Die Vorbereitung auf den Einstieg ins Berufsleben hat in den letzten Jahren deutlich an Aufmerksamkeit gewonnen. In der öffentlichen Diskussion, ebenso wie in Programmen und Fördermaßnahmen. Aktuell will Bildungsministerin Schavan in der Initiative „Bildungsketten“ über weiteren 30.000 Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit auf eine Berufsorientierung ermöglichen. Für dieses Programm „Berufsorientierung in überbetrieblichen und vergleichbaren Bildungsstätten“ laut das Bildungsministerium bis 2013 rund 95,6 Mio Euro zu investieren. Bei der Bundesagentur für Arbeit zählt die Förderung von Berufsorientierung zu den Pflichtaufgaben. Nach § 33 SGB III kaum eine vertiefte Berufsorientierung und Berufswahlvorbereitung über einen Zeitraum bis zu vier Wochen gefördert werden.
Daneben gibt es noch weitere Angebote oder Fördermaßnahmen. Nur ist unter ein und demselben Begriff nicht immer das gleiche gemeint. Es liegt kein gemeinsames Verständnis von Berufsorientierung vor. Die Schwerpunkte und Ziele der jeweiligen Förderung differenzieren – zum Teil erheblich.
Das Good Practice Center im Bundesinstitut für Berufsbildung setzt mit seiner aktuellen Expertise genau an dem Punkt an. Die Ausarbeitungen von Sven Deeken und Bert Butz schlagen ein einheitliches sowie erweitertes Verständnis von Berufsorientierung vor. Berufsorientierung nicht ausschließlich ausgerichtet auf den Übergang in den Arbeitsmarkt, sondern als ein Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung. Demnach setzt Berufsorientierung an den individuellen Voraussetzungen der Jugendlichen an und unterstützt sie neben der Entwicklung einer Ausbildungs- und Arbeitsperspektive auch in der Entwicklung einer Lebensperspektive.
Wie können erweiterte Konzepte der Berufsorientierung in bereits bestehende Strukturen eingearbeitet werden? Wie lässt sich ein erweitertes Verständnis von Berufsorientierung im Sinne eines Beitrags zur Persönlichkeitsentwicklung implementieren? Welche Veränderungen sind für Strukturen und Systeme notwendig? Und wie sind diese Möglich?
Diese und weitere Fragestellungen beantworten die Autoren Deeken und Butz in der Expertise „Berufsorientierung“.
Auszüge aus den Schlussfolgerungen der Expertise:
„Zur Berufsorientierung, verstanden als Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung, liegen sowohl fundierte Erkenntnisse als auch eine Vielzahl erprobter Instrumente und Verfahren vor. Sie können – auf den jeweiligen Einzelfall angepasst und bezogen – junge Menschen auf die Bewältigung der Anforderungen vorbereiten, die Arbeitswelt und Gesellschaft in der heutigen Zeit an sie stellen. Durch ihren Subjektbezug ist eine Berufsorientierung, wie sie in diesem Beitrag vorgestellt und verstanden wird, in der Lage, auch benachteiligte Jugendliche angemessen und vor allem integrativ zu fördern, ihnen Angebote innerhalb eines Gesamtkonzepts auf der Grundlage ihrer persönlichen Voraussetzungen zu unterbreiten und dabei Stigmatisierung zu vermeiden.
Eine so verstandene subjektbezogene Berufsorientierung ist gekennzeichnet durch einen frühen und damit präventiven Beginn der berufsorientierenden Maßnahmen und durch den individuellen Ansatz einer langjährigen, intensiven Prozessbegleitung der Jugendlichen,
die Erfolgserlebnisse und Fortschritte erkennbar macht und mit dem Abschluss eines Ausbildungsvertrags nicht unbedingt beendet ist. Benachteiligten Jugendlichen werden berufsorientierende Bausteine angeboten, die als Bestandteile kohärenter Förderketten miteinander verwoben und aufeinander bezogen sind. Dazu bedarf es der Netzwerkbildung und der vertikalen sowie der horizontalen Kooperation aller Akteure, damit sich in der Umsetzung der Berufsorientierungskonzepte durch praktisches Handeln, eingebunden in Formen regionalen Übergangsmanagements, ein gemeinsames Verständnis entwickeln kann. …
Verknüpfungen von Praxiserfahrungen und schulischen Lernangeboten
Nach wie vor ist die Praxiserfahrung eins der Kernelemente jeglicher Berufsorientierung. Die positiven Effekte sind hinlänglich bekannt. Auch wird von jeher der große Stellenwert der Rückkoppelung von betrieblichen Erfahrungen im Unterricht, der Reflexionsverfahren und der Ableitung von persönlichen Entwicklungsperspektiven betont.
Relativ neu, und bisher in den berufsorientierenden Regelangeboten nur als Ausnahme vorzufinden, sind die Möglichkeiten des intensiven Wechselspiels von theoretischem Wissen und betrieblicher Praxis über einen längeren Zeitraum, hinsichtlich unterschiedlicher fachlicher Perspektiven und unter ausdrücklicher Berücksichtigung der individuellen Bildungsbedürfnisse und Lernvoraussetzungen der Jugendlichen. Unter zugegebenermaßen besonderen Rahmenbedingungen findet im „Produktiven Lernen“ eine wiederholte Koppelung zwischen den schulischen Lern- und Förderangeboten und den betrieblichen Erfahrungen statt, so dass das Lernen sich um den Mittelpunkt der praktischen, produktiven Tätigkeiten herum vollzieht.
… Über die Beschäftigung mit praxisrelevanten Fragen, etwa im Rahmen von Lernaufträgen oder betrieblichen Aufgaben, sind die Jugendlichen
nicht nur deutlich motiviert, ihre schulischen Leistungen zu verbessern. Offensichtlich stellen sie sich auch den Anforderungen der betrieblichen Praxis und der Arbeitswelt mit deutlich mehr Interesse, Engagement sowie Ausdauer und entwickeln aus der Aufgabenbewältigung erhöhtes Selbstvertrauen. Durch diese intensive Form der Auseinandersetzung mit der Praxis wirken die Jugendlichen sowohl in ihrer Persönlichkeit als auch hinsichtlich der Entwicklung eigener Perspektiven und Vorstellungen deutlich gefestigter.
Individueller Ansatz
Der besondere Stellenwert der subjektbezogenen Berufsorientierung für Benachteiligte liegt generell – … – in der besonderen und intensiven
Hinwendung zu allen Jugendlichen. Sie sollen befähigt werden, entsprechend ihrer spezifischen Voraussetzungen und Bedürfnisse einen eigenen Weg zu planen und zu gehen. Dazu brauchen sie umfassende Betreuung und Beratung und auf sie zugeschnittene individuelle Angebote.
Dabei spielt das Prinzip der Partizipation eine große Rolle. Über die Möglichkeit der Mitbestimmung bei der Ausgestaltung der Angebote werden die Jugendlichen zur eigenständigen Auseinandersetzung mit der eigenen Person und zur Gestaltung ihrer Bildungs-, Berufs-, Lebensplanung motiviert. …
Zielgruppenspezifische, unter Umständen stigmatisierend erscheinende „Maßnahmen für Benachteiligte“ werden vermieden. Beabsichtigt ist vielmehr die möglichst weitgehende Überwindung der Folgen von Benachteiligung, indem man die Lebenswelten der Jugendlichen berücksichtigt und allen Jugendlichen individuelle Angebote auf der Grundlage ihrer Bedürfnisse und Lebenslagen machen kann. Prinzipien wie Selbstständigkeit, Autonomie und freier Zugang zu allen Angeboten gelten für alle Jugendlichen.
Prävention
Berufsorientierung kann verstanden werden als Prävention, mit der ungünstige Entwicklungswege und unnötige Warteschleifen vermieden werden. Durch großen Einsatz und Aufwand, sowohl an Sachmitteln als auch an Personal, und unter umfassender Beteiligung von unterschiedlichen Partnern wird bereits in einem frühen Stadium spätestens ab Klassenstufe 8 versucht, die Probleme beim Übergang von der Schule in die Arbeitswelt bzw. in eine Ausbildung zu vermeiden. Dieser Einsatz erspart zum einem wesentlich aufwändigere und kostenintensivere „Reparaturmaßnahmen“. Bezogen auf die Jugendlichen trägt er dazu bei, frühzeitig auf die Entwicklung einer realistischen Perspektive hinzuarbeiten und vermeidet so spätere Frustrationen, unnötige Maßnahmenkarrieren und hohe Quoten von Jugendlichen ohne Schulabschluss oder mit abgebrochener Ausbildung.
Ein solcher präventiver Ansatz muss von entsprechenden Rahmenbedingungen unterstützt werden. Innerhalb subjektbezogener Ansätze von Berufsorientierung sind die Reflexion des Rollenverständnisses der Beteiligten, insbesondere der Lehrerinnen und Lehrer, und ihre Vorbereitung auf eher moderierende, motivierende und begleitende Aufgaben unabdinglich. Subjektbezogene Berufsorientierung erfordert die Qualifikation aller Beteiligten für neue und andere Aufgaben: Kompetenzfeststellung, individuelle Förderung, Lernberatung,
Begleitung/Coaching und andere. Gleichzeitig erfordern neue Instrumente die langfristige Sicherstellung der zu ihrer Durchführung notwendigen Finanzmittel. …
Systematischer Ansatz
Angesichts einer sehr zersplitterten Landschaft von Angeboten und Maßnahmen hat in den letzten Jahren der systemische Aspekt zunehmend an Bedeutung gewonnen. Es entstehen Netzwerke wie z.B. in Schleswig Holstein, die berufsorientierende Aktivitäten in allen Handlungsfeldern auf der Grundlage eines integrativen Konzepts koordinieren. Die einzelnen berufsorientierenden Aktivitäten sind den Akteuren zugewiesen und damit „verortet“. Die allgemeinbildenden Schulen stehen zwar vielfach im Zentrum der Kooperationen und organisieren entweder die gesamten berufsorientierenden Aktivitäten oder moderieren einen großen Teil davon, aber sie sind dennoch nur ein Knoten in einem Netzwerk und müssen dort ihre Rolle finden.
Wenn eine subjektbezogene Berufsorientierung erfolgreich sein soll, müssen alle Akteure mit ihren Ressourcen und Stärken an der gemeinsamen Umsetzung mitwirken und ihre unterschiedlichen Angebote innerhalb der Netzwerke abstimmen. Koordinierte und moderierte
Austauschbeziehungen helfen dabei, Doppelförderungen und parallele Strukturen zu vermeiden. Auf der regionalen operativen Ebene arbeiten z.B. allgemeinbildende und berufsbildende Schulen, Betriebe und Kammern, Jugendsozialarbeit, Beteiligte aus dem Alltag der Jugendlichen, örtliche Vereine und Ehrenamtliche sowie weitere regionale Akteure an dieser gemeinsamen Aufgabe.
Darüber hinaus sind auf übergeordneter Ebene die Ministerialverwaltung (Kultus, Arbeit, Wirtschaft und Jugend) und die ihr zugeordneten Ämter, wie beispielsweise die Schulaufsicht, beteiligt. Diese Ebenen sind aufgrund ihrer Verfügungsgewalt über die Ressourcen sowie der Rechtsaufsicht für die Umsetzung von komplexen Berufsorientierungskonzepten von großer Bedeutung und beeinflussen maßgeblich die Motivation der handelnden Akteure und damit die gesamte normative Ausrichtung der berufsorientierenden Unterstützungsangebote.
Die Akteure der Berufsorientierung sind in unterschiedliche Zusammenhänge von Politik und Verwaltung eingebunden und erhalten entsprechende Zielvorgaben, Bewertungsmaßstäbe und Aufgabenbeschreibungen. In diesen Vorgaben sind die Qualitätsziele einer guten Berufsorientierung widerspruchsfrei zu berücksichtigen und einzuarbeiten, um die notwendige Motivation für ein zielgerichtetes kooperatives Arbeiten bei den Berufsorientierungsakteuren
zu gewährleisten. Die Beispiele zeigen, dass dieser systemische Aspekt zunehmend umgesetzt wird.
Ausblick
…
Subjektbezogene Berufsorientierung erfolgt auf der Grundlage eines gemeinsamen Verständnisses. Dieses gemeinsame Grundverständnis sowohl zwischen allen Akteuren in der Region als auch zwischen den verschiedenen politischen Ebenen gilt es in Zukunft herzustellen sowie die Diskussion über eine zeitgemäße Berufsorientierung offensiver und vor allem öffentlicher zu führen. Was derzeit noch fehlt, ist eine gemeinsame Bühne, auf der die Ansätze subjektbezogener Berufsorientierung ausgetauscht, die fachliche Diskussion geführt, eine effektive Öffentlichkeitsarbeit betrieben und wissenschaftlich abgesicherte Expertisen bereitstellt werden. …
Zur Einrichtung notwendiger Strukturen, dem Aufbau und der Abstimmung eines kohärenten Förderangebots. Dazu ist die Verabschiedung von der heute oft gängigen Praxis notwendig, Berufsorientierung über Fördergelder bzw. als Projekt zu finanzieren. Berufsorientierung ist kein Projekt, dessen Relevanz nur vorübergehend gegeben ist. Insbesondere die häufig prekären Arbeitsbedingungen z. B. der sozialpädagogischen Fachkräfte in solchen Projekten erschweren den Aufbau von Beziehungen zu den Jugendlichen wie auch die kontinuierliche Kooperation, da es durch die Projektorientierung an Stetigkeit und Vertrauen fehlt. Vielfach bleiben auch der Transfer von Konzepten und die Verstetigung der zahlreich vorliegenden Erkenntnisse und Erfahrungen zur Berufsorientierung hinter den Erwartungen und Absichtserklärungen zurück.
Statt weiterer Modellprojekte und Neuentwicklungen liegen die großen Herausforderungen derzeit im Aufbau von regel- und dauerhaften Strukturen und der Verankerung der Berufsorientierung im pädagogischen Alltag. …
Berufsorientierung schafft weder Ausbildungsplätze noch andere sinnstiftende Anschlussmöglichkeiten an die Schulzeit. Eine Berufsorientierung, die sich an der Persönlichkeit ausrichtet, muss daher eingebettet sein in dringend notwendige strukturelle Veränderungen im Übergang Schule-Beruf. Dazu gehört vor allem ein ausreichendes Angebot an Ausbildungsstellen oder anderen qualifizierenden Bildungs- und Ausbildungsgängen. Dazu gehört auch eine Verbesserung der Entwicklungsbedingungen innerhalb der Lebenswelten der Jugendlichen. Beides sind politische Aufgaben, die nicht allein pädagogisch gelöst werden können. … „
Die Expertise in vollem Umfang entnehmen Sie aufgeführtem Link oder dem Anhang.
http://www.good-practice.de/infoangebote_beitrag4049.php
Quelle: Good Practice Center im BiBB
Dokumente: expertise_berufsorientierung_web.pdf