Auszüge aus dem Gutachten zum Reformbedarf der Grundsicherung:
“ Der deutsche Arbeitsmarkt hat sich seit den Reformen der Agenda 2010 insgesamt sehr positiv entwickelt. Die Zahl der Beschäftigten ist auf einem Rekordhoch, die der Arbeitslosen hat sich fast halbiert, die Langzeitarbeitslosigkeit geht zurück. Trotz dieser ansehnlichen Bilanz besteht erheblicher Nachbesserungsbedarf im System der sogenannten Grundsicherung. Zu viel Bürokratie, zu viel passive Leistungen, zu wenig dauerhafte Integrationen – so lassen sich die Erfahrungen der vergangenen zehn Jahre zusammenfassen. Zusätzlich stellen Digitalisierung, demografische Entwicklung, Fachkräftemangel und Integration von Flüchtlingen den Arbeitsmarkt vor neue Herausforderungen, die eine zeitgemäße Antwort erfordern.
Der deutsche Sozialstaat bleibt immer noch unter seinen Möglichkeiten. Sozialpolitik, die ihren Namen verdient, darf sich nicht mit dem Status quo zufriedengeben. Armutsbekämpfung und soziale Absicherung funktionieren im geltenden System, wirken aber viel zu oft statuskonservierend als in der Eröffnung neuer Erwerbsperspektiven. Gefordert ist ein sozialinvestiver Wohlfahrtsstaat, der Mittel, Ressourcen und Potenziale für strukturelle Veränderungen nutzt – nicht vorrangig für Transferleistungen. Ziel einer Reform sollte sein, im jetzigen organisatorischen Rahmen mehr Menschen zu einem selbstbestimmten Leben zu verhelfen, sprich, das Leistungsvermögen der Jobcenter wesentlich zu erhöhen. Denn keine Verbesserung oder Veränderung im Leistungsrecht löst dauerhaft ein Problem. Der einzige Lösungsweg, auf den sich alle Energie von Mensch und Behörde konzentrieren sollten, kann nur die Integration in Ausbildung und Beschäftigung sein.
Reformbedarf besteht insbesondere in folgenden Feldern:
## Vorzugsweise Langzeitarbeitslosen, Alleinerziehenden und Ungelernten attraktive und zielgenaue Maßnahmen anbieten
## Das System der Arbeitslosenversicherung reorganisieren und die vorhandenen Ressourcen effizienter nutzen, damit die Grundsicherung zur Ausnahme wird
## Jobcenter organisatorisch und infrastrukturell stärken
## Bildung und Teilhabe zukünftig in Verantwortung der Jugendämter geben
Der Zusammenhang zwischen Bildungsarmut und Armut ist hinreichend belegt. Es hängt wesentlich vom Geldbeutel der Eltern ab, wie gesund Kinder in Deutschland sind. (….) Gut fünf Jahre Erfahrung mit Bildung und Teilhabe (BuT) zeigen, dass dieses gutgemeinte Angebot keines der Probleme löst. Beispiel: Nur 4 % der sozial benachteiligten Kinder nehmen Zuschüsse für Nachhilfe in Anspruch. Insgesamt nur 45 % der Berechtigten nutzen die Leistungen; die geringste Nutzung findet sich bei Familien mit Migrationshintergrund. 20 % der Nichtnutzer geben an, dass das Antragsverfahren zu umständlich sei. Verwaltungsaufwand, gezahlte Leistungen und Erfolge der Jobcenter stehen in keinem wirtschaftlich vertretbaren Verhältnis. Jobcenter haben keine Expertise in der Kinder- und Jugendhilfe. Den im Jahr 2015 abgerufenen Mitteln von 570 Millionen Euro sollen Bürokratiekosten von 170 Millionen Euro gegenüberstehen.
Deshalb: Leistungen für Bildung und Teilhabe werden an die Jugendämter übertragen.
Die Teilhabeleistungen sind im Kinder- und Jugendhilfegesetz zu verankern; sie stehen nicht nur Kindern im Grundsicherungsbezug, sondern auch Kindern aus Hauhalten mit niedrigem Einkommen zu. Alternativ könnten die Mittel auch für die direkte Förderung der Einrichtungen für Kinder und Jugendliche eingesetzt werden, z.B. in der Schulsozialarbeit, bei Jugendtreffs etc. Begleitende Unterstützungsleistungen der Jugendhilfe parallel zu Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik sollten nicht automatisch mit Vollendung des 18. Lebensjahres enden, sondern fortgeführt werden, wenn sie für den Erfolg notwendig sind. Hilfreich wäre das Angebot für Kinder und Jugendliche, einen Kompetenzpass zu führen. Vom Freischwimmer bis zu allen Formen des sportlichen, kulturellen und sozialen Engagements könnte dort jede Aktivität und jeder Erfolg dokumentiert werden. Der Nachweis wäre eine sinnvolle Ergänzung zu Schulzeugnissen, bspw. auch bei Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz. (…)
Konkret zu: Langzeitarbeitslosen
Wir sollten Langzeitarbeitslose als echte Talentreserve für den Arbeitsmarkt betrachten. Allerdings: Die hergebrachte Vermittlungsstrategie führt bei diesem Personenkreis nur in geringem Maße zur Integration in Ausbildung und Beschäftigung. Weder die intensive Beratung, noch die Förderung im Rahmen arbeitsmarktpolitischer Instrumente, noch das Matching berufsfachlicher Profile und daraus folgender Vermittlungsvorschläge zeigen die gewünschten Ergebnisse. Die hergebrachte Prozessorientierung ist ressourcenverschwendend und muss durch eine Ergebnisorientierung abgelöst werden. Wenn man Langzeitarbeitslose ernsthaft und in einem signifikant höheren Maße in Ausbildung und Arbeit integrieren will, bedarf es einer neuen Vermittlungsphilosophie, die sich an der zentralen Herausforderung orientiert: Wir müssen uns fragen: Wie gewinnt man Arbeitgeber dafür, Menschen mit vielen Defiziten, eingeschränkten Fähigkeiten und nichterkannten Talenten dennoch einzustellen, weil sie an bestimmten vorhandenen oder zu schaffenden Arbeitsplätzen eine wirtschaftlich verwertbare Leistung erbringen?
Wenn weder die Erwerbsbiographie, noch die Qualifikation das gute Argument sind, was zählt dann? Zum Humanvermögen gehören auch Leistungsbereitschaft, Arbeitsmotivation, Solidarität, Vertrauen, Lernfähigkeit und Gesundheit. (…)“
Das Gutachten in vollem Textumfang lesen Sie im Anhang.
Quelle: Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit
Dokumente: A4_GutachtenGrundsicherung.pdf