Strukturelle Reformen am gemeinsamen Europäischen Asylsystem

Die wichtigsten Erkenntnisse des SVR-Jahresgutachtens:
„(…) Das Lernen von Anderen steht im Mittelpunkt des SVR-Jahresgutachtens 2015. Das Thema wurde aufgegriffen, weil im politischen Diskurs häufig die Forderung auftaucht, es so zu machen wie Kanada oder Schweden oder die USA. Und gleichzeitig herrscht die Meinung vor, Deutschland sei ein migrationspolitischer Nachzügler. Diese Behauptungen zeugen allerdings von wenig Sachkenntnis. Das Jahresgutachten vergleicht daher sehr systematisch die Migrations- und Integrationspolitik Deutschlands vor allem mit Ländern, die in der öffentlichen Wahrnehmung als besonders erfolgreich und somit als mögliche migrations- und integrationspolitische Vorbilder gelten. Der Ländervergleich zeigt in drei zentralen Bereichen der deutschen Migrations- und Integrationspolitik, bei der Arbeitsmigration, dem Staatsbürgerschaftsrecht und der Asylpolitik, dass Deutschland von erfolgreichen Einwanderungsländern nur bedingt lernen kann: (…) Zum einen stellen länderspezifisch unterschiedliche politische, ökonomische, soziale oder geografische Rahmenbedingungen die im politischen und medialen Diskurs beliebte Empfehlung eines einfachen Imports einer – in einem anderen Land (anscheinend) bewährten – politischen Maßnahme in Frage. Zum anderen ist Deutschland mittlerweile in Bereichen wie der Arbeitsmigrationspolitik selbst zu einem Vorreiter einer modernen Migrationspolitik geworden. (…)

Allerdings muss Deutschland sich international, aber auch nach innen noch sehr viel stärker und glaubwürdig als Einwanderungsland definieren und positionieren. (…) Politik müsse daher in diesem stark von Emotionen geprägten Politikfeld Entscheidungen und Hintergründe besser erklären und deutlich machen, dass Zuwanderung nicht zuletzt aufgrund des demografisch bedingten Fachkräftemangels Chance und Notwendigkeit für Deutschland sei. (…) Ein modernes Einwanderungsland braucht ein klares Selbstverständnis und eindeutige Regeln für das Kommen und das Zusammenleben. In Deutschland sind das die Werte des Grundgesetzes, deren Einhaltung von allen einzufordern ist. (…)

Asylverfahren und strukturelle Reformen am Gemeinsamen Europäischen Asylsystem:
Die strukturellen Probleme des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) waren bereits lange offensichtlich, noch bevor die europäische Flüchtlings- und Asylpolitik durch die Massenflucht aus Syrien wieder verstärkt in das Licht der Öffentlichkeit gerückt ist. Um die europäische Asylpolitik langfristig zukunftsfest zu machen, schlägt der SVR eine strukturelle Neuaufstellung des GEAS vor, in der zum einen an der Idee der Zuständigkeit des Ersteinreisestaates (Dublin-Prinzip) festgehalten, darüber hinaus aber �Dublin‘ mit dem Prinzip der freien Wahl des EU-Zielstaates nach erfolgreichem Abschluss des Asylverfahrens verbunden wird: Danach ist der Staat der Ersteinreise weiterhin für die Aufnahme, das Asylverfahren und die Rückführung von nicht anerkannten Flüchtlingen zuständig. Länder, die aufgrund hoher Zuzugszahlen von Asylbewerbern objektiv an Kapazitätsgrenzen stoßen, erhalten finanzielle und logistische Hilfen.

Die Ersteinreisestaaten ihrerseits sind verpflichtet, die im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) festgelegten Standards bei der Unterbringung und der Durchführung der Asylverfahren strikt einzuhalten. Wenn das gelingt und die Erstaufnahmestaaten im Süden Europas eine ähnliche Anerkennungspraxis zeigen wie die anderen EU-Staaten, können in einem weiteren Schritt Freizügigkeitsrechte für anerkannte Flüchtlinge innerhalb der EU eingeführt werden. (…)

Das vorgeschlagene Verfahren sei eine stringente Weiterentwicklung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das über die einheitlichen Verfahrens- und Schutzstandards hinaus auch Freizügigkeitsrechte umfassen würde. Der Vorteil einer solchen Reform für die Mitgliedsländer: Die Ersteinreisestaaten erhalten finanzielle und logistische Unterstützung für die Aufnahme der Flüchtlinge sowie die Perspektive, dass sie nicht mehr allein für alle anerkannten Flüchtlinge zuständig bleiben. Im Gegenzug müssen die nordeuropäischen Staaten nicht länger eine große Zahl von Asylverfahren von Flüchtlingen bearbeiten, die entgegen der Regeln im Erstaufnahmeland nicht registriert wurden. (…) Da das Asylverfahren bereits positiv abgeschlossen sei, hätten anerkannte Flüchtlinge die Möglichkeit, sich eine Arbeit zu suchen und selbst für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Das würde die Akzeptanz für die Aufnahme von Flüchtlingen in der Bevölkerung stärken. (…)

Asyl- und flüchtlingspolitische Strukturreformen (…) müssen die europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik langfristig auf ein sichereres Fundament stellen. Angesichts der dramatischen Ereignisse in Syrien und anderen vor (…) Krisenherde stehen Europa und vor allem die EU als Wertegemeinschaft derzeit allerdings vor akuten und bis vor kurzem hinsichtlich ihrer Intensität und Dramatik noch kaum vorstellbaren flüchtlings- und asylpolitischen Herausforderungen. Erforderlich ist daher ein asyl- und flüchtlingspolitisches „Soforthilfe-Programm“, in dessen Rahmen vor allem kollektive Aufnahmeverfahren zum Einsatz kommen müssen, die das individuelle Asyl ergänzen und an dem alle EU-Staaten nach dem Grundsatz der Lastenteilung teilnehmen. Auf europäischer Ebene ist mit der Richtlinie zum vorübergehenden Schutz von Flüchtlingen bereits seit vielen Jahren ein geeignetes Instrument etabliert, das aktuell vor allem syrischen Flüchtlingen eine schnelle und unbürokratische Alternative zum individuellen Asylverfahren bieten könnte. Die Aktivierung der Richtlinie ist allerdings bislang an mangelnder Einigkeit im EU-Ministerrat gescheitert. (…)“

Link: www.svr-migration.de

Link: www.svr-migration.de/jahresgutachten/

Quelle: Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration

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