontinentaleuropäischen Staaten Frankreich, Belgien und den Niederlanden) ist eine ähnliche Entwicklung zu beobachten.
In den meisten Fällen ist diese Entwicklung mit institutionellen Veränderungen verbunden. Das zu Grunde liegende Reformmuster, das Deutschland mit zahlreichen anderen OECD-Ländern teilt, kann als „marginale Flexibilisierung“ bezeichnet werden: Während der Kündigungsschutz für Beschäftigte im Normalarbeitsverhältnis stabil bleibt oder allenfalls geringfügig entschärft wird, sorgen liberale Reformen am Rand des Arbeitsmarktes für die nötige Flexibilität. …
Besonders starke Deregulierungen hat es in diesem Zeitraum in Belgien,
Deutschland, Griechenland, Italien und Portugal gegeben.
Ein prägnantes Beispiel für das skizzierte Reformmuster liefert die Regulierung der Arbeitnehmerüberlassung in Deutschland. Sie hat sich von einem hoch regulierten Markt zu einem äußerst flexiblen Instrument entwickelt, das zunehmend von Unternehmen genutzt wird, um besser auf
Auftragsschwankungen reagieren zu können. Den rasante Anstieg in den vergangenen Jahren haben aber erst Reformen wie die Abschaffung der Überlassungshöchstdauer sowie des Synchronisations- und Wiedereinstellungsverbots ermöglicht.
Generell lässt sich beobachten, dass die Entwicklung am Rand des Arbeitsmarktes, also bei atypischen Beschäftigungsverhältnissen, sehr stark von der Regulierung im Kern des Arbeitsmarktes im Verhältnis zur Regulierung des Randes selbst abhängt. Je strikter die Regulierung des Kerns, umso stärker bildet sich über die Zeit eine dynamische Entwicklung der Jobs am Rand des Arbeitsmarktes innerhalb der dort eröffneten Möglichkeiten ab – oder auch außerhalb des formalen
Arbeitsmarktes. Je stärker das abhängige Arbeitsverhältnis mit Steuern und Abgaben belastet wird, umso mehr ergibt sich eine Ausweichbewegung in die selbstständige Erwerbstätigkeit. Die Nutzung von Arbeitsverhältnissen, die nicht dem Standard im Kernbereich des Arbeitsmarktes entsprechen, wird dabei maßgeblich vom Verhalten der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer innerhalb des vorhandenen institutionellen Rahmens bestimmt. …
Auf der einen Seite bieten atypische Arbeitsverhältnisse tatsächlich zusätzliche Erwerbschancen insbesondere im Dienstleistungssektor, auf der anderen Seite zeichnen sie sich oft durch Abweichungen vom jeweiligen tarif-, unternehmens- oder betriebsüblichen Standard hinsichtlich Arbeitszeiten, Entlohnung oder Bestandssicherheit aus. Die Notwendigkeit der Re-Regulierung atypischer Beschäftigungsformen
steht deshalb auf dem Prüfstand und wird je nach Perspektive – beschäftigungspolitische vs. sozialpolitische Orientierung – unterschiedlich bewertet. Auf der Grundlage der empirischen
Beobachtungen ist ein differenziertes Urteil über die Bedeutung atypischer Beschäftigung und von deren Chancen und Risiken möglich. Im internationalen Vergleich lässt sich für Deutschland Folgendes festhalten:
## Die Zeitarbeit hat sich nach den letzten Reformen als Randsegment im verarbeitenden Gewerbe etabliert, und zwar nicht nur als kurzfristiger Flexibilitätspuffer, sondern vermehrt auch als
längerfristige Randbelegschaft in der Industrie. Ein Übergang in eine reguläre Beschäftigung ist dabei keineswegs garantiert.
## Minijobs als einzige Erwerbstätigkeit und auch als Nebentätigkeiten sind wichtige Beschäftigungsformen in bestimmten Bereichen des Dienstleistungssektors in Deutschland geworden und stellen im internationalen Vergleich durchaus eine Besonderheit dar. Dabei kommt der Abgabenfreiheit aus Sicht der Beschäftigten eine zentrale Bedeutung zu. Auch erlaubt sie den Arbeitgebern die Überwälzung eines Teils der Arbeitskosten.
## Die Niedriglohnbeschäftigung hat in Deutschland in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Dies kann mit der geringen und weiter abnehmenden Tarifbindung vor allem im privaten Dienstleistungssektor, den verstärkten Aktivierungsbemühungen von Transferbeziehern und
mit der vermehrten Nutzung von Minijobs, Teilzeittätigkeiten und der Aufstockung von Grundsicherungsleistungen erklärt werden. …
## Auch die Selbstständigkeit hat in Deutschland an Bedeutung gewonnen, zum einen auf der Grundlage der gezielten Förderung im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik, des Abbaus von Zugangsbarrieren im Handwerk und der zum Teil geringen Arbeitskosten bei einer Erwerbstätigkeit außerhalb der Sozialversicherung, zum anderen durch den fortgesetzten Strukturwandel, der im Bereich der „kreativen Ökonomie“, d. h. in Medien- und Kulturberufen, verstärkt selbstständige Tätigkeiten mit projektbezogener und netzwerkartiger Organisation hervorbringt.
per se negativ zu betrachten wäre. Eine restriktive Re-Regulierung ohne Berücksichtigung der Besonderheiten einzelner Tätigkeiten, Sektoren und Personengruppen würde Gefahr laufen, die
bestehenden und in der jüngeren Vergangenheit mobilisierten Beschäftigungspotenziale vor allem im Dienstleistungssektor zu unterdrücken. …
Alle Länder, die im Rahmen der Benchmarking-Studie untersucht werden, weisen mehr oder weniger große „Ränder“ am Arbeitsmarkt auf, die den Übergangsbereich zwischen Arbeitslosigkeit und traditionellen Beschäftigungsformen markieren. Es gibt jedoch charakteristische Unterschiede im Ausmaß der Nutzung numerischer Flexibilität in Gestalt befristeter Arbeitsverträge oder Zeitarbeit und beim Ausmaß von Lohnflexibilität, etwa in der Größe des Niedriglohnsektors. Diese
Unterschiede können mit dem institutionellen Gefüge, den Reformpfaden und der Nutzung verfügbarer Beschäftigungsoptionen durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer erklärt werden. Die Muster der Nutzung „atypischer“ Beschäftigung variieren nicht nur zwischen den Staaten, sondern auch
nach Sektoren innerhalb Deutschlands.
## Die Zeitarbeit hat sich in Deutschland mittlerweile als ein wesentlicher Flexibilitätspuffer vor allem in der verarbeitenden Industrie erwiesen. Übergänge in die reguläre Beschäftigung sind
eher selten. Damit geht ein erhebliches Lohndifferenzial für vergleichbare Tätigkeiten einher.
## Minijobs … spielen als Hinzuverdienst für die Haushalte in Deutschland eine wichtige Rolle. Aus Sicht der Arbeitgeber sind sie
als Element flexibler und oft gering entlohnter Tätigkeiten besonders im privaten Dienstleistungssektor attraktiv.
## Niedriglohnbeschäftigung ist in Deutschland sowohl in Vollzeit als auch in Teilzeit stark angewachsen. Diese im internationalen Vergleich auffällige, aber auch nachholende Entwicklung ist eine Folge des strukturellen Wandels hin zur Beschäftigung im privaten Dienstleistungssektor, der generell eine geringere Tarifabdeckung und eine stärkere Nutzung von atypischen Beschäftigungsformen, insbesondere Minijobs und Zeitarbeit, aufweist. Mittelbar dürfte auch
die Aktivierungspolitik im Gefolge der Hartz-Reformen einen Beitrag zu dieser Entwicklung geleistet haben. Geringe Stundenverdienste sind jedoch insgesamt vor allem ein Phänomen von partieller, nicht Existenz sichernder Erwerbstätigkeit, die zum Teil auch von den gegebenen
Anreizen im Transfersystem begünstigt wird.
## (Solo-)Selbstständigkeit hat sich im privaten Dienstleistungsbereich als wichtiges Instrument etabliert, um Regulierungen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses zu umgehen. Dabei tritt unmittelbares unternehmerisches Risiko an die Stelle sozial- und arbeitsrechtlicher Schutzvorkehrungen. Die Betroffenen, die auch im Bereich der höher Qualifizierten zu finden sind,müssen bei Arbeitszeit und Entlohnung häufig ein erhebliches Maß an Flexibilität aufbringen.
einer in jeder Hinsicht überzeugenden Regulierung finden. Aufgrund der komplexen Zusammenhänge zwischen Normalarbeitsverhältnissen und atypischen Arbeitsverträgen sowie den Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten atypischer Beschäftigung müssen Reformoptionen
kontextabhängig formuliert werden. Hierbei muss darauf geachtet werden, dass die institutionellen Rahmenbedingungen auf der einen Seite beschäftigungsfreundlich sind, auf der anderen Seite aber auch den Sicherungsbedürfnissen der Arbeitnehmer entsprechen. Nicht jede
Flexibilität kann unterbunden werden, aber es braucht Brücken in andere Jobs, wenngleich auch klar sein dürfte, dass nicht in jedem Fall ein Aufstieg möglich sein wird.
schrittweise wachsendes Maß an Beschäftigungssicherheit zu schaffen – ohne zwischen befristeter und unbefristeter Beschäftigung generell unterscheiden zu müssen. …
## Zeitarbeit sollte zwar nicht generell eingeschränkt werden, problematisch ist allerdings, wenn für gleichartige Tätigkeiten unterschiedliche Standards zum Einsatz kommen, insbesondere
beim Lohnniveau. Deshalb sollte über ein mit der Dauer der Tätigkeit bei einer Zeitarbeitsfirma stufenweise wachsendes Maß an Beschäftigungsstabilität nachgedacht werden. Auch sollte mit
Ausnahme sehr kurzer Einarbeitungsphasen eine Annäherung an die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung der Stammbelegschaften mit gleichartigen Tätigkeiten angestrebt werden. Dies sollte mit einer systematischen Reform des Kündigungsschutzes so verbunden werden, dass
die Grenze zwischen „atypischer“ und „regulärer“ Beschäftigung durchlässiger wird.
## Der Niedriglohnsektor bietet zusätzliche Arbeitsplätze. Er ist auch eine Begleiterscheinung des strukturellen Wandels hin zu Dienstleistungstätigkeiten mit geringerer Produktivität und Qualifikationsanforderungen. Die Möglichkeiten einer höheren Entlohnung sind deshalb begrenzt und könnten die weitere Entwicklung in diesem Segment behindern. Gleichwohl gibt es Ansatzpunkte für eine aus beschäftigungspolitischer Sicht sinnvolle Regulierung. Zum einen sollte es um die Überwindung von Teilzeit/Minijobs in Richtung Vollzeittätigkeiten gehen. Dies allein wird bereits die Häufigkeit geringer Bruttostundenlöhne vermindern. …
## Zum anderen ist ein moderater Mindestlohn für den Arbeitsmarkt nicht unter allen Umständen schädlich. Voraussetzung sollte allerdings eine unabhängige Expertise bei seiner Festlegung und seiner ständigen Evaluation sein. Sofern insbesondere sozialpolitische Gründe für die Erwägung eines Mindestlohnes ausschlaggebend sind, ist eine einheitliche, moderate, gesetzlich festgeschriebene Lohnuntergrenze in jedem Fall sektoralen Mindestlöhnen unterschiedlicher Höhe vorzuziehen. Wenn das Hauptargument darin besteht, dass eine Vollzeitbeschäftigung ein Einkommen sichern muss, das den Lebensunterhalt deckt, lässt sich nicht nachvollziehen, warum dieses Einkommen von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Branche abhängen soll. …
## Bei der Aktivierung von Transferbeziehern steht im Grunde eine weitere Fortführung der jüngsten Bemühungen an. Auch in den Zeiten der Krise bleibt es wichtig, Langzeitarbeitslosigkeit und dauerhafte Abhängigkeit von öffentlichen Sozialleistungen zu minimieren. Es wäre falsch, angesichts einer rückläufigen Beschäftigung Aktivierungsbemühungen zu reduzieren und auf die Sozialsysteme zu verweisen. Dies ist gerade auch in einer Situation des beschleunigten Strukturwandels wichtig, um von Arbeitslosigkeit bedrohte oder betroffene Erwerbspersonen möglichst rasch wieder in tragfähige Beschäftigungsverhältnisse vermitteln zu können. Aus den Erfahrungen im Ausland und in Deutschland ist mittlerweile bekannt, dass einseitig fordernde Interventionen nicht ausreichen, wenn es einerseits an Beschäftigungsfähigkeit mangelt oder andererseits adäquate Beschäftigungsmöglichkeiten fehlen. Hier müssen individuelle Förderinstrumente, insbesondere die Vermittlung notwendiger Qualifikationen, stärker zum Einsatz kommen. … „
Die Studie in vollem Umfang entnehmen Sie bitte aufgeführtem Link oder dem Anhang.
http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-FEE1573B-FF311DB6/bst/hs.xsl/nachrichten_100801.htm
Quelle: Bertelsmann-Stiftung
Dokumente: Atypische_Beschaeftigung_und_Niedriglohnarbeit.pdf